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Untitled - European Borderlands

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wussten, Respekt vor ihr hatten. Zum Beweis der eigenen Furchtlosigkeit wurde manchmal bei<br />

ihr Sturm geklingelt und dann die Beine in die Hand genommen. Noch später wurde nicht mehr<br />

weggerannt: Weil sonst nichts weiter los war, weil die Eltern die Ämter in der Stadt besuchten oder<br />

in der Woche woanders arbeiteten, und weil sie an den Sonnabenden müde in der Küche saßen und<br />

Kohlrouladen für Sonntag wickelten, setzten ihre Söhne und Töchter sich lieber unter das Portrait<br />

Fidel Castros. Nicht zuletzt auch, weil sie bei der Seeligern selbst gedrehte Zigaretten bekamen,<br />

deren Asche sie in den Kristallaschenbecher schnippen konnten, wenn sie ihr vorher den Rücken<br />

mit Franzbranntwein einrieben.<br />

Der Silbersee ist jetzt nicht saubererer als an jenem fünfzehnten August, aber das liegt an der<br />

ehemaligen Müllhalde davor. Die Müllhalde heißt Ascheberg. Das soll von der Tatsache ablenken,<br />

dass es nichts als die stillgelegte Müllhalde ist, auf die der neue Grundstücksbesitzer Rasen<br />

gesät und junge Pfirsichbäume gepflanzt hat. Er verkauft die Pfirsiche erst ab einem Umkreis<br />

von zehn Kilometern, weil sie ihm hier niemand abnehmen will. Hinter dem Ascheberg liegt der<br />

Silbersee. Aus ungeklärten Gründen riecht es am Ufer immer ein bisschen nach Dynamit, aber<br />

auf der Oberfläche spiegelt sich der Himmel und sieht dort viel größer aus als in Wirklichkeit. Als<br />

die Kantorswitwe Seeliger während des Gemeindeausflugs, der am Ascheberg vorbeiführte, am<br />

Ufer stand und rauchte, hat sie gesagt: Von nahem finde ich ihn nur von innen schön. Dann hat<br />

sie geschwiegen, und die Umstehenden haben auch nicht nachgehakt, die Seeligern hat sowieso<br />

nie auf Fragen geantwortet, und sie war auch schon neunundsechzig, da wird man nicht mehr<br />

gelöchert. Nur einmal hatte die jüngste Tochter des Pfarrers sie gefragt, warum sie eigentlich zwei<br />

Kinns unter dem Mund habe. Die Seeligern hat lange und eine Oktave tiefer als alle Umstehenden<br />

gelacht, sich dann am Doppelkinn gezupft und erklärt: Weil da meine zwei Seelen wohnen, was<br />

hast du denn gedacht? Danach hat sie geschwiegen und sich eine Zigarette gedreht. Aber das war<br />

auch schon die einzige Antwort auf die einzige Frage seit Jahren, und die meisten sagen sogar, es<br />

sei keine ernst zu nehmende Antwort gewesen.<br />

Die Gemeindemitglieder sind dann weitergegangen, um eine Wiese zu suchen, die weit genug<br />

vom Ascheberg entfernt war, und die Klapptische für das Gemeindepicknick aufzustellen. Es<br />

fehlten nur noch die Stühle, als eine Sechsjährige mit Feuerzeug in der Hand angerannt kam –das<br />

war eigentlich für die heimliche Zigarette gedacht, die sie der Seeligern abbetteln wollte. Es dauerte<br />

eine Weile, bis sie aus den ruckartigen Stößen des Kindes, die irgendwo zwischen Lachen und heulen<br />

schwankten, entnahmen, dass die Kantorswitwe Seeliger Röcke, Strümpfe und Leibchen abgelegt<br />

hatte und weit draußen über den Dächern des Atlantisdorfs dem Horizont entgegenschwamm. Als<br />

der Helikopter über den Ascheberg auftauchte, riefen die Kinder: Schneller, Propeller! Schneller,<br />

Propeller! Die Seeligern war ein grauhaariger Punkt in der geschlossenen Wolkendecke, die auf der<br />

Oberfläche des Silbersees trieb, und von ihr kaum zu unterscheiden.<br />

21<br />

U l r i k e A l m u t S a n d i g - K u b a

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