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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

durch die staatlichen Strukturen erheblich<br />

e<strong>in</strong>geschränkt: An<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

hatte das OG e<strong>in</strong>e Aufsichtsfunktion<br />

über die Untergerichte (§ 55 Abs. 2 GVG-<br />

<strong>DDR</strong>); se<strong>in</strong>e Richtl<strong>in</strong>ien waren daher für alle<br />

unteren Instanzen verb<strong>in</strong>dlich (§ 58 GVG-<br />

<strong>DDR</strong>). Der Rechtspflegeerlass von 1963 strich<br />

die beson<strong>der</strong>e Leitungsfunktion des OG noch<br />

e<strong>in</strong>mal deutlich heraus. 25 Das OG <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

konnte Entscheidungen <strong>der</strong> oberen Gerichte<br />

aufheben, wenn sie se<strong>in</strong>en Richtl<strong>in</strong>ien nicht<br />

entsprachen („Kassation“). Nach <strong>der</strong> Verfassung<br />

von 1968 konnte auch <strong>der</strong> Staatsrat<br />

die Verfassung und die Gesetze verb<strong>in</strong>dlich<br />

auslegen und hatte damit Befugnisse, die<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gewaltenteiligen Staat <strong>der</strong> Justiz<br />

vorbehalten s<strong>in</strong>d (Art. 71 Abs. 3 Verf. 1968);<br />

diese Kompetenz wurde ihm mit <strong>der</strong> Verfassungsreform<br />

1974 wie<strong>der</strong> entzogen.<br />

Die Richter des OG waren ihrerseits e<strong>in</strong>er<br />

erheblichen politischen Kontrolle ausgesetzt:<br />

Nach <strong>der</strong> Verfassung von 1949 konnten sie<br />

bei Rechtsverstößen und Pflichtverletzungen<br />

je<strong>der</strong> Art von <strong>der</strong> Volkskammer abberufen<br />

werden (Art. 132 Abs. 1). Der Staat nahm<br />

auch ihnen gegenüber e<strong>in</strong>e Erziehungsaufgabe<br />

für sich <strong>in</strong> Anspruch. 26 Nach den<br />

Verfassungen von 1968 und 1974 stand das<br />

OG unter <strong>der</strong> unmittelbaren Aufsicht des<br />

Staatsrats (Art. 74 Verf. 1968/1974). Die<br />

Rechtspflege diente nach Art. 90 Abs. 1 Verf.<br />

1968/1974 nicht <strong>der</strong> unabhängigen Kontrolle<br />

des staatlichen Rechts, son<strong>der</strong>n „<strong>der</strong> Durchführung<br />

<strong>der</strong> sozialistischen Gesetzlichkeit,<br />

dem Schutz und <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

und ihrer Staats- und Gesellschaftsordnung“.<br />

Zudem konnten <strong>der</strong> Staatsrat (Art. 89 Abs. 3<br />

Verf. 1968) bzw. die Volkskammer (Art. 89<br />

Abs. 3 Verf. 1974, siehe auch Art. 66 Verf.<br />

1949) über die Verfassungsmäßigkeit des<br />

e<strong>in</strong>fachen Rechts entscheiden und nahmen<br />

damit Aufgaben wahr, die im gewaltenteiligen<br />

Staat üblicherweise <strong>der</strong> Gerichtsbarkeit<br />

zukommen.<br />

Auch e<strong>in</strong>e freie Diskussion <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong><br />

Rechtswissenschaft gab es <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> schon<br />

seit den 1950er-Jahren nicht mehr. Die Freiheit<br />

<strong>der</strong> Wissenschaft war <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verfassung<br />

25 GBl. 1963, 23.<br />

26 Benjam<strong>in</strong> 1958, 510.<br />

von 1949 noch gewährleistet (Art. 34 Verf.<br />

1949). Bezogen auf die Rechtswissenschaften<br />

aber machte Justizm<strong>in</strong>ister<strong>in</strong> Benjam<strong>in</strong><br />

schon <strong>in</strong> den 1950er-Jahren deutlich, dass<br />

sie sich parteilich dem Aufbau des Sozialismus<br />

zuverschreiben hatte. 27 In den Verfassungstexten<br />

von 1968 und 1974 tauchen die<br />

Begriffe „Freiheit“ und „Recht“ im Zusammenhang<br />

mit <strong>der</strong> Wissenschaft nicht mehr<br />

auf. Mit unterschiedlichen Formulierungen<br />

wird nunmehr nur noch die „För<strong>der</strong>ung“ <strong>der</strong><br />

Wissenschaft angekündigt, und diese hat<br />

wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong> klares Ziel: die wissenschaftlich-technische<br />

Revolution und den Fortschritt<br />

<strong>der</strong> sozialis tischen Gesellschaft (Art.<br />

17 Abs. 1, 3 Verf. 1968, Art. 17 Abs. 1 Verf.<br />

1974). Dementsprechend wurde die veröffentlichte<br />

juristische Literatur vor allem von<br />

den zuständigen M<strong>in</strong>isterien herausgegeben<br />

und hat den Charakter von Handreichungen<br />

und Auslegungsanweisungen an die ausführenden<br />

Organe. 28<br />

H<strong>in</strong>zu kommt, dass es <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> überhaupt<br />

ke<strong>in</strong>e freie öffentliche Diskussion gab,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> das Rechtssystem von e<strong>in</strong>em grundsätzlichen<br />

Standpunkt aus hätte kritisiert<br />

werden können. Auch die öffentliche Me<strong>in</strong>ung<br />

konnte daher ke<strong>in</strong>e Anstöße für Verän<strong>der</strong>ungen<br />

des Rechts o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Rechtspraxis<br />

geben.<br />

2.7 Grund- und Menschenrechte,<br />

rechtsstaatliche Pr<strong>in</strong>zipien<br />

Bleibt die Frage, ob es <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> höherrangiges<br />

Recht auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Verfassung<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Konventionen gab,<br />

das bei <strong>der</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />

hätte beachtet werden müssen. Auf diese<br />

Frage wird <strong>in</strong> Kap. 6 noch e<strong>in</strong>mal ausführlich<br />

e<strong>in</strong>gegangen, wenn es um die Unrechtsbewertung<br />

geht. An dieser Stelle wird nur<br />

kurz erläutert, wie die Staatsführung und<br />

die Rechtswissenschaft <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> die verfassungsrechtlichen<br />

Gewährleistungen und die<br />

<strong>in</strong>ternationalen Menschenrechtsdokumente<br />

<strong>in</strong> ihre eigene Rechtsauffassung <strong>in</strong>tegrierten.<br />

27 Benjam<strong>in</strong> 1958, 510.<br />

28 Siehe zur Rechtswissenschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

ausführlich Stolleis 2009, 63 ff., 121 ff.<br />

2.7.1 Grundrechte als Mitwirkungs- o<strong>der</strong><br />

Gestaltungsrechte<br />

Mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> im Jahr 1949<br />

wurde die erste Verfassung verabschiedet,<br />

die im Jahr 1968 durch e<strong>in</strong>e neue Verfassung<br />

ersetzt wurde. Diese Verfassung von<br />

1968 wurde 1974 noch e<strong>in</strong>mal reformiert.<br />

Die meisten Artikel, die für die <strong>Heimerziehung</strong><br />

relevant s<strong>in</strong>d, blieben jedoch bei dieser<br />

Reform unverän<strong>der</strong>t.<br />

Alle Verfassungen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> enthielten e<strong>in</strong>e<br />

Reihe von Grundrechten, etwa die Versammlungs‌–<br />

und Me<strong>in</strong>ungsfreiheit. Auch das Erziehungsrecht<br />

<strong>der</strong> Eltern war als Grundrecht<br />

ausgestaltet. 29 In <strong>der</strong> Verfassung von 1949<br />

waren diese Grundrechte noch, ähnlich wie<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Weimarer Reichsverfassung o<strong>der</strong> auch<br />

im westdeutschen Grundgesetz, als <strong>in</strong>dividuelle<br />

Freiheitsrechte formuliert. Daraus<br />

kann man jedoch nicht schließen, dass die<br />

Grundrechte <strong>in</strong> dieser Zeit auch ähnlich wie<br />

im Westen als <strong>in</strong>dividuelle Abwehrrechte<br />

gegen staatliche E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong>terpretiert<br />

wurden. E<strong>in</strong>e solche Auslegung wurde zwar<br />

zu unterschiedlichen Zeiten aus dem Westen<br />

o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Opposition gefor<strong>der</strong>t. 30 Der<br />

rechtswissenschaftlichen Literatur <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

kann sie aber zu ke<strong>in</strong>er Zeit entnommen<br />

werden. Allenfalls wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rückschau zugestanden,<br />

dass die spezifisch sozialistische<br />

Auffassung von den Grundrechten sich <strong>in</strong><br />

den 1950er- und 1960er-Jahren erst allmählich<br />

von <strong>der</strong> traditionellen, „bürgerlichen“,<br />

<strong>in</strong>dividualistisch-abwehrrechtlichen Ansicht<br />

löste. 31 Diese Um<strong>in</strong>terpretation setzte jedoch<br />

bereits <strong>in</strong> den 1950er-Jahren e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> wichtiges<br />

Zeitzeugnis ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />

29 Art. 31 Verf. 1949: „Die Erziehung <strong>der</strong><br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu geistig und körperlich tüchtigen Menschen<br />

im Geiste <strong>der</strong> Demokratie ist das natürliche Recht<br />

<strong>der</strong> Eltern und <strong>der</strong>en oberste Pflicht gegenüber <strong>der</strong><br />

Gesellschaft.“;<br />

Art. 38 Abs. 4 Satz 1 Verf. 1968/1974: „Es ist das<br />

Recht und die vornehmste Pflicht <strong>der</strong> Eltern, ihre<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu gesunden und lebensfrohen, tüchtigen und<br />

allseitig gebildeten Menschen, zu staatsbewußten<br />

Bürgern zu erziehen.“<br />

30 Siehe Mampel 1982, Art. 19 <strong>DDR</strong>-Verf. Rn. 1.<br />

31 Vgl. Klenner 1964, 90; Krüger 1957, 181 ff.<br />

die Rede von Walter Ulbricht auf dem 5. Parteitag<br />

<strong>der</strong> SED am 10.7.1958: Dort erklärte<br />

Ulbricht, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verfassung nie<strong>der</strong>gelegten<br />

Grundrechte hätten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> e<strong>in</strong>e Umwandlung h<strong>in</strong> zu „sozialistischen<br />

Persönlichkeitsrechten“ erfahren. 32<br />

An<strong>der</strong>e Autoren sahen die sozialistischen<br />

Grundrechte nicht als Weiterentwicklung des<br />

bürgerlichen Grundrechtsverständnisses an,<br />

son<strong>der</strong>n als e<strong>in</strong>e gegensätzliche Konzeption,<br />

die sich von <strong>der</strong> Tradition gänzlich löste. 33<br />

Mit den Formulierungen „sozialistische<br />

Persönlichkeitsrechte“ und „sozialistische<br />

Grundrechte“ wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge gearbeitet,<br />

um sich von <strong>der</strong> abwehrrechtlichen Tradition<br />

<strong>der</strong> Grundrechtsgewährleistungen abzugrenzen.<br />

Grundrechte im sozialistischen Staat, so<br />

die herrschende Lesart <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, betonten<br />

stärker das Moment <strong>der</strong> Mitwirkung <strong>der</strong><br />

Bürger am Staatswesen – die Grundrechte<br />

werden darum auch als Mitwirkungs- o<strong>der</strong><br />

Gestaltungsrechte <strong>der</strong> Bürger bezeichnet. 34<br />

Die Grundrechte gewähren den Bürgern<br />

nach dieser Lesart folglich ke<strong>in</strong>en Anspruch<br />

auf Schutz vor ungerechtfertigten staatlichen<br />

E<strong>in</strong>griffen, son<strong>der</strong>n verpflichteten die<br />

Bürger auf e<strong>in</strong>e sozialistische Lebensweise. 35<br />

Wenn man auf dem Standpunkt steht, dass<br />

<strong>der</strong> sozialistische Staat die Voraussetzung für<br />

die Freiheit <strong>der</strong> Bürger ist, so kann es e<strong>in</strong>e<br />

staatsferne o<strong>der</strong> staatskritische Freiheit nicht<br />

geben. E<strong>in</strong>e private Sphäre, <strong>in</strong> die <strong>der</strong> Staat<br />

ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick hatte, die die Individuen<br />

dem Staat gar entgegensetzen durften, war<br />

<strong>in</strong> dieser Theorie systemfremd und Ausdruck<br />

e<strong>in</strong>es überkommenen Individualismus, wenn<br />

nicht gar <strong>der</strong> Willkür. 36 Selbst dort, wo die<br />

32 Ulbricht 1960 [1958], 148, und dazu Klenner<br />

1964, 103 ff.; Krüger 1957, 185 f.<br />

33 Vgl. Akademie für Rechts- und Staatswissenschaften<br />

1977, 183; Klenner 1964, 16 ff.; Poppe 1969,<br />

8.<br />

34 Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft<br />

1977, 195; Klenner 1964, 88 ff.; Poppe 1969, 7.<br />

35 Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft<br />

1977, 194: „Grundrechte und Grundpflichten<br />

sollen Maximen und Garanten e<strong>in</strong>er sozialistischen<br />

Lebensweise <strong>der</strong> Bürger se<strong>in</strong>.“ Siehe dazu auch Müller-<br />

Römer 1974, 45.<br />

36 Vgl. Klenner 1964, 98: „Im Sozialismus<br />

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