Anhang - Institut für Zeitgeschichte
Anhang - Institut für Zeitgeschichte
Anhang - Institut für Zeitgeschichte
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Literatur 525<br />
fremdung", „Rassegenosse", „stammesfremd" und andere mehr in Pfarrerskreisen damals<br />
gang und gäbe waren. Dieser protestantische Antisemitismus schwächte im Mittelstand, wo<br />
der kirchliche Einfluß besonders stark war, den Widerstand gegen die antijüdische Nazipropaganda.<br />
Bereits in dieser kurzen Einleitung, in der evangelische Geistliche zitiert werden, die<br />
gegen den „zersetzenden" und „auflösenden" Einfluß der Juden predigten oder schrieben,<br />
zeigt Gerlach, daß die lutherische Zwei-Reiche-Lehre, die dem Christen den Einspruch selbst<br />
gegen eine derartige Politik verwehrte, mit darauf abzielte, das „verstockte" jüdische Volk<br />
zum Übertritt zum Christentum zu überreden. Wahrlich beängstigend sind in diesem Zusammenhang<br />
die Huldigungen, die dem „Führer" von D. Paul Humburg, einem nachmaligen Präses<br />
der Bekennenden Kirche des Rheinlandes, in einem Adolf-Hitler-Lied dargebracht wurden<br />
(S. 36). Eingehend wird die Zeit der antijüdischen Verleumdung und Hetze, des<br />
antijüdischen Boykotts zwischen 1933 und 1935 behandelt.<br />
Die Deutschen Christen stellten sich gemäß der Rassentheorie gegen eine Judenmission, die<br />
ja letztlich nur zu einem Eindringen „jüdischen Blutes" in den deutschen Volkskörper führen<br />
würde. Pfarrer, die sich bald der Bekennenden Kirche zuwenden sollten, bestanden demgegenüber<br />
auf einer biblisch-christlichen Interpretation und bejahten die Judenmission. Gleichwohl<br />
waren die späteren Pfarrer der Bekennenden Kirche stark antijüdisch eingestellt - fast in<br />
gleichem Maße wie die Deutschen Christen selbst. Als besonders schwerwiegend muß man die<br />
Haltung von Otto Dibelius ansehen, dessen unangenehm berührende Nachkriegsapologie<br />
dem Leser nicht vorenthalten wird (S. 41 f.). Wie so viele andere, präsentiert auch Dibelius die<br />
Rettung zweier jüdischer Familien „unter Gefährdung meiner eigenen Person". 1933 sprach er<br />
davon, sich „immer als Antisemiten gewußt" zu haben. Und das in einem Schreiben, in dem er<br />
den Boykott vom 1. April 1933 enthusiastisch unterstützt.<br />
Die Diskussion vor und nach jenen Vorgängen, die zur Herausbildung einer Bekennenden<br />
Kirche führten, drehte sich um die sogenannten Judenchristen, um die getauften Juden also:<br />
Soll die Bekennende Kirche die getauften Juden als Christen betrachten, geht Blut vor Glauben,<br />
dürfen die Juden aus der Gemeinschaft der zu „rettenden" Menschen ausgeklammert<br />
werden? Die Frage des Verhältnisses zu jenen, die Juden bleiben wollten - mithin zur überwältigenden<br />
Mehrheit des jüdischen Bevölkerungsanteils -, wird kaum erörtert. Gerlach konzentriert<br />
seine Analyse auf die Person Bonhoeffers. Wie stellte sich diese inzwischen zum<br />
Symbol alles Positiven in der Bekennenden Kirche gewordenen Persönlichkeit nun zum Problem<br />
der Judenchristen? Bonhoeffer stellte eine paradoxe These auf, in der derjenige als<br />
Judenchrist bezeichnet wird, der sein Christentum von als göttlich ausgegebenen Gesetzen<br />
abhängig macht, zum Beispiel vom Gesetz der sogenannten rassischen Einheit. Danach sind<br />
die Deutschen Christen also Judenchristen, während Bonhoeffer sich selbst als Heidenchristen<br />
sieht. Jedoch schreibt er schon zur Zeit des Boykotts, daß ein Christ „den Opfern jeder<br />
Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet (ist), auch wenn sie nicht der christlichen<br />
Gemeinde zugehören", schreibt, daß kirchliches Handeln darin bestehe, „nicht nur die<br />
Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen". Er<br />
blieb mit dieser Einstellung ziemlich allein. Im Betheler Bekenntnis (August 1933) stellte sich<br />
Bonhoeffer im Prinzip gegen die Judenmission als heilsgeschichtliche Lösung des „Judenproblems"<br />
(S. 56). Wie allein er war, wird in Gerlachs Arbeit sehr deutlich; sogar von Karl Barth<br />
wurde er da verlassen. Wegen des Arierparagraphen in den Kirchen konnte sich Barth anfangs<br />
noch nicht zum Protest entschließen, geschweige denn wegen der in Bedrängnis geratenen<br />
Juden als Gruppe. Der Arierparagraph traf nicht nur getaufte Juden allgemein, sondern auch<br />
die „nichtarischen" Pfarrer. Es war vielleicht leichter, diese Pfarrer zu verteidigen, als den<br />
gewöhnlichen „nichtarischen" Kirchenmitgliedern beizustehen. Niemöller und Bonhoeffer<br />
taten in der Vorbereitungsphase, die dann zu Barmen und in die Bekennende Kirche führte,<br />
beides.<br />
Daß auch Martin Niemöller, der seine Einstellung in einem Interview 1963 tief bereut hat<br />
(S. 85), vom Antisemitismus nicht frei war, ist gewiß nichts Neues. Gerlach behandelt auch