EUROPA NEU DENKEN - Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst ...
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Verse im Paarreim wurden für einen Knaben, Thomes mit Namen (Camploj ist<br />
verbessert zu Tolpei), der Priester werden sollte, verfasst. Wir vermuten, dass<br />
es sich um Verse des Geistlichen Jan Francësch Pezzei handelt, der zu jener<br />
Zeit erst kurz als Seelsorger in La Val/Wengen im Gadertal wirkte. Die ersten<br />
Texte mit literarischem Anspruch auf Gadertalisch sind sechs Schulschlussgedichte<br />
aus dem Jahre 1819 ebenfalls von Pezzei, der immer noch in La Val/<br />
Wengen weilte.<br />
Die ersten Texte auf Fassanisch wurden in Prosa geschrieben. Es handelt sich<br />
um ein Gespräch von 1812 zwischen einigen Kindern aus Soraga <strong>und</strong> einem<br />
Mineraliensammler, wiedergegeben in einem Brief des Domherrn Giovanni<br />
Battista Giuliani (1766–1844).<br />
Am Beginn der ampezzanischen Literatur haben wir 1844 die lange <strong>und</strong> lustige<br />
Satire Lode mascìza che sempre val adatada in ogni tempo ara Banca Comunal<br />
(Großes immerwährendes Lob, das dem Gemeindeausschuss jederzeit angemessen<br />
ist) von Joani Gregorio Demenego (1821–1867). Sie gibt uns einen<br />
soziologischen Einblick in den Mikrokosmos von Anpezo/Ampezzo.<br />
Unbestreitbar ist die Tatsache, dass alle frühen Schriftzeugnisse aus den Dolomitentälern,<br />
unabhängig von ihrem literarischen Anspruch, für die Kultur- <strong>und</strong><br />
Sprachwissenschaft von größter Bedeutung sind. Sie geben uns teilweise<br />
Auskunft, wie die bäuerliche Bevölkerung der ladinischen Täler vor 100 bis 200<br />
Jahren gelebt <strong>und</strong> gedacht hat. Andererseits dokumentieren sie einen Sprachstand,<br />
der im Ladinischen aufgr<strong>und</strong> des Fehlens einer retardierend wirkenden<br />
schriftlichen Norm zum Teil erheblich vom heutigen abweichen kann.<br />
Die auf Ladinisch verfassten literarischen Texte nehmen ab der Mitte des<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>erts zwar rapide zu, doch der erste Beweggr<strong>und</strong> für das Verfassen<br />
von ladinischen Texten blieb noch lange Zeit religiöser <strong>und</strong> moralisch-erzieherischer<br />
Natur. Es handelt sich hierbei zum größten Teil um Gelegenheitsdichtung,<br />
die vor allem mit dem kirchlichen Leben der Bevölkerung zusammenhängt<br />
(v.a. Primiz- <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>izgedichte). In einigen Fällen erreichen diese<br />
Reime aber einen recht hohen Grad an literarischer Ästhetik.<br />
Allein im Fassatal hat sich ein ladinisches Theater aus der Tradition der Commedia<br />
dell’Arte einen Weg gebahnt. Von Don Giosef Brunel (1826–1892) aus<br />
Soraga kennen wir Burlesken <strong>und</strong> Farsen, die in baschìes, humoristische Theaterstücke,<br />
die den Brautleuten am Ausgang der Kirche gespielt werden, <strong>und</strong><br />
mascherèdes, die nach uralter Tradition der lateinischen Komödie im Fasching<br />
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