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EUROPA NEU DENKEN - Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst ...

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Evelyne Pieiller, stets sagen können: „Das ist nicht das Ende der Welt, es ist<br />

nur das Ende unserer Welt.“ Doch der Schmerz ist ein schlechter Ratgeber, er<br />

trübt den Blick, <strong>und</strong> es ist leicht <strong>und</strong> ungerecht, seine Voreingenommenheit zu<br />

kritisieren: Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muss man sich in ihn<br />

hineinversetzen, muss man zusammen mit dem Leidenden den Gesamtüberblick<br />

über die Realität verlieren, der zwar auf das rechte Maß zurückführt, jedoch<br />

auch den Schmerz vergessen macht, muss man diese tiefgreifende Lebenserfahrung,<br />

diesen Augenblick, in dem nur noch der Schmerz existiert,<br />

ganz <strong>und</strong> gar durchleben.<br />

In San Canzian d‘Isonzo rät uns eine Passantin energisch vom Besuch der<br />

Kirche San Proto ab, in der der Sarkophag des heiligen Grisogono steht,<br />

eines Märtyrers, der in der Überlieferung auf verschiedene Weise bestattet<br />

wurde – auch auf See – <strong>und</strong> der vermutlich ein Vorfahre von mir ist, gehört er<br />

doch zu meiner Familie mütterlicherseits, von der Giorgio Pressburger anhand<br />

der Geschichte ihres Palazzos in Split ein literarisches Porträt schuf.<br />

In San Pier d‘lsonzo, wo wir uns zunächst einer alten Dame fügten, die uns auf<br />

der Straße anhielt, um sich mit uns photographieren zu lassen, machen wir<br />

uns auf die Suche nach Giuseppe Ermacora, der unter dem Namen Pino Scarel<br />

Gedichte schreibt. Da er taub ist, müssen wir lange klingeln, bis er uns öffnet,<br />

nachdem er sich ein Hemd <strong>und</strong> Knieschützer aus Wolle übergezogen hat. Er ist<br />

ein alter Mann <strong>und</strong> hat sein Leben lang auf der Werft <strong>und</strong> als Maurer gearbeitet;<br />

er hat einige schmale Bändchen veröffentlicht, auch an der Kirchentür <strong>und</strong><br />

an der Wand eines Vereins hängen Gedichte von ihm. Er ist erfreut, doch<br />

macht ihn das Interesse der Fremden weder stolz noch schüchtern; er zeigt<br />

uns seine Gedichte mit vollkommener Natürlichkeit, so wie er den Rosmarin<br />

vor dem Haus zeigt oder wie ein Tischler das Möbelstück vorzeigt, das er soeben<br />

fertiggestellt hat. In seinen Gedichten finden sich starke, leise Bilder, die<br />

wie von guten Händen geformte Dinge hervortreten. „Fogo al veciun“, „Ins<br />

Feuer mit allem Alten“, heißt eines seiner Gedichte; das welke Gras, das verbrannt<br />

wird, ist auch das Alter. Doch er erzählt uns, dass seine über neunzigjährige<br />

Großmutter zwar über ihre Gebrechen klagte, doch auch hinzufügte, es<br />

sei besser, hier unten zu bleiben, „weil es immer etwas zu sehen gibt“; sie<br />

nahm das Leben, zu Recht, wie einen Kinofilm. Der Tod, schreibt Paola Cosolo<br />

Marangon in ihrer eindringlichen Storia di Rosa, die im lsonzo-Tal spielt, existiert<br />

nur für den, der an ihn glaubt.<br />

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