Anhang - Institut für Zeitgeschichte
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Literatur 533<br />
Regierungssystem mit einer festen Erklärung individueller Rechte verband - einschließlich der<br />
Rechte von Frauen. Die deutsche Demokratie war - und in einigen wichtigen Punkten ist sie<br />
es noch immer - der in Großbritannien existierenden Demokratie, die es erst 1929 zu einer<br />
Wahl nach einem wirklich demokratischen Wahlrecht brachte, ein gutes Stück voraus. Zur<br />
Transformierung des politischen Lebens kam es aber nicht nur auf Reichsebene in Berlin, sie<br />
erfaßte vielmehr auch die Länder und die Kommunen. Ein solches System hätte im wilhelminischen<br />
Reich nie entstehen können, und daß es nach Kriegsende tatsächlich geschaffen<br />
wurde, war zu einem erheblichen Teil der Führung und der Festigkeit der deutschen Arbeiterbewegung<br />
zu verdanken. Weder Prinz Max von Baden noch der Interfraktionelle Ausschuß<br />
hätten, wie die Ohnmacht der Regierung des Prinzen gegenüber der Marineleitung Ende<br />
Oktober 1918 klar beweist, ein derartiges demokratisches Paket durchzubringen vermocht.<br />
1928 konnten sich Sozialdemokraten und andere Anhänger der Republik dazu gratulieren,<br />
daß sie das Staatsschiff durch die Stürme der frühen Jahre gesteuert und nun ruhigeres Fahrwasser<br />
erreicht hatten. Gab es nicht Gründe <strong>für</strong> die Annahme, daß die Deutschen im Lauf der<br />
Zeit dazu kommen würden, ihr demokratisches politisches System <strong>für</strong> eine Reform ihrer<br />
anderen <strong>Institut</strong>ionen zu benutzen? Hier ist vielleicht darauf hinzuweisen, daß einer der größeren<br />
Mängel der Weimarer Verfassung nicht der Sozialdemokratie in die Schuhe geschoben<br />
werden kann. Winkler erinnert uns daran, daß es die bürgerlichen Liberalen waren, deren<br />
Furcht vor den Massen in Attacken auf den „Parlaments-Absolutismus" Ausdruck fand (Bd. 1,<br />
S. 231) und die der Republik den unangenehmen Dualismus von präsidialer und parlamentarischer<br />
Autorität bescherten, einen Dualismus, den die Gründungsväter der Bundesrepublik<br />
weise verwarfen.<br />
Dies alles heißt aber nicht, daß zur Sicherung der Republik gegen ihre reaktionären Feinde<br />
nicht mehr hätte getan werden können. Winkler nimmt sich z. B. die Behandlung der sogenannten<br />
„Kriegsschuldfrage" vor, die dazu beitrug, das Ansehen des neuen Regimes selbst bei<br />
seinen Anhängern zu untergraben. Den Vertrag von Versailles haben fast alle Deutsche als<br />
Demütigung empfunden. Ein Mittel zur Abschüttelung dieser Last hätte darin bestehen können,<br />
die Verantwortung <strong>für</strong> den Krieg und die Niederlage ohne Zögern dort festzumachen,<br />
wo sie hingehörte, nämlich bei der Regierung des Kaiserreichs und seiner militärischen Führung.<br />
Doch wäre damit dem Anschein nach die Behauptung der Alliierten von einer deutschen<br />
Kollektivschuld, wie sie in Artikel 231 des Vertrags ausgesprochen war, akzeptiert und<br />
zugleich der Behauptung der deutschen Regierung, sie habe sich ohne Niederlage zu einem<br />
Waffenstillstand verstanden und deshalb Anspruch auf einen generösen Frieden, der Boden<br />
entzogen worden. Neben derart taktischen Motiven machte sich auch ein natürliches patriotisches<br />
Gefühl bemerkbar, das sich gegen jedes Eingeständnis deutscher Missetaten auflehnte,<br />
selbst wenn es sich bei den Beschuldigten um Feinde der deutschen Demokratie handelte.<br />
Kritiker der wilhelminischen Außenpolitik wie Eduard Bernstein oder Kurt Eisner erkannten<br />
durchaus, wie wichtig es war, Bethmann Hollwegs These zu entkräften, Deutschland<br />
führe einen Verteidigungskrieg. Im November 1918 hat Eisner, inzwischen Ministerpräsident<br />
in Bayern geworden, unerschrocken Dokumente veröffentlicht, mit denen die Komplicenschaft<br />
der deutschen Regierung beim österreichischen Ultimatum an Serbien bewiesen werden<br />
sollte. Er wurde sofort zur Zielscheibe wütender Feindseligkeit offizieller Kreise, die ihm Fälschung<br />
der Dokumente vorwarfen und ihn des Landesverrats bezichtigten. Diese Kampagne<br />
leistete ihren Beitrag zu seiner Ermordung, ferner zur Inhaftierung und zum gewaltsamen<br />
Tod seines Sekretärs Felix Fechenbach. Bernstein wiederum hat im Juni 1919 versucht, den<br />
Parteitag der SPD in Weimar zu einer objektiven Einstellung in der Frage der Kriegsschuld zu<br />
bewegen, wurde aber von Delegierten niedergeschrien, deren selbstgerechte Empörung eine<br />
eindeutig rassistische Färbung hatte. So wurde eine Gelegenheit verpaßt, das alte Regime zu<br />
diskreditieren und seine Verantwortlichkeit <strong>für</strong> Deutschlands Nachkriegsmisere deutlich zu<br />
machen. Gerade die Führer der SPD, die selbst gegen die „Kriegsschuldlüge" zu Felde zogen<br />
und Deutschlands militärische Niederlage leugneten, verschafften der Auffassung Glaubwür-