Untitled - European Borderlands
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Heimliche Welten<br />
(…)<br />
Wenn ich zurückdenke, sehe ich mich auf dem Bett liegen, ich lese, versinke völlig in ein Buch,<br />
als sei ich in eine fremde Stadt gezogen, dabei ist es draußen dunkel, es regnet auf eine Art, die<br />
die Tage unendlich und eintönig erscheinen lässt. Diese Unendlichkeit wurde in den Augenblicken<br />
vor dem Einschlafen, als ich das Buch weglegte, plötzlich eng und klein und erfüllte mich mit<br />
unsagbaren Glücksgefühlen. In der Höhe meines Winkels oben auf dem Etagenbett hing ein Bild<br />
an der Wand, das mich in solchen Momenten sofort einnahm und dazu aufrief, mich unter seine<br />
sonderbaren Figuren zu mischen. Das Bild war natürlich nur eine Reproduktion, ein einfacher<br />
Nachdruck. Mein Vater hatte es bei einem Trödler in Putnok gekauft, jedenfalls hat er das<br />
behauptet, als er mit dem Bild unter dem Arm nach Hause kam. Damals verschwand er von Zeit<br />
zu Zeit, als wir in Rudabánya ein kleineres Haus bezogen hatten, er hatte sich endgültig von den<br />
Männern in Uniform verabschiedet und seine Hausmeisterstelle bei dem Grubenwerk angetreten.<br />
(…) Von seinem immer wieder auftretenden Wegbleiben und Verschwinden kehrte er schmutzig<br />
und mit Schnapsgeruch nach Hause zurück, dann zauberte er immer aus seinem Mantel oder<br />
seiner Tasche irgendein Geschenk hervor, einen Schal, Handschuhe oder Strümpfe, auf diese<br />
Weise konnte er meine Mutter für eine Weile besänftigen. So bequem aber ließ sich verlässliche<br />
Gnade nicht erkaufen. Meine Großmutter hatte Recht, er war ein fauler Mensch. Doch wäre er<br />
nur faul gewesen! Dazu kam das Trinken. Er wagt es, nach zwei Tagen betrunken nach Hause<br />
zu kommen, der Teufel weiß, was er getrieben hat. „Warum gehst du nicht zu der zurück, von<br />
der du gekommen bist?“ Aus meiner Mutter sprudelten Flüche und Vorwürfe, unaufhaltbar. Sie<br />
verfluchte meinen Vater dafür, was aus ihm geworden ist. Ein Nichts. Ein großer Haufen Nichts.<br />
Sie verfluchte seine Saufkumpanen, seine älteren Brüder, dafür hätte er nun wirklich nicht aus<br />
Hamburg zurückkommen müssen. Sie fluchte, aber nicht laut, sondern wütend vor sich hin, bis<br />
mein Vater bitter und voller Schmerz zu brüllen begann, sie solle endlich aufhören damit, er wisse<br />
ganz genau, dass er ein Schurke sei, ein Niemand, aber sie solle Gott verdammt noch mal aufhören<br />
damit. Er brüllte und war völlig außer sich. Sie solle ihn endlich in Frieden lassen! Eines Tages<br />
würde er sich sowieso erschießen! (…)<br />
Als er sich dann beruhigt hatte, zog er das Geschenk hervor, das er mir mitgebracht hatte.<br />
Jetzt wagte er nur noch mir etwas mitzubringen, und die Geschenke wurden immer schöner<br />
und größer, je mehr Schuld auf ihm lag. So war das Bild meinem Bett gegenüber an die Wand<br />
gelangt, es zeigte einen kleinen Platz in einem alten Städtchen. Die bunte Vielfalt der Fenster<br />
und Balkone der zwei- oder dreistöckigen Bürgerhäuser sah auf diesen Platz, wie viele es genau<br />
waren, das zählte ich Abend für Abend immer wieder neu nach, die Summe änderte sich dauernd,<br />
je nachdem, wie viele Fenster und Balkone ich gerade übersehen oder entdeckt hatte. Ich war<br />
überzeugt davon, dass es diese Stadt wirklich gibt, und in meinen Vorstellungen war ich mir sicher,<br />
dass ich sie in Deutschland oder Holland zu suchen hätte. Der Platz war nicht vom Sonnenlicht<br />
verwöhnt, wie der Maler vielleicht einen ähnlichen Platz in einer südlichen Stadt gesehen hätte,<br />
die von starken Pastellfarben durchwaschene Helligkeit hatte keine bestimmte Quelle. Dies und<br />
die stille Melancholie im Stil des Bildes ließen den Eindruck entstehen, dass der Platz an eine<br />
Theaterkulisse erinnerte, die hinein gemalten Männer und Frauen aber, die sich in den Zimmern<br />
hinter den Kulissen ihren Rollen gemäß ankleideten und auszogen, wirkten dem gegenüber<br />
wirklichkeitsgetreuer, nur insofern, dass sie ihre Rollen nicht etwa wie Puppen spielten. Der<br />
Maler hatte sie dazu verurteilt, dass sie vor meinen Augen, bevor ich einschlief, Abend für Abend<br />
immer wieder ihre eingeübten Szenen wiederholen mussten, nicht einen einzigen Tag durften sie<br />
versäumen, sie hatten für immer und ewig in dieser Unveränderlichkeit auszuharren.<br />
Im dunkelsten Winkel des Bildes duckte sich ein ganz in schwarz gehüllter Mann auf dünnen,<br />
viel zu kurzen Beinen, diese erbärmliche Gestalt war auf der Flucht vor allen Blicken, doch zu<br />
seinem Verderben lief er gerade einem jungen Mann entgegen, der genau in diesem Moment aus<br />
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G á b o r S c h e i n - H e i m l i c h e W e l t e n