Anhang - Institut für Zeitgeschichte
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450 Marianne Doerfel<br />
der Widerstandsforschung manche Aufschlüsse - etwa im Hinblick auf persönliche<br />
Beziehungen, Motivationen und Einzelaktionen - vermitteln könnte.<br />
VIII.<br />
Wenn auch milieuspezifische Dispositionen häufig vorgegeben waren, so bildeten<br />
den unmittelbaren Anlaß <strong>für</strong> alle hier berichteten Äußerungen der Distanz und der<br />
Verweigerung doch das Bekenntnis zu der von den Traditionsschulen vertretenen<br />
Erziehungsform und das, wenn auch unterschiedlich starke, Bewußtsein von nicht<br />
zu überbrückenden Widersprüchlickeiten. Dazu gehörte etwa die Abneigung gegen<br />
die Uniform: bis auf die Ritterakademie Liegnitz war an den Schulen nie eine Uniform<br />
eingeführt worden, und die Bedeutung, die ihr im nationalsozialistischen Alltag<br />
beigemessen wurde, stieß auf Ablehnung. Dazu gehörte auch, daß man der geistigen<br />
Anspruchslosigkeit der Heimabende durch die Vermehrung der Sportveranstaltungen<br />
zu entgehen suchte, und das Empfinden, daß Hitler-Bilder, obgleich sie<br />
nur selten einen prominenten Platz fanden, sich in den Baulichkeiten wie Fremdkörper<br />
ausnahmen. Überhaupt waren der architektonische Gesamtcharakter der Schulen,<br />
die in Stein gehauenen Sentenzen griechischer und lateinischer Klassiker,<br />
Büsten von Philosophen, ehemaligen Schülern und Lehrern und die zentrale Funktion<br />
der Sakralbauten eine ständige Erinnerung an das von den Schulen vertretene<br />
Erbe. Die sittlichen Normen des Humanismus waren zwar längst Teil eines philologisch<br />
orientierten Bildungskanons geworden, hatten aber in den Erziehungsgemeinschaften<br />
ihren Charakter als existentielle Herausforderung nie völlig verloren, wenn<br />
sie auch nur noch wenigen bewußt wurde 123 .<br />
Am deutlichsten manifestierte sich dieses Erbe noch auf institutioneller Ebene.<br />
Der Grundsatz der Selbst- und Mitverantwortung erwies sich als wirksames Instrument<br />
bei der Herstellung eines Konsensus der Nonkonformität. Das Recht auf<br />
Selbstbestimmung war Teil einer Verfassung, die nicht verordnet und auch nicht<br />
förmlich gemeinsam beschlossen worden war, die aber als Grundelement der eigenen<br />
Partizipation verstanden wurde 124 . Ähnlich der ungeschriebenen englischen<br />
Verfassung hatten sich hier im Lauf der Jahrhunderte Gewohnheitsrechte herausgebildet,<br />
die zwar von Zeit zu Zeit modernen Auffassungen angepaßt wurden, in ihrer<br />
Grundfunktion jedoch unverändert blieben. Ihre Ursprünge sind teilweise im<br />
123 Friedrich Naumann, Afraner 1876-1879, bemerkte später in einem Rückblick auf seine Schulzeit:<br />
„Merkwürdig wenig hat nach meiner Erinnerung der altklassische Unterricht zur politischen Erziehung<br />
beigetragen, obwohl er voll von politischem Stoffe war." Afranisches Merkbuch, 1928, S. 175.<br />
124 Diese Haltung vertraten die Schüler auch, als das Ministerium Hänisch-Hoffmann 1918 die Einrichtung<br />
von Schulgemeinden und Schülerräten nach dem Modell einiger Landerziehungsheime<br />
verfügte. Die Joachimsthaler erklärten, ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen Lehrern und<br />
Schülern brauche bei ihnen nicht erst hergestellt zu werden und die „Aufrechterhaltung der Ordnung<br />
... war bei uns längst Sache der Prima und der Famuli, die es bisher auch sehr gut gemacht<br />
haben" (AMJB, N. F., H. 7, Okt. 1957, S. 28).