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Westeuropäische Linke und "dritter Weg" - Berliner Institut für ...

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Phtlosophie 437<br />

genüber will Lakatos zeigen, daß es in der .inhaltllchen Mathematik ... eine reichhaltige<br />

Situationslogik der arbeitenden Mathematiker. gibt (ebd.) <strong>und</strong> daß solche .inhaltliche,<br />

quasi-empirische Mathematik nicht durch die andauernde Vermehrung der Zahl unbezweifelbar<br />

begründeter Sätze wächst, sondern durch die unaufhörliche Verbesserung<br />

von Vermutungen durch Spekulation <strong>und</strong> Kritik. (XII).<br />

Eingelöst wird dieser Anspruch in der Darstellung einer illustren Abfolge von Beweisen,<br />

Gegenbeispielen <strong>und</strong> neuen Beweisen des .Eulerschen Polyedersatzes« sowie in<br />

wissenschaftstheoretischen Interpretationen dieser Entwicklung unter den Aspekten des<br />

.Gehalts«, der .Strenge«, der .Begriffsbildung« <strong>und</strong> des Verhältnisses von .mathematischer<br />

<strong>und</strong> logischer Wahrheit •. Lakatos will die Herausbildung <strong>und</strong> die Funktionsweise<br />

des heuristischen Vorgehens der .Beweise <strong>und</strong> Widerlegungen« (vgl. die Zusammenfassung<br />

119f.) zeigen, das seiner Auffassung nach die Entwicklung der Mathematik optimal<br />

befördert. Seine Devise lautet prägnant im Englischen .improving by proving« (6):<br />

Beweise haben heuristische Funktion, sie sind Schritte in der Entwicklung mathematischer<br />

Theorien. In der Abfolge der verschiedenen Beweisversuche entwickelt Lakatos<br />

seine dem traditionellen Beweisverständnis - Beweise sind die Sicherung endgültiger<br />

Wahrheit - entgegengesetzte Sichtweise: Beweise sind Erklärungen (62ff.). Auch mathematisches<br />

Wissen hat kein absolut sicheres F<strong>und</strong>ament, es ist ständiger Revision untetworfen.<br />

Wir neigen dazu, diese zu übersehen, weil die Wärter gleichbleiben, nur ihre<br />

Bedeutung sich verändert durch die Verschiebungen <strong>und</strong> Brüche des Netzwerks der<br />

Begriffe insgesamt.<br />

Die .Logik der Beweise <strong>und</strong> Widerlegungen« ist selbst ein spätes Produkt der mathematischen<br />

Forschung, zum erstenmal bewußt formuliert von Seidel 1847 (43, 128). Seine<br />

Herausbildung wurde durch die Vorherrschaft der .Euklidischen Methodologie« behindert,<br />

in der mathematische Entwicklung als Aufeinanderhäufen wahrer Sätze, gesichert<br />

durch endgültige Beweise aus evidenten (oder sonstwie unbehagten) Axiomen,<br />

aufgefaßt wird.<br />

Der Satz von Euler, dessen .rationale Rekonstruktion« Lakatos darstellt, ist eine elementare<br />

Beziehung zwischen der Anzahl von Ecken, Kanten <strong>und</strong> Flächen eines Polyeders:<br />

daher ist das Buch (bis auf einige Seiten des Anhangs) ohne jede mathematische<br />

Vorkenntnis verständlich. Zu den wissenschaftstheoretischen kommen die literarischen<br />

Qualitäten des Buches: Der Leser wird hineingezogen in die Diskussion elIler Schulklasse<br />

(einer ziemlich fortgeschrittenen), deren überschäumende Fülle überraschender Uminterpretationen<br />

<strong>und</strong> ironischer Anspielungen er beim ersten Lesen kaum erfassen kann.<br />

Die wichtigste Konsequenz des Buches wurde von W. Berkson (Essays in memory of<br />

1. Lakatos, Ed. Cohen et al., Dordrecht 1976, S. 47) formuliert: Im Gegensatz zum<br />

herrschenden Vorurteil kann es auch <strong>für</strong> die Mathematik .keine scharfe Grenze geben<br />

zwischen der Geschichte eines Gegenstands <strong>und</strong> dem Gegenstand selbst«. Das .Alltagsbewußtsein.<br />

über Mathematik sieht die mathematischen Sätze als unabhängig von der<br />

wirklichen Praxis der Theoretiker, erst recht als unabhängig von materieller Praxis gültige<br />

Wahrheit, nur der Herrschaft logischer Gesetze untetworfen, die selbst eine von dieser<br />

Praxis unabhängige Existenz haben. Konsequenzen von Lakatos' Angriff auf diese<br />

Sichtweise <strong>für</strong> die Vermittlung der Mathematik werden von ihm selbst angedeutet<br />

(.heuristischer. statt .deduktivistischef« Stil [134]), auch in politischer Dimension: •...<br />

die gegenwärtige mathematische <strong>und</strong> natutwissenschaftliche Ausbildung Ist eine Brutstätte<br />

des Autoritätsdenkens ...• (135). - Lakatos hat auch seine Borniertheiten. Etwa<br />

die (.quasi-empiristische.) Reduktion der Dynamik auf das Finden oder Konstruieren<br />

von Gegenbeispielen, analog den .falsifizierenden Experimenten. in der Popperschen<br />

Wissenschaftstheorie. In .proofs and refutations« sind ja noch nicht einmal die Modifikationen<br />

des .Falsifikationismus« berücksichtigt, die Lakatos selbst mit seiner .Methodologie<br />

der Forschungsprogramme« eingeführt hat. Gerhard Herrgott (Berlin/West)<br />

DAS ARGUMENT 121/1980 ©

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