EUROPA NEU DENKEN - Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst ...
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Dieses „Vermögen“ will Erich Fromm kurz vor Beginn des neuen Jahrtausends<br />
wieder in den Blick rücken. Wo das menschliche Sinnen <strong>und</strong> Trachten des Einzelnen<br />
nur ums Haben kreist, verliert die Gesellschaft ihre Seele <strong>und</strong> die innere<br />
Kraft. Und im Unterschied zu den Gegenständen des Habens werden die<br />
praktizierten Eigenkräfte des Menschen durch die Praxis nicht nur nicht aufgebraucht,<br />
sondern vermehrt.<br />
Die Gr<strong>und</strong>lagen für diese Überzeugung schöpft Erich Fromm aus den Schriften<br />
von Karl Marx <strong>und</strong> Meister Eckhart. Beide könnten auf den ersten Blick unterschiedlicher<br />
nicht sein. Aber beide schreiben <strong>und</strong> predigen aus einer Lebenspraxis<br />
heraus, bei der sie am eigenen Leib erfahren, dass das Leben erfüllter<br />
ist, sofern der Mensch nur auf die ihm eigenen Kräfte zur Einheitserfahrung<br />
von Liebe, Vernunft <strong>und</strong> produktivem Tun baut. Und sie erfahren, dass das Leben<br />
in Wirklichkeit leer, langweilig <strong>und</strong> unerfüllt bleibt, wenn der Mensch danach<br />
strebt, sein Leben nicht aus eigener Kraft zu leben, sondern versucht, es<br />
mit Hilfe von Surrogaten, Ersatzstücken <strong>und</strong> Krücken auszufüllen <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>är<br />
anzureichern.<br />
Für Fromm ist die Notwendigkeit einer radikalen menschlichen Veränderung<br />
deshalb weder nur eine ethische oder religiöse Forderung noch ausschließlich<br />
ein psychologisches Postulat, das sich aus der krankhaften Natur unserer gegenwärtigen<br />
Gesellschaft ergibt, sondern sie ist auch eine Voraussetzung für<br />
das nackte Überleben der Menschheit:<br />
„Richtig leben heißt (für eine seelisch ges<strong>und</strong>e Gesellschaft in der Zukunft)<br />
nicht länger, nur ein ethisches oder religiöses Gebot zu erfüllen. Zum ersten<br />
Mal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer<br />
radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab. Dieser Wandel im<br />
Herzen des Menschen ist jedoch nur in dem Maß möglich, in dem drastische<br />
ökonomische <strong>und</strong> soziale Veränderungen eintreten, die ihm die Chance geben,<br />
sich zu wandeln, <strong>und</strong> den Mut <strong>und</strong> die Vorstellungskraft, die er braucht, um<br />
diese Veränderung zu erreichen.“ 6<br />
Es gibt zwei Wege, dieses Postulat zu verwirklichen: Einen, der eine neue Begründung<br />
für alte Werte liefert, <strong>und</strong> den zweiten, der die Notwendigkeit neuer<br />
Werte aufzeigt.<br />
6 Ebd. 21.<br />
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