Untitled - European Borderlands
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Ich lasse dich zu<br />
„In mir gibt es nichts, was der Vergangenheit angehört.“<br />
Lajos Kassák<br />
„Meine Gegenwart und meine Zukunft werden größtenteils von der Vergangenheit beeinflusst.“<br />
derselbe, 11 Jahre später<br />
Etelka, Oma Jusztis Mutter, war irgendwo zwischen Makó und Földdeák als Dienstmädchen<br />
angestellt, täglich zehn Stunden Arbeit, ein einziger freier Tag, am Sonntag durfte sie nach Makó<br />
fahren, wie ihre Tochter später auch, zum Tanzen oder ins Kino. Makó war in den zwanziger<br />
und dreißiger Jahren eine glänzende Stadt, ein wohlhabender, belebter Ort, eine Grenzfestung<br />
des an die Landesgrenze gerückten, verstümmelten Komitats Csanád. Man nannte es die Stadt<br />
der Juden, es verfügte über eine ausgeprägte und willensstarke Bürgerschicht, die ein Hotel,<br />
ein Casino und ein Gymnasium erbauen ließ. Mutter und später Tochter spazierten gerne die<br />
Flanierstraße entlang, an diesem einzigen, so schnell verfliegenden Tag, an dem vor allem Vertreter<br />
des Kunsthandwerks, Industrielle, Gehilfen der Kneipenbesitzer, Anwälte, Gymnasiallehrer und<br />
die Dienstmädchen der Großbauern umeinander herumschlichen, Umarmungen ersehnten und<br />
fürchteten, sich eine Familie, ein anderes Leben, ein Zuhause wünschten. Meine Mutter hat, als sie<br />
mit mir schwanger war, bis zum letzten Augenblick gearbeitet. Damals hat man noch mit getrockneten<br />
Maiskolben gefeuert. Meine Mutter lief an einem Sonntag, als mittag beim Kochen die Maiskolben<br />
ausgegangen waren, hinaus auf den Hof. Oma Juszti schrieb mit schrägen Buchstaben, sie folgten<br />
wie von einem endlosen Faden beisammen gehalten aufeinander, an dem man nur hätte ziehen<br />
müssen, damit sich alles in eine einzige gerade Linie verwandelte. Sie lief hinaus, aber die anderen<br />
fragten sich nach einer Weile ungeduldig, wo sie denn steckte und machten sich auf die Suche nach ihr. Ich<br />
empfing das Publikum des Feldes mit Musik. Neben einem Heuhaufen erblickte ich die Welt. Oma Juszti<br />
gab ihrem Text auch einen Titel, es ist dieser letzte Satz, Neben einem Heuhaufen erblickte ich die<br />
Welt. Der Text endet ungefähr mit der Geburt meines Onkels Márton, da siegt die Parkinsonsche<br />
Krankheit schließlich über ihre zitternde Hand, es folgen noch einige Seiten, auch mein Vater wird<br />
geboren, aber die drei Kinder nach ihm existieren nur in der Wirklichkeit. Es war damals üblich, zum<br />
Maisschälen zusammenzukommen. Meine Mutter ging mit in die Stadt, zur Schwester ihrer Hausherrin.<br />
Dort traf sie einen jungen Mann, dem sie gefiel und der sie auch bald heiratete. Über den jungen Mann<br />
berichtet sie nur so wortkarg und ehrlich gesagt, vertuscht sie hier auch etwas, denn dieser kaum<br />
erwähnte junge Mann heiratet das bereits in andere Umstände gekommene Mädchen, was aus der<br />
autobiographischen Beschreibung jedoch nicht ersichtlich wird. Mehr schreibt Oma Juszti über<br />
die Ahnen nicht, über den Stiefgroßvater meines Vaters ist das auch alles. Der leibliche Vater:<br />
unbekannt.<br />
Wahrscheinlich habe ich meinen Hang zum Suchen, Formen, Spielen von Oma Juszti geerbt. Von<br />
der Gegenwart interessiert mich lediglich das, was mit der Vergangenheit in Verbindung steht, auch<br />
damit erging es ihr wohl ähnlich. Das nehme ich an, weil sie beim Schreiben einige Veränderungen<br />
vornahm, sie schnitzte die Vergangenheit zurecht: mündlich erzählte sie zum Beispiel etwas ganz<br />
anderes, wenn es um ihren geheimnisvollen, leiblichen Vater ging. Manchmal sprach sie von<br />
einem Abkömmling eines russischen Muschik, dann wieder von einem aufdringlichen litauischen<br />
Soldaten oder einem georgischen Juden. Ihr Geburtsjahr, 1919, liefert keinen Aufschluss darüber,<br />
was im Herbst 1918 irgendein russischer Soldat in der Welt der Einödhöfe um Makó getrieben<br />
haben könnte. Oma Juszti behauptete stets, ihre Lebens- und Widerstandskraft diesem Bündnis<br />
zu verdanken, ihre legendäre Vitalität sei ein Ergebnis der Verbindung zweier so verschiedener<br />
Menschenarten. Tatsache ist, dass sie nicht die Lebenskraft ihrer Mutter geerbt hatte, denn die<br />
„sich beim Maisschälen verlobende“ Etelka lebte sechs Jahre später schon nicht mehr. Ich habe es<br />
nie übers Herz gebracht, nachzufragen, warum die damals sechs Jahre alte Jusztika von keinem<br />
ihrer Verwandten aufgenommen wurde. Es ergab sich nie die Gelegenheit, einer so grausamen<br />
Frage auf den Grund zu gehen…<br />
37<br />
K r i s z t i á n G r e c s ó - I c h l a s s e d i c h z u