Westeuropäische Linke und "dritter Weg" - Berliner Institut für ...

Koloniale und faschistische Gewaltformen 383
festellbar. Dem besonderen Charakter dieser Durchsetzung innerhalb dieser Staaten
liegt der Spannungszustand zwischen hochkonzentriertem und zentralisiertem industriellen
Kapital und einer nur formell überlagerten traditionellen Agrarstruktur zugrunde.
Dieser Spannungszustand ist mit dem Begriff der »relativen Rückständigkeit«
(Gerschenkrohn 1973) unzureichend, wenn nicht gar falsch beschrieben. Vielmehr sind
diese Länder angesichts der Gleichzeitigkeit der Entfaltung von Weltmarkt und Nationalstaat
(England 1 Frankreich) als ungleichzeitige zu erfassen. Der strukturellen Wirklichkeit
als historischer Möglichkeit des Gewalttransfers liegt also die Ungleichzeitigkeit
der Entwicklungsphasen zugrunde, welche schließlich in die htStonsche Wirklichkeit faschistischer
Gewaltformen einmündet.
Diese ungleIchzeitigen Entwicklungsphasen bewegen sich in folgenden Raumstufen:
a) Die allgemeine Expansion der Industriestaaten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
konstituierte endgültig eine »Weltarbeitseinteilung«, d.h. Metropole und Peripherie
(Imperialismus). Diese Entwicklung der Unterentwicklung kann auch als
Entwicklung der Ungleichzeitigkeit im Weitmaßstab bezeichnet werden.
b) Die Spannung »verfrühter« oder »verspäteter« Expansion auf dem Weltmarkt schaffte
zugleich eine Ungleichzeitigkeit im europäIschen Maßstab (Spanien (Portugal -
Deutsches Reich, Italien).
c) Da der Weltmarkt die Konstitution und Vermittlung der Nationalstaaten betrieb
und betreibt, hatte das »verfrühte« oder »verspätete« Auftauchen eine Unglelchzeitigkeit
der Entwicklung innerhalb dieser Staaten bewirkt. (Italien Nord-Süd-Problem;
deursches »Ost-West«-Problem; Spanien: Katalonien, Baskenland, Andalusien;
portugiesisches Süd-Nord-Problem, wobei die geographischen Grenzen nur
innerökonomische Disparität ausdrücken).
d) Der Versuch, die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in diesen Industriestaaten
durch enorme Steigerung der Arbeitsproduktivität, Rohstoffimport und Kapitalexport
aufzuheben ebenso wie die Agrarfrage durch Siedlungsprojekte zu exportieren,
scheiterte durch die Unergiebigkeit der jeweiligen Kolonialgebiete (Deutsches
Reich: Süd-West/Ostafrika; Italien: Eritrea, Lybien; Japan: Mandschurei). Besonders
für Deutschland war das Scheitern durch das Ergebnis des ersten Weltkrieges
offensichtlich geworden (Schmitt-Egner 1975, 78-92).
e) Aus diesem Grund verlagerte sich in den »zu spät gekommenen« Industriestaaten
(Europas)8 die Perspektive nach dem »Osten«, nachdem der Süden die erhoffte Entwicklungslösung
nicht gebracht hatte. Diese vierte Form der Peripherie soll hier als
.Kontinentale Ersatzpenpherie« bezeichnet werden (Deutsches Reich: Baltikum,
Ukraine, Südosten; Italien: Südtirol, Fiume, Balkanstaaten etc.).
Mit der Abtrennung oder auch Desillusionierung (Italien) von der Südperipherie
entsprang aus dem ökonomischen Rückstau zugleich ein sozialer, der die Hoffnungen
auf bodenständige Existenzen zerstörte und andere Alternativen auf die Tagesordnung
setzte. So konstituierte sich aus der konkreten historischen Situation der Jahre 1919/23
unser historisches Subjekt einerseits aus der Südperipherie (Führung), andererseits aus
der Ostperipherie (Geführte). Die Erfahrung des Lebensraums im Osten verschmolz also
in dieser spezifischen Situation mit der Erfahrung des Lebensraums im Süden und
rekrutierte dadurch den aktiven Kern der späteren faschistischen Massenbewegung.
Diese Verschmelzung offenbart sich in den politischen Biographien der im Samble genannten
Kolonialoffiziere. Das histonsehe Objekt als Gewaltobjekt (politische Form
DAS ARGUMENT 12111980 ©