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Westeuropäische Linke und "dritter Weg" - Berliner Institut für ...

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410 Jost Hermand<br />

ganz unbeeinflußt geblieben sind <strong>und</strong> nicht einfach zu jenen Formen einer existentialistischen,<br />

religiös-gefärbten, formalistischen oder kunstschmusenden Literaturbetrachtung<br />

zurückkehrten, die in der 'guten alten Zeit' der Adenauer-Ära gang <strong>und</strong> gebe waren.<br />

Selbst sie gehen heute verstärkt auf historische, sozialgeschichtliche, ja sogar politische<br />

Zusammenhänge ein, versehen diese allerdings mit einem anderen Vorzeichen.<br />

Die Schrumpfungs- <strong>und</strong> Veränderungsprozesse auf dem linken Flügel der Germanistik<br />

verlaufen dagegen wesentlich komplizierter. Auf den ersten Blick sieht hier manches<br />

nach einem Einschwenken auf einen mittleren Kurs, also fast nach Konvergenz<br />

aus. Schließlich bevorzugen selbst viele Vertreter dieser Richtung wieder das Konventionellere<br />

<strong>und</strong> lassen in Kanon <strong>und</strong> Methode das 'Radikalere' mehr <strong>und</strong> mehr beiseite.<br />

Sogar in ihren Schriften ist plötzlich viel von jenem 'subjektiven Faktor' die Rede, den<br />

bisher lediglich die Rechten akzentuiert hatten. Selbst in diesen Bereichen spricht man<br />

in zunehmendem Maße von seelischen Bedürfnissen, ästhetischer Sensibilität, ja Möglichkeiten<br />

gesteigerter Selbstrealisierung - sieht jedoch all diese Dinge wesentlich unmittelbarer,<br />

auf den tatsächlichen 'Lebenszusammenhang' bezogen. Bei genauerem<br />

Zusehen meint also die Subjektivität der einen durchaus nicht das gleiche wie die Subjektivität<br />

der anderen. Was nämlich bei den Rechten innerhalb der Germanistik - im<br />

Zuge der steigenden Subjektivierung <strong>und</strong> Sensibilisierung - zu einer verstärkten Hinwendung<br />

zum Kunstwerk geführt hat. zielt bei den <strong>Linke</strong>n - durch die größere Betonung<br />

des 'Lebenszusammenhanges' - eher in die entgegengesetzte Richtung: in den<br />

Alltag der zwischenmenschlichen Beziehungen <strong>und</strong> unmittelbar erfahrenen Lebensumstände,<br />

das heißt zu psychologischen, soziologischen, pädagogischen, feministischen,<br />

ökologischen Fragestellungen - <strong>und</strong> damit vom Kunstwerk weg.<br />

In manchen Punkten ist sich also diese <strong>Linke</strong> durchaus treu geblieben - vor allem<br />

darin, daß sie weiterhin die Frage nach der Relevanz ihres Tuns stellt <strong>und</strong> das literaturtheoretisch<br />

Vertretene auch in die eigene Lebenspraxis umzusetzen versucht. Allerdings<br />

heißt diese Praxis heute kaum noch Basisarbeit, ja nicht einmal mehr Mitarbeit in den<br />

'Werkkreisen' , sondern weitgehend 'Lebenspraxis' . Damit ist zwar vieles aufgegeben,<br />

aber auch manches gewonnen worden. Denn die Realität der Arbeiterklasse ist doch<br />

den meisten dieser Germanisten. die aus bürgerlichen Verhältnissen stammen, zum<br />

großen Teil fremd <strong>und</strong> irrelevant geblieben. Über ihre eigenen 'Lebenszusammenhänge'<br />

zu diskutieren <strong>und</strong> auch darüber zu schreiben, interessierte sie deshalb viel unmittelbarer.<br />

Im Rahmen solcher Beschäftigungen konnten sie sich engagiert vorkommen,<br />

ohne dabei das Gefühl des Fremden, Angelesenen <strong>und</strong> im weitesten Sinne Unerlebten<br />

zu haben. Und das mußte sich auf die Dauer - bei mangelnden Kollektiverfahrungen<br />

- höchst anziehend auswirken.<br />

Durch diese Umorientierung fühlen sich viele der linken Germanisten - trotz mancher<br />

beruflichen Ängste <strong>und</strong> ideologischen Verunsicherungen - seit einigen Jahren<br />

wieder etwas wohler in ihrer Haut. Die These des 'unmittelbaren Lebenszusammenhanges'<br />

hat sie in dem Gefühl bestärkt, nicht mehr ständig <strong>für</strong> etwas Theoretisches,<br />

Abstraktes, Proletarisches eintreten zu müssen. Im Gegensatz zu solchen 'Fremdbestimmungen'<br />

, wie sie es nennen, liefert ihnen die Parole vom unmittelbaren Lebenszusammenhang<br />

alles, was sie zur Konkretisierung ihrer eigenen Bedürfnisse brauchen<br />

<strong>und</strong> verleiht ihnen somit wenigstens psychologisch eine neue Sicherheit. Abgestoßen<br />

von den revisionistischen Praktiken der Sozialdemokraten <strong>und</strong> Gewerkschaften, enttäuscht,<br />

doch nicht auf die Arbeiterklasse eingewirkt zu haben, entsetzt über die rapide<br />

DAS ARGUMENT 12111980

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