Westeuropäische Linke und "dritter Weg" - Berliner Institut für ...
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Thesen zur gegenwärtigen Situation der Germanistik 409<br />
schrittlichen E-Literatur-Werke der Vergangenheit in einem produktiven Sinne auf die<br />
'Jetztzeit' zu beziehen (<strong>und</strong> sie zugleich als unverzichtbaren Maßstab beizubehalten)<br />
- oder sie bedienten sich der Erkenntnisse der Kritischen Theorie eines Adorno <strong>und</strong><br />
Horkheimer <strong>und</strong> sahen das 'avantgardistische' Element vornehmlich in der bewußten<br />
Un- oder Schwerverständlichkeit jener modernen Kunstwerke. die sich vor jeder ideologischen<br />
Indiensrnahme hermetisch abzuschließen versuchen.<br />
Zugegeben: beides waren anfangs höchst einflußreiche Strömungen. die jedoch wegen<br />
ihres Insistierens auf bestimmten 'E-Literatur' -Vorstellungen um 1970 schnell von<br />
anderen Gruppen überholt wurden, welche wesentlich kulturrevolutionärer <strong>und</strong> damit<br />
'radikaler' auftraten. Was sich hier in den Vordergr<strong>und</strong> schob, war die Idee einer Suboder<br />
Gegenkultur, mit der man alle Formen der bisherigen oder gegenwärtigen E<br />
Literatur - im Zeichen Marcuses - als Manifestationen 'affirmativer' Kultur zu denunzieren<br />
versuchte. Diese Richtung begann mit einer rücksichtslosen Verwerfung des<br />
gesamten literarischen 'Erbes'2, wandte sich dann einer kritischen Untersuchung der<br />
heutigen Massenmedien (Fernsehen, »Bild«-Zeitung usw.) zu <strong>und</strong> ging schließlich dazu<br />
über, die verschütteten Traditionen verschiedener 'zweiter' oder '<strong>dritter</strong>' Literaturen<br />
(Arbeiter, Frauen, Kinder, Minderheiten) aufzuarbeiten, um von dort her Ansätze zu<br />
einer Gegenöffentlichkeit innerhalb des offiziellen Kulturbetriebs zu entwickeln <strong>und</strong><br />
so die fatale Antinomie von E- <strong>und</strong> U-Literatur auseinanderzusprengen. Während die<br />
von Brecht/Benjamin <strong>und</strong> Adorno/Horkheimer herkommenden Tendenzen innerhalb<br />
der linken Germanistik weitgehend aufs Akademische bezogen blieben, hofften diese<br />
Gruppen, stärker ins Demokratische oder Demokratisierende vorzustoßen, indem sie<br />
sich weniger an die ästhetischen als an die gesellschaftlichen <strong>und</strong> politischen Bedürfnisse<br />
breiterer außeruniversitärer Schichten wandten. Daß dies - vor allem in den Anfängen<br />
- zu einer deutlichen Romantisierung, ja Fetischisierung gewisser Klassen oder sozialer<br />
Randgruppen führen mußte, war bei dem mangelnden Realitätsbezug eines Faches<br />
wie Germanistik unschwer vorauszusehen. Und auch die Rückschläge, Enttäuschungen<br />
<strong>und</strong> Frustrierungen, die sich nach 1971/72 einstellten, sollten niemanden<br />
verw<strong>und</strong>ern. Denn so schnell, wie sich das manche vorgestellt hatten, waren die von der<br />
Bourgeoisie aufgerichteten Bildungsbarrieren nun doch nicht zu überspringen.<br />
Was daher die gegenwärtige Situation des linken Flügels der Germanistik - soweit<br />
er noch sichtbar in Erscheinung tritt - charakterisiert, ist eine immer deutlicher werdende<br />
Abwendung von der ehemals weitverbreiteten These, nach der alle bürgerliche<br />
Literatur von vornherein zu verwerfen sei, da sie einen eindeutig 'affirmativen' Charakter<br />
habe. Diese Abwendung hat selbstverständlich verschiedene Ursachen <strong>und</strong> läßt sich<br />
nicht einfach ins Monokausale reduzieren. Zum einen kommt darin eine wohlbegründete<br />
Furcht vor jener Repression zum Ausdruck, die sich mit Schlagworten wie 'Tendenzwende'<br />
<strong>und</strong> 'Sympathisantenhetze' umreißen läßt. Zum anderen äußert sich in<br />
dieser Abwendung von radikalen Gegenkulturkonzepten eine wesentlich nüchternere<br />
Einschätzung des gegenwärtigen Literaturbetriebs, dessen E- <strong>und</strong> U-Kunst-Orientierung<br />
nun einmal so tief im System verankert ist, daß ihr eine bloße Kulturrevolution<br />
nichts anhaben kann. Allerdings hat dieser Verzicht auf eine wirkliche Strukturveränderung,<br />
dem sich große Teile der linken Germanistik schließlich widerwillig anbequemten,<br />
nicht sofort zu einer Restaurierung des älteren Literaturkanons <strong>und</strong> der mit ihm<br />
verb<strong>und</strong>enen Interpretationsmethoden geführt. Dieses Geschäft besorgen wie eh <strong>und</strong><br />
je die Rechtenl, obwohl auch sie von den Ereignissen der letzten fünfzehn Jahre nicht<br />
DAS ARGUMENT 12111980 (~