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Untitled - European Borderlands

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vom Unglücksort entfernt und brachte ihn mit dem Krankenwagen ins Peraster Krankenhaus.<br />

Die Chancen, dass er ein Bein verlieren würde, waren groß, du weißt, wie es gewöhnlich endet,<br />

wenn der Oberschenkelknochen durch ein sehr schnell fahrendes Auto zertrümmert wird“, hätte<br />

Giljen zu Janjes gesagt. „Es zeigte sich, dass der Portier weder Ärzte noch Schwestern erreicht<br />

hatte“, referierte Janjes Giljens Bericht weiter, „und so blieb mir nichts anderes übrig, als mit<br />

seiner Hilfe den zweiten Patienten wieder in den Krankenwagen zu schieben und schnellstens<br />

nach Perast zurückzufahren. Ich weiß nicht, wie ich den ganzen Salven und Kugeln unterwegs<br />

ausgewichen bin, aber ich weiß, dass ich dem Einsamen durch die schnelle Fahrweise den Rest<br />

gegeben habe, auch wenn er vorher schon ziemlich am Ende war. Die im Peraster Krankenhaus<br />

vorrätigen Blutbeutel reichten wenigstens für den jungen Mann, von seiner Blutgruppe gab<br />

es genug. Anschließend habe ich seinen Oberschenkelknochen gerichtet, ich hatte auch eine<br />

passende Metallschiene“, hätte Giljen gesagt. „Einen zerschmetterten Oberschenkelknochen im<br />

richtigen Moment zusammenflicken ist wie ein Sechser im Lotto“, sagte Janjes. „Aber“, hätte<br />

Giljen gesagt, „ich habe ihn nur gerettet, weil ich während der Operation keinen Augenblick an<br />

den Einsamen gedacht habe.“ „Hätte er es getan“, sagte Janjes, „wäre die Operation des jungen<br />

Mannes nicht gelungen.“ „Ich hätte zumindest eine Krankenschwester wecken und auf die Suche<br />

nach der fehlenden Blutgruppe schicken sollen“, hätte Giljen gesagt, „vielleicht hätte sie Erfolg<br />

gehabt, aber ich hatte Angst, sie könnte von den Kugeln getroffen werden, mit denen wegen dem<br />

Fest geschossen wurde. Und so dachte ich am Ende“, hätte Giljen gesagt, „besser nicht noch einen<br />

Fünfundzwanzigjährigen mit nur einem Bein, kein Scherbengericht! In der Erwartung, wegen<br />

unterlassener Hilfeleistung eingesperrt zu werden, erzählte ich der Polizei am nächsten Morgen<br />

dieselbe Geschichte wie dir“, sagte Janjes, hätte Giljen gesagt. „Vor Ihnen steht ein Mörder“, hätte<br />

Giljen der Polizei gesagt. Dem Polizisten sei aber viel wichtiger gewesen, wie er die Familie des<br />

Einsamen benachrichtigen sollte - die Menschen sind geschäftig und grenzen sich gern vom Unglück ab,<br />

solange es möglich ist, diese Worte nutzte Janjes als Worte des Polizisten - und dass es im Peraster<br />

Gefängnis eng würde mit all denen, die wegen diesem Mord in Untersuchungshaft kamen. „Manche<br />

sagen, zwei junge Männer hätten den Einsamen umgebracht“, so hätte Giljen Janjes diesen Teil<br />

des mündlichen Polizeiberichts übermittelt, „andere, es seien drei gewesen, wieder andere reden<br />

von mehreren jungen Männern. Wir müssen die Verdächtigen schnell nach Kotor bringen, uns<br />

fehlen Fahrzeuge und Zellen, und kommen Sie jetzt nicht bitte auch noch mit einer erfundenen<br />

Mitschuld ...“, hätte der Polizist gesagt, Giljen gebeten, sich zu beruhigen, und gefragt, ob er von<br />

näheren Angehörigen des Einsamen wisse, und die Antwort des Arztes war: „Nein.“<br />

„Als der Polizist gegangen war, wachte der junge Mann auf, es ging ihm gut, außer dass er sich<br />

an den Vorfall nicht gut erinnern konnte. Giljen berichtete ihm von den Ereignissen der Nacht, und<br />

vor der Tür des Krankenzimmers berichtete die übernächtigte, angespannte Gattin des Patienten<br />

ihre Version der Geschichte. Das Grüppchen mit Verwandten und aufgeputschten Neugierigen im<br />

Gang wurde immer größer. Im Krankenzimmer hörte man deutlich, dass einige Besucher sofort<br />

eintreten wollten. Und da hat Giljen meiner Meinung nach einen Fehler gemacht“, sagte Janjes.<br />

„Er fragte den jungen Herrn, noch dazu viel zu laut, ob er die Ehefrau oder die Eltern oder andere<br />

Personen am Bett empfangen wolle und nach welchem Prinzip man in dem Fall entscheiden solle.<br />

Giljen wollte nur herausfinden, wie viele Umarmungen und Küsse der geschwächte Patient ertragen<br />

würde. Auch ihm, eingelullt von Müdigkeit, Unmengen Kaffee und ‚Prozac‘, war nicht klar, wie die<br />

Auseinandersetzung im Gang über den Vorrang beim Besuchen geendet hätte, und ich weiß es<br />

noch weniger“, sagte Janjes. „Trotzdem wäre es ruhiger ausgegangen, hätte Giljen ohne Rückfrage<br />

erlaubt, dass der ganze Flur ins Zimmer kam. So hätte ich es wenigstens gemacht“, sagte Janjes.<br />

„Aber die ersten Worte des beleidigten jungen Mannes, als er erwachte und zu sich kam, waren“,<br />

beschloss Janjes die Erzählung: „‘Wie konntest du gestern Nacht allein im Hotel sitzen?’ “<br />

Übersetzt: Brigitte Döbert<br />

9<br />

I g o r M a r o j e v i ć - P r o z a c P l u s

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