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Untitled - European Borderlands

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So sah mein allabendliches heimliches Theaterstück aus. Es gehörte mir, für mich spielten<br />

die Schauspieler dieser kleinen holländischen oder deutschen Stadt, der Maler hatte sie für mich<br />

gemalt, der ich ähnlich eingeschlossen war wie sie, die Zwänge eines gegen mich gerichteten Lebens<br />

hielten mich umschlossen, obwohl ich nur ganz wage fühlte, dass das Leben sich gegen mich<br />

richtete, das war mir kaum bewusst, doch ich zog mich bereits jeden Abend in die schützenden<br />

Wände meines Zimmers zurück wie bei großer Kälte in einen warmen Wintermantel und schlief<br />

ein mit dem Bild unter meinen Augenlidern, das ich von meinem Vater bekommen hatte.<br />

Doch in meinem Auge war da schon ein anderes Bild, ein Bild vom Schweinestall. Auch das<br />

hatte ich von meinem Vater bekommen, dennoch mache ich ihn heute nicht dafür verantwortlich,<br />

schreibe ihm nicht die Schuld zu, mich beschmutzt zu haben. Wenn meine Mutter wütend war,<br />

wenn sie weinte oder mich beschimpfte, weil sie in mir die Gründe für ihr Unglück fand und mir<br />

deshalb Vorwürfe machte, dann stellte sich mein Vater plötzlich mit zehnfacher Wut hinter sie,<br />

seine Gesichtshaut wurde blau und lila, das war nicht wirklich er, so würde ich jetzt sagen, das war<br />

nicht mein Vater, sondern nur ein elendiges Wesen mit einer entsetzlichen Kraft, das gelitten hat,<br />

weil seine Kraft und sein Elend mit den verletzten Nerven meiner Mutter zusammengeknotet<br />

waren. Ja, ich bin bis auf den heutigen Tag wütend auf meine Mutter, ich schäme mich zwar, weil ich<br />

die Strafe wirklich verdient hatte, alles mögliche hatte ich verdient, doch sie hätte wissen müssen,<br />

dass man mich so nicht bestrafen darf, so nicht, war es für mich doch schon ekelerregend, wenn<br />

ich mit einer dreckigen Schüssel oder einem Korb Mais in den Stall gehen musste. Ich konnte den<br />

Geruch des Schweinestalls einfach nicht ertragen, auch nicht den von Schweinefleisch, vergeblich<br />

forderte mich mein Vater auf, das Fleisch zu essen, sonst würde ich schwach bleiben. „Mädchen, so<br />

iss doch, sonst bleibst du schwach und wirst dauernd krank!“ Ich ließ das Fleisch in meinem Mund<br />

hin und her wandern, dann schluckte ich es unzerkaut herunter.<br />

Das Leben von Vater und Mutter war für mich ein undurchschaubares Labyrinth und wird es<br />

immer bleiben, egal was ich heute darüber sage. In der Tiefe des Elends brannte eine unaufhaltsame,<br />

bittere Wut, vermengt mit Eitelkeit, Selbstaufgabe, krampfhafter Verklammerung und vielleicht<br />

auch etwas Zuneigung. Doch genau davon, von dieser Zuneigung, wenn es so etwas überhaupt<br />

zwischen den beiden gegeben hat, weiß ich am allerwenigsten, und was ich davon weiß, das ist<br />

nicht mehr, als was ich für mich erfunden habe, (…) um nicht ganz und gar (…) im wortlosen<br />

Elend unterzugehen, das damals gleichsam die ganze Stadt aufgesaugt hat wie eine giftige Tunke,<br />

die nach Galle schmeckt, sie floss von den Wänden und gab den Körpern ihren Geruch. In dieser<br />

Brühe schwammen die Augen, aus ihr wurden die Kinder geboren, alle Hälse wurden gefüllt damit,<br />

sie ließ jedermann verstummen, der zu sprechen versuchte. Ich aber wollte dennoch sprechen,<br />

dafür hätte ich eine gewisse Gnade gebraucht. Und diese Gnade, ich weiß nicht warum, erhoffte<br />

ich mir von meinem Vater, ja, auch damals schon von ihm, seine Zuneigung wäre das Geschenk<br />

gewesen, das ich mir, so scheint es, im Laufe der Zeit dennoch in der Phantasie geschaffen habe,<br />

in der Phantasie, wie diese Stadt, auf dessen kleinen, versteckt liegenden Platz, umgeben von<br />

Bürgerhäusern, die ein, zwei oder drei Stockwerke hoch sind, plötzlich jemand auftaucht mit<br />

Nachrichten, die niemand erwartet hat.<br />

Ich erinnere mich daran, wie ich lernte, mit dem Fahrrad zu fahren, mit dem Rad meines<br />

Vaters, das für mich natürlich zu groß war, am Ende der Straße, wo man zur Eulenburg abbiegen<br />

muss, ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte, ob ich bremsen oder einbiegen sollte. Der Lenker<br />

begann, an meinen Händen zu ziehen, ich verlor mein Gleichgewicht. Der Fußweg war zu nah,<br />

ich flog auf den Bordstein und brach mir den Arm. Ich war mir ganz sicher, dass er gebrochen<br />

war. Der Schmerz zerriss mich. Ich richtete mich langsam auf und sah, dass sich das Fleisch an<br />

meinem Arm öffnete, Blut floss heraus. Ich hatte nichts dabei, um es auf die Wunde zu legen.<br />

Mein Arm zitterte, ich konnte ihn nicht einmal mehr halten, denn ich musste irgendwie das Rad<br />

meines Vaters nach Hause schieben. Ich sah, das Rad war kaum beschädigt. Die Lampe vorn war<br />

abgebrochen, der Lenker war verbogen. Darüber machte ich mir keine Sorgen, ich fürchtete mich<br />

viel mehr davor, was geschehen würde, wenn herauskommt, was ich mit mir selbst gemacht hatte,<br />

was würde meine Mutter dazu sagen. Als wäre das nicht mein, sondern ihr Körper. Ihr gehört mein<br />

Arm, mein Bein, mein Hals, mein Kopf. Und jetzt hatte ich etwas auseinander genommen und<br />

zerstört, in zwei Teile zerrissen. Der Schmerz aber gehörte mir. Ich freute mich über den Schmerz,<br />

auch darüber, dass nicht sie, sondern mein Vater vor mir stand, als ich das Gartentor betrat. Er<br />

stand dort und sah, dass ich voller Blut war, und ohne mich irgendetwas zu fragen, gab er mir eine<br />

kräftige Ohrfeige. Dann brach ich in Tränen aus, ich verstand nichts, konnte aber endlich weinen,<br />

ich hatte meine Gründe.<br />

85<br />

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