09.01.2013 Aufrufe

Untitled - European Borderlands

Untitled - European Borderlands

Untitled - European Borderlands

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

U l r i k e A l m u t S a n d i g - K u b a<br />

letzten Nacht im Kindergarten sollten sie im Armeelastwagen irgendwohin gefahren werden, um<br />

dort die Abflussrohre einer Kleingartenanlage zu verlegen. Die Seeligern bemerkte die Abwesenheit<br />

der Kette am Vormittag des fünfzehnten August, als sie ein sauberes Kleid anzog, um sich bis auf<br />

weiteres von ihrem Verlobten zu verabschieden. Sie stellte die Wurstsuppe wieder zurück in den<br />

Vorratsraum und lief nicht zum Kindergarten, sondern mit verquollenen Augen: zum Fußballplatz.<br />

Zuerst hat sie die Kinder mit Zigaretten bestochen, damit sie im See nach einer Kette tauchten von<br />

der niemand wusste, dass es ihr Verlobungsgeschenk war. Als die Kinder gut gelaunt, aber ohne<br />

den Schmuck gefunden zu haben, ihre Zigaretten einforderten, ging die Seeligern zur Scheune<br />

ihres Vaters und fuhr den Frontlaster, mit dem er im Winter Sand und Kohle in die Höfe lud, aus<br />

der Garage, die Hauptstraße entlang und bis an den See.<br />

Stundenlang hat sie den Schlamm aus den Ufern geholt, den die Kinder in Badehosen und mit<br />

Spaten umgruben, bevor sie ihn wieder in den See kippte. Die Silberkette blieb verschwunden. Später<br />

wurden die Kinder zum Abendbrot gerufen. Die Seeligern saß bis in die Nacht am verschlammten<br />

Ufer des Sees, bevor sie den Frontlader zurück in die Scheune fuhr. Dass der Armeelastwagen mit<br />

Jesús auf der Ladefläche schon seit Stunden über alle Berge war, konnte sie sich denken. Dass man<br />

aber zweieinhalb Stunden gewartet hatte, ob sie doch noch käme und sich von Jesús verabschieden<br />

würde, wusste sie nicht und hätte auch nichts dran ändern können. Auf die Frage ihres Vaters,<br />

wie sie denn eine Silberkette, von der niemand wusste, woher sie die hatte, an einem Baggerloch<br />

hinter der Müllkippe verlieren konnte, zu dem sich sonst keine Menschenseele verirrte, sagte sie<br />

gar nichts. Sie kniff die grünen Augen zusammen und zündete sich ihre erste öffentliche Zigarette<br />

an.<br />

Ende August liefen die Kinder noch manchmal hinter die Müllkippe, aber mehr aus der<br />

Langeweile der großen Ferien heraus. Vor der Seeligern hatten alle ein bisschen Angst, weil sie<br />

ihr irgendwie mehr zutrauten, als ohne Erlaubnis und eigenhändig mit dem Bagger ihres Vaters<br />

zu fahren. Obwohl ihr das niemand gezeigt hatte, nur die Kubaner hatten das gelernt. War die<br />

Seeligern außer Hörweite, riefen die Kinder: Die Seeligern, die Seeligern! Wie ein Guppy auf<br />

Rädern!<br />

Drei Wochen später kam ein Achtjähriger mit dem Schmuck an, den er neben einem Förderband<br />

gefunden hatte. Die Kette war angerostet, und die Seeligern wusste, dass das was ihr Verlobter<br />

ihr geschenkt hatte, nicht aus Silber war. Eigentlich auch egal, es blieb ihr Verlobungsgeschenk.<br />

Aber es hat einen Unterschied gemacht, der nichts mit dem Metall zu tun hatte. Möglicherweise<br />

aber mit dem Gehabe der Gleichaltrigen, die in Grüppchen am Fußballplatz standen, wenn sie<br />

abends noch zum Pfarramt lief und stundenlang auf einen Anruf wartete, der nicht kam. Vier<br />

Monate später hat die Seeligern den Schmuck zurück in den See geworfen und nie wieder ein<br />

Wort drüber verloren. Was nicht heißt, dass die Sache mit dem falschen Silber damit aus der Welt<br />

gewesen wäre. Auch ihr Vater erwähnte das mit keiner Silbe, dafür aber alles Andere an seiner<br />

angeblich so verlobten Tochter. Die Türen flogen auf und schlugen wieder zu, du kurz vor Silvester<br />

zog die Seeligern von zu Haus aus und in die untere Wohnung des Pfarrhauses ein. Sonst hatte<br />

sie der Kantor benutzt, aber weil die Stelle gestrichen worden war und jetzt ein Kantor aus der<br />

Stadt kam, standen zwei Zimmer hinter dem Gemeindearchiv leer. Im vorderen Zimmer befanden<br />

sich der Zweitanschluss des Pfarrtelefons und daneben ein großer Kristallaschenbecher, den sie<br />

von zu Hause mitgenommen hatte. Außerdem, und denen, die zum Telefonieren kamen, wenn im<br />

Pfarrhaus keiner da war, immer im Blick: die große Fotografie von Fidel Castro über der Anrichte.<br />

Und weil die Leute davon ausgingen, dass eine allein stehende Frau einer Witwe gleichzusetzen<br />

ist, erst recht eine, die in der Kantorswohnung wohnt, hielten die späteren Generationen den<br />

Zigarrenraucher mit Vollbart für ihren verstorbenen Gatten und sie selbst für die Kantorswitwe<br />

Seeliger. Sie erklärte gar nichts, schaute den Leuten mit ihren grünen Augen beim Telefonieren zu<br />

und drehte sich Zigaretten.<br />

Im Gottesdienst saß sie grundsätzlich in der ersten Reihe, obwohl alle außer dem Pfarrer sonst<br />

nur ab der fünften Platz nahmen. Mit der Gemeinde im Rücken saß sie da und sang die Choräle<br />

lauter, eine Oktave höher als alle Anderen und ganz ohne Koloratur. Bei der Predigt hörte die<br />

Seeligern weg: Sie blätterte im Gesangbuch, schlief oder ging auf dem Friedhof spazieren, wo<br />

sie zum Ärger der Anverwandten die geharkten Sandwege zwischen den Gräbern in Unordnung<br />

brachte. War die Predigt zu Ende, setzte sie sich wieder in die erste Reihe und schlug das Gesangbuch<br />

auf. Aber auch der Anblick ihrer grünen Augen außerhalb der Gottesdienste trug dazu bei, dass die<br />

Kinder, die zwanzig Jahre zu spät geboren waren und nichts von der Sache mit dem falschen Silber<br />

20 Am vierzehnten August hatten die Kubaner den letzten Motor wieder eingebaut. Nach einer

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!