Untitled - European Borderlands
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I l m a R a k u s a - D e r A t l a s<br />
Grönland. Abgeplattet dieses Bild, und Europa ein Klacks, sogar farblich unentschieden, während<br />
Afrika wüstenbeige prangt, mit tiefgrüner Mitte. Die Entfernungen will ich mir nicht vorstellen<br />
müssen. Ein Zentimeter, sagt die Karte, entspricht 750 Kilometern Zahlen sind abstrakt, sie lassen<br />
mich kalt. Die Schweiz ist kleiner als meine Fingerkuppe.<br />
Darüber läßt sich einschlafen. Um im Schlaf von Schiffsreisen und Wüstenritten zu träumen<br />
und einem riesigen Sternenhimmel. Mit Orient und Viertelmond.<br />
Auch heute noch beuge ich mich mit derselben Faszination über Atlanten, Straßenkarten,<br />
Stadtpläne. Aus den grünen Schraffuren der Pripjetsümpfe, den blauen Bändern von Dnjestr und<br />
Bug entsteht mir eine Landschaft vor der Landschaft, mit eigenen Koordinaten, Formen, Farben.<br />
Gehörtes klingt mythisch hinein (Urheimat der Slaven etc.), und Ortsnamen wie Halytsch, Brody<br />
oder Drohobycz beginnen zu erzählen, als genügte ihre bloße Nennung. Was ich dann wirklich<br />
(wirklich) sehe, ist eine Art Déjà-vu: die Birkenwälder, die struppigen Flußufer, das galizische<br />
Hügelland. Farbige Bauernkaten, umgeben von Gemüsegärten und Gänseteichen. Zwiebelkuppelige<br />
Kirchen mit angrenzendem Friedhof. Neu sind die Gerüche. Und immer überraschend der Mensch<br />
in der Landschaft.<br />
Ein solcher Mensch bin ich selbst. Ausgesetzt im Moment der Reise, in diesem stotternden<br />
Expresszug Moskau-Czernowitz (Moskwa-Tschernowzy). Ja, ich sitze auf abgewetzten<br />
Kunstledersitzen, wische mit einem Papiertaschentuch den tage-alten Staub von der Rücklehne.<br />
Der Zug ruckelt, bleibt stehen, kommt wieder in Fahrt. Tee wird angeboten (nicht aus dem<br />
Samowar), die Fenster sind schmutztrübe und das WC ein unangenehm zugiger Ort. Draußen<br />
zieht die imaginierte Landschaft vorbei. Aber mit Bäuerinnen im Feld, die eigenhändig ackern.<br />
Weit und breit keine Landwirtschaftsmaschinen. Zeit kommt ins Spiel, sie kippt hin und her, vor<br />
und zurück. Diese Zeitreise hat mir der Atlas nicht vermittelt. Und nicht den ätzenden Geruch<br />
nach Kartoffelfeuern.<br />
Angekommen in Czernowitz, ertönt aus den Lautsprechern des prunkvollen kakanischen<br />
Bahnhofgebäudes russische Marschmusik, wie in tiefsten sowjetischen Zeiten. Kulisse und Geist<br />
in krassem Widerspruch. Vom Ghetto ganz zu schweigen. Die abschüssigen Straßen schauen leer.<br />
Aufgerissenes Pflaster, das Gehen fällt schwer.<br />
Reisen, das sagt mir der Atlas nicht, tut weh. Reisen ist eine physische und – wie in Czernowitz<br />
– eine seelische Strapaze. Weil die steingewordene Geschichte und die Gegenwart, weil imaginierte<br />
Vergangenheit und triste Realität aufeinanderprallen. Dazwischen (dazwischen) klafft nichts.<br />
Beim Lesen von Landkarten bleibt die Zeit außen vor. Ich lese ein Modell, lese Strukturen,<br />
aussagekräftig in ihrer Verdichtung. Eindringlich in ihrer Zeichenhaftigkeit. Vor aller (physischen)<br />
Exploration nehme ich es mit dieser Essenz auf. Mit Raumausbreitung im Planquadrat. Mit dem<br />
zarten Pointillismus des Atlas.<br />
Den Weg unter die Füße nehmen, ist etwas anderes.<br />
Aber innig ist die Zwiesprache mit dem Buch, im Reich der expanded minds. Einfach<br />
unersetzlich.<br />
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Übersetzt: Ilma Rakusa