Anhang - Institut für Zeitgeschichte
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404 Marianne Doerfel<br />
stischen Machtergreifung eine völlig neue Perspektive: die unmittelbare, existentielle<br />
Bedrohung wurde jetzt offenbar und löste unterschiedliche Formen der Abwehr aus.<br />
Eine Analyse der von Generation zu Generation weitergegebenen Überlieferungen<br />
zeigt, bei aller Eigenständigkeit der einzelnen Schulen, eine Reihe von gemeinsamen<br />
Faktoren. Dazu gehörte eine bis in die ersten Jahre der Weimarer Republik<br />
reichende spartanische Einfachheit in der Ausstattung; nur das neu erbaute Joachimsthalsche<br />
Gymnasium in Templin verfügte über moderne, helle, wohnliche<br />
Räume. Der Klostercharakter war am stärksten erhalten in Schulpforta und der Ritterakademie<br />
Brandenburg, die übrigen Schulen hatten im 18. bzw. 19. Jahrhundert<br />
neue, <strong>für</strong> ihren Bedarf geplante Schulgebäude erhalten mit erheblich verbesserten<br />
sanitären Anlagen und Heizung. An den klösterlichen Ursprung erinnerten aber<br />
immer noch einzelne Begriffe: Tabulat <strong>für</strong> den Korridor (St. Afra, Roßleben), Coenacel<br />
<strong>für</strong> den Speisesaal, Betsaal, Zwinger, Kreuzgang, Kapitelsaal. In Roßleben<br />
blieb man, trotz anderslautender nationalsozialistischer Anweisung, beharrlich<br />
dabei, die einzelnen Wohn-/Arbeitsräume Zelle zu nennen. Die Gesamtheit der<br />
Zöglinge war der Coetus.<br />
Im äußeren Habitus war einfache, praktische Kleidung üblich, die „Landjunker"<br />
waren meist an ihren Schilfleinenjacken kenntlich, modische Eleganz galt als Angeberei.<br />
Um den bürgerlich-schlichten Lebensstandard einzuhalten, wurde das<br />
Taschengeld knapp bemessen, nach Altersstufen gestaffelt, und die Primaner mußten<br />
davon Rauchwaren und privat gehaltene Zeitungen sowie gelegentliche Kinooder<br />
Gasthausbesuche bestreiten.<br />
Ausschlaggebend <strong>für</strong> eine vielfach lebenslänglich anhaltende Identifikation mit<br />
der Schule und die große Anhänglichkeit ehemaliger Schüler war aber die seit langem<br />
praktizierte Mitbeteiligung an erzieherischen Aufgaben. Die Schulordnungen<br />
hatten sich im Lauf der Jahrhunderte auf Grund der besonderen Autonomie der<br />
Schulen zu Verfassungen entwickelt mit repräsentativ-demokratischen Elementen.<br />
In dem sich bis 1918 immer noch weitgehend selbst verwaltenden Gemeinwesen hatten<br />
die Zöglinge ihre Vertreter, die selbstverantwortlich bestimmte, dem Alter entsprechende<br />
Aufgaben wahrnahmen. Das begann bei den Jüngeren mit kleinen<br />
Ämtern wie dem Läuten der Schulglocke, Tischdienst, Geräteverwaltung u. ä. und<br />
führte mit zunehmendem Alter zur Übertragung erzieherischer Aufgaben, die von<br />
den Primanern, teilweise auch den Sekundanern, wahrgenommen wurden. Sie hatten<br />
als „Inspektoren" oder „Senioren" eine verhältnismäßig große Machtfülle,<br />
waren in einem gewissen zeitlichen Rhythmus verantwortlich <strong>für</strong> die Innehaltung<br />
eines großen Teils der Schul- und Internatsordnung und trafen sich in wöchentlichen<br />
Konferenzen, auf denen alle strittigen Fragen, Beschwerden und Wünsche<br />
erörtert wurden, die teils in eigener Regie entschieden oder an die Schulleitung weitergegeben<br />
wurden. Jeweils ein Lehrer hatte die Wochenaufsicht (Hebdomadar),<br />
war aber nur als funktionell begrenzte Instanz zuständig, gewissermaßen als beob-