Untitled - European Borderlands
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N o r b e r t N i e m a n n - U n t e r n e h m e n Z u k u n f t<br />
und Konsequenzen. Je nach Meßmethode fielen die Resultate unterschiedlich aus. Wie ein Rudel<br />
Ärzte das Krankenlager umstanden Spezialisten das Jetzt, um ihre konkurrierenden Diagnosen<br />
und Heilverfahren auf ihren zahlungskräftigen Patienten anzuwenden. Sanierung tat allenthalben<br />
not. Gesundheit wurde zentrales Schlagwort. Sie galt es zu wahren, zu schützen, zu einem<br />
erweiterten Arbeitsfeld für neue Experten zu machen. Gefährdungen, Ansteckungen, Epidemien<br />
sollten wenn schon nicht verhindert, so doch weitestgehend eingedämmt werden. Zusätzliche<br />
Disziplinen wurden geschaffen, sie erfassten die Gegenwart nach Art der Wetterkarten. Man<br />
eruierte die meteorologischen Krisenregionen und Krisensituationen des Heute. Unterschiedliche<br />
Druckzonen konnten für Turbulenzen sorgen, ruhige Lagen mit Hitze- und Dürreperioden. Kälte-<br />
und Regenphasen, Stürmen und Orkanen wechseln. Schäden und Opfer waren dadurch natürlich<br />
nicht zu vermeiden, aber für die Bewältigung der Folgen war immer besser, schneller, gründlicher<br />
gesorgt. Drohte Gefahr, konnte nun immerhin frühzeitig informiert und zur Selbsthilfe<br />
angeleitet werden. Dafür wurde umfassend Sachberatung geboten. Krisenbewältigungstechniken,<br />
Krisenmanagementkonzepte, Beratungsstellennetzwerke für Ernst- und Notfälle wurden<br />
entworfen, geplant , installiert. Denn trotz aller Vergegenwärtigung der Gegenwart vergaß die<br />
Zeit niemals, dass jeder einzelne unwiderruflich seinem Einzelschicksal überlassen blieb und<br />
seinen Lebensweg frei, selbstverantwortlich und allein zu gehen hatte.<br />
Der einzelne Mensch ging diesen Weg außerdem unerkannt, beinahe unsichtbar. Soviel Neuigkeit<br />
erfüllte die Zeit, dass vor und hinter ihr kaum Raum zur Verfügung stand. Aus Platzgründen wurde<br />
ununterbrochen aussortiert, weggeworfen, gelöscht, Beachtung entzogen, übersehen, vergessen,<br />
begraben. Nicht dass Subjekte in dieser Sorte Gegenwart nicht mehr vorkamen. Im Gegenteil<br />
fielen die Blitzlichter des allgemeinen Interesses auf eine rapide wachsende Zahl von ihnen.<br />
Nicht dass nichts berichtet wurde von dem, was ihnen widerfuhr. Bloß war die Zeit zu knapp<br />
bemessen, um den Hintergründen ihres jeweiligen Loses nachzuspüren. Auch reichten Geduld,<br />
Konzentration, Anteilnahme über die Beleuchtung der unmittelbarsten Ursachen gar nicht hinaus.<br />
Denn schon erschien im nächsten Blitzlicht die Momentaufnahme des nächsten Schicksals. Aus<br />
demselben Grund konnten auch Lebenslinien nicht weiterverfolgt werden. So wie Vergangenheit<br />
gezwungen war, immer schneller vergangen zu sein, für immer zu verschwinden, als hätte es sie<br />
niemals gegeben, so musste notgedrungen auch der Blick voraus immer kurzsichtiger werden.<br />
Der Effekt dessen, was auch immer neu begann, sich entfaltete, anschwoll, überhand nahm, war<br />
nicht weiter absehbar als bis zur Schwelle allererster Auswirkungen. Traten Spätfolgen auf, waren<br />
Anfangsgründe längst in Vergessenheit geraten und kaum mehr zu ermitteln. Die Zeit hatte auch<br />
kein Interesse daran. Sie setzte Gegenwart aus Schnappschüssen zusammen. Und je ausgiebiger<br />
sie das tat, je gründlicher sie ihren Ort auf der Zeitachse bestimmte desto tiefer versank die reale<br />
Existenz gelebten Lebens im Dunkel ihrer Nichtbeachtung.<br />
Noch einmal also ein letztes Mal, die Frage: Was ist Gegenwart? Offenkundig existieren<br />
verschiedene, unterschiedlich mächtige, einander widersprechende, zerstörende Gegenwarten,<br />
simultan, parallel nebeneinander. Kommt es bloß darauf an, von wo aus sie mit welcher Absicht<br />
betrachtet wird? Ist Gegenwart vielleicht das, was diese Spiel- und Unterarten von Abbildern<br />
umgreift wie das Licht die Farben? Ein spektrales Gebilde, das sich aus wenigstens drei<br />
Komponenten zusammensetzt? Aus dem dunklen Bereich ihrer Herkunft, aus ihrem trostlos<br />
schillernden Jetzt und aus der großen Ungewissheit ihrer Zukunft? Wären nicht jedes Mal<br />
mindestens drei Standpunkte gleichzeitig einzunehmen, um Antwort zu erhalten darauf, wie es<br />
ist? Worauf es hinaus will? Müsste dieser Dreiklang nicht für jeden speziellen Ort, jede Biographie<br />
hergestellt werden? Enthielte der Zusammenklang all dieser Dreiklänge mehr Gegenwart? Einen<br />
weniger undurchsichtig, einseitige, rechthaberische, betrügerische Fiktion davon? Käme sie der<br />
Realität näher? Nahe genug, um sich, statt von ihr erschlagen zu werden, wieder zu ihr verhalten<br />
zu können?<br />
Es war einmal ein Landstrich, dort hatten die Menschen seit eh und je als Bauern gelebt,<br />
und da ihre Böden fruchtbar, die Wiesen saftig waren, prägten imposante, prächtig bemalte<br />
Höfe auf lieblichen Hügeln die Gegend. Auch gab es einen großen See samt sehenswerten<br />
Baudenkmälern, das Hochgebirge lag nicht weit, die Winter waren weiß, die Sommer heiß, so<br />
dass früh der Erholungswert der Region erkannt wurde und der Fremdenverkehr den ohnehin<br />
schon beträchtlichen Reichtum noch vermehrte. Eines Tages aber begann die Rentabilität der<br />
Agrarwirtschaft zu schrumpfen. Bald reichte sie trotz Subventionen für die meisten Betriebe<br />
nicht mehr aus, um zu überleben, geschweige denn mit dem in allen übrigen Berufen wachsenden<br />
Wohlstand mitzuhalten. So verkauften viele Bauern ihre Äcker als Baugrund und bauten ihre<br />
Scheunen und Ställe zu Ferienunterkünften aus. Nach einem verheißungsvollen Start jedoch ging<br />
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