Untitled - European Borderlands
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Prozac Plus<br />
(Die Berge schneiden so tief ins Meer, dass sie es mitunter auf einen bloßen Salzwasser-<br />
Korridor reduzieren.)<br />
Mušika Giljen, der sich während meiner Kur in Perast gelegentlich um meine Lunge und meinen<br />
Kopf gekümmert hatte, hatte die folgende Geschichte Danilo Janjes erzählt, einem in Barcelona<br />
ansässigen Arzt. Janjes hat sie dann an mich weitergereicht, zusammen mit einer Schachtel<br />
„Prozac“, dem Grund, mich anzurufen. Auf meinen Vorschlag hin trafen wir uns im Gotischen<br />
Viertel, im Café „A medias“: Der Allgemeinmediziner aus Barcelona hatte eine Packung Tabletten<br />
als Erkennungszeichen auf den Tisch gelegt: eben die Prozac-Schachtel, die Anlass unseres Treffens<br />
war. Kaum hatte ich mich zu Janjes gesetzt und er mir das Antidepressivum ausgehändigt, sagte er,<br />
er sei soeben aus dem Urlaub heimgekehrt, den er in Belgrad verbracht habe, mit einem Abstecher<br />
nach Perast, genauer gesagt, zu den Immobilien seines verstorbenen Vaters. Ich fragte, was in<br />
Belgrad so los sei, und er sagte, Küchengeräte seien immer noch erschreckend billig und es sei<br />
schon einiges los, aber nur in Bereichen, die ihn überhaupt nicht interessierten. Auf meine Frage,<br />
ob es in Kotor etwas Neues gäbe, sagte Janjes, die Arzneimittel würden billiger, sonst sei alles beim<br />
Alten. Dass es an der Bucht nichts Neues gab, dass zumindest dort alles wie eh und je vonstatten<br />
geht, kann man aus der folgenden Geschichte schließen, wegen deren Elemente Giljen „selbst<br />
begonnen hat, Prozac zu verwenden. Er ist sehr zufrieden mit der Wirkung, er sagt, im Unterschied<br />
zu anderen Antidepressiva mache es weder abhängig noch beeinträchtige es einen, man könne es<br />
sogar mit Whisky hinunterspülen, obwohl er das nicht empfehle. Wegen dieser Eigenschaften des<br />
Medikaments hat er mich gebeten, Ihnen ein Röhrchen oder eine Tablettenpackung, das habe ich<br />
vergessen, als Zeichen der Erinnerung und kleine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen“, zitierte<br />
Janjes Giljen, der ihm in demselben Zusammenhang gesagt hätte:<br />
„Mein erster Patient in der Nacht vom Festtag des Heiligen Michael war ein einsamer Mann<br />
in mittleren Jahren, der in die Gruppe allgemeiner Blutspender gehörte, die als Blutempfänger<br />
sehr anspruchsvoll sind. Die Blutbank im Krankenhaus von Perast war für ihn nicht hilfreich.<br />
Als er eingeliefert wurde, hätte ich keinen Moment gedacht, dass er sterben könnte, jedenfalls<br />
nicht durch Verbluten. Wir sind rechtzeitig zum nächsten Krankenhaus losgefahren. Ich hatte nur<br />
Angst vor einem Stau wegen dem Finalspiel der Regionalliga, ‚Perast‘ maß in Kotor die Kräfte mit<br />
‚Arsenal‘ aus Tivat, aber wir erreichten die Stadt ohne nennenswerte Probleme. Obwohl durch die<br />
Fenster einiger Krankenzimmer Licht fiel, war das Gebäude verschlossen. Ich trat kräftig gegen<br />
die Eingangstür und erreichte, dass sich wenn schon nicht das Gebäude, so doch wenigstens die<br />
Jalousien öffneten. Der Portier, der sein Gesicht heraussteckte, empfahl mir, am nächsten Morgen<br />
wiederzukommen, dann wären Ärzte und Krankenschwester sicher da. Als er hörte, es sei praktisch<br />
gewiss, dass ein bewusstloser Patient bis dahin eine entscheidende Menge Blut verloren haben<br />
würde, interessierte sich der Portier für dessen Schicksal. Auf dem Fest in Perast hatten ihn die<br />
Jungs vom Ort bei einem Streit über den potentiellen Ausgang des Fußballmatchs verprügelt, und<br />
was meinen nächsten Patienten an jenem Abend betrifft - das sage ich ohne Umschweife -, da habe<br />
ich persönlich Anteil an dem Unglück gehabt. Tatsächlich habe ich auch zu dem Tod des Einsamen<br />
beigetragen - es erweist sich, dass ein Arzt einen Patienten eben durch den Wunsch zu retten am<br />
intensivsten tötet.“<br />
„Ich sehe das“, sagte Janjes, „ganz anders als Giljen, ich an seiner Stelle würde weder über<br />
eine vorzeitige Pensionierung noch über sonst etwas nachdenken. Ich wollte ihm Mut machen, ich<br />
kenne ihn seit dem Studium in Belgrad und weiß, dass ihm eine Stelle an der Fakultät angeboten<br />
wurde. Außerdem sehen wir uns immer noch von Zeit zu Zeit, soweit ich verstanden habe, kennen<br />
Sie Giljen ziemlich gut“, sagte Janjes, und ich nickte ohne überflüssige Zweifel. „Ich entgegnete,<br />
dass ich ihm keine hässlichen Handlungen zutraue“, ergänzte Janjes, „und dass ich überzeugt<br />
wäre, die Kranken würden ihr Schicksal gern in seine Hände legen.“ Giljen hätte gesagt, das sei<br />
nicht ausgeschlossen und er hätte gegenüber dem Portier entschiedener auftreten müssen:<br />
7<br />
I g o r M a r o j e v i ć - P r o z a c P l u s