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Untitled - European Borderlands

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Bilder einer Ausstellung<br />

FEIERLICHE ERÖFFNUNG<br />

Die Gäste streiften sich Blätter und Mondschein von den Füßen. Ein klarer Herbstabend blieb<br />

draußen, vor den weit geöffneten Türen. Eine Unmenge Laub. Und Sternenstaub.<br />

Und hier in der Galerie, in diesem neoklassizistischen, zweigeschossigen Gebäude mit<br />

seinen spätromantischen Elementen, ehemals Sitz der damaligen Stadtverwaltung, später der<br />

Kreisverwaltung, danach der Reichswehrkommandatur der Besatzer, dann des Volkskomitees,<br />

eines Gebäudes, das später aufgrund der seltsamen Umschwünge in der Geschichte der<br />

vergangenen Jahrhunderte lange Zeit leergestanden hatte und vernachlässigt worden war, in<br />

diesem Gebäude, das erst vor kurzem seine neue Bestimmung als Galerie erhalten hatte, da gab<br />

es Licht im Überfluss. Es ergoss sich überall aus der frisch restaurierten Stuckdecke, strahlte<br />

aus den makellos milchweißen Wänden, funkelte auf dem polierten Marmorboden, brach aus<br />

jeder Ecke des einzigartigen, aus sechs kleineren Zimmern zusammengesetzten, jetzt großen<br />

Erdgeschossraumes hervor. Der Schimmer spiegelte sich auf dem Festtagslächeln und in den<br />

Augen der Geladenen wider, er glitt edel glühend über Reihen von Perlenketten, über Ohrringe,<br />

teure Edelsteinmedaillons und Ringe, über das Perlmutt der Manschettenknöpfe … Vor so viel<br />

Licht konnte man nichts verbergen. Es gab nicht einen einzigen Schatten. Jedes Detail konnte<br />

ausgiebig betrachtet werden: schön geschwungene Augenbrauen, gestärkte Kragen, berauschende<br />

Duftwolken, elegante Krawatten, niedliche Muttermale, seidene Einstecktücher in Jacketttaschen,<br />

rosige Fingerspitzen, korrekt auf Kniff gebügelte Hosen, hautenge, reduzierte Schnitte und den<br />

üppigen Faltenwurf der aufwändigeren Abendkleider, und unter den leichten Stoffen konnte<br />

man sogar die erregenden Umrisse der zarten Bänder und Säume erahnen, die sich über die feine<br />

Damenwäsche zogen, und wo sie hinstrebten, verschwanden …<br />

Die Wände der Galerie waren vollkommen leer. Aber das anschwellende Stimmengewirr<br />

schien diesem ungewöhnlichen Umstand zu trotzen. Eine Ausstellungseröffnung ohne Bilder<br />

hielt niemanden davon ab, möglichst viel von der guten Laune zu zeigen, die man sich für diese<br />

Gelegenheit schon seit Stunden und Tagen zurechtgelegt hatte. Man sprach ohne besonderen<br />

Grund. In der Regel leichthin, in gegenseitigem Einverständnis, wobei der eine oder andere auch<br />

nur redete, um die Ohrmuschel seiner Gesprächspartnerin berühren zu können. Oder sogar den<br />

Blick frech ihren Hals hinuntergleiten zu lassen, zum Busen hinab, dorthin, wo der Ausschnitt<br />

des Dekolletés diese besondere Vertiefung andeutet. Immer mutiger schloss sich auch das schöne<br />

Geschlecht mit offenem, glockenhellem Lachen oder ausgiebigem Augenklimpern den geladenen<br />

Herren an. Auch wenn vielleicht der eine oder andere die Abwesenheit der Bilder bemerkt hatte,<br />

wäre derjenige doch nicht so naiv gewesen, diese außergewöhnliche Tatsache laut zu kommentieren.<br />

Niemand wollte seine Unsicherheit zeigen. Jeder benahm sich so, als sei er schon bis ins Detail mit<br />

den Eigentümlichkeiten dieser künstlerischen These vertraut, viele versicherten sogar ganz im<br />

Vertrauen, dass ihnen der Künstler seine Ansicht schon im Vorjahr in seinem Atelier erläutert<br />

hätte - doch tatsächlich wusste niemand, wer der geheimnisvolle Künstler eigentlich war.<br />

Wahrscheinlich achtete deshalb auch niemand auf die Handvoll Hilfsarbeiter der Galerie, die die<br />

Vorhänge aus weißen Leintüchern von den Fenstern nahmen, mit denen der Architekt kunstvoll<br />

den Anschein einer einheitlichen Ausstellungsfläche geschaffen hatte. Nur einen Augenblick später<br />

erstarb die gleißende Beleuchtung.<br />

KATALOG<br />

Als hätte sich alle Dunkelheit genau hier versammelt. Draußen war, wie man durch die Fenster<br />

sehen konnte, alles wie immer. Nur dass dieses alles jetzt, aus dieser Dunkelheit heraus, klarer<br />

erschien, ausdrucksstärker. Die Fenster nahmen die ihnen jeweils zugedachte Aussicht auf.<br />

61<br />

G o r a n P e t r o v i ć - B i l d e r e i n e r A u s s t e l l u n g

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