Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Was hilft ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bei <strong>der</strong> Bewältigung ihrer komplexen Traumatisierung?<br />
Menschenunwürdige Transporte<br />
Die Transporte zu den Heimen o<strong>der</strong> auch zu<br />
externen Arbeitsstellen wurden nach den<br />
Berichten <strong>der</strong> Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> häufig <strong>in</strong> speziell<br />
umgebauten Fahrzeugen mit engen, fensterlosen<br />
Verschlägen durchgeführt.<br />
„Nach e<strong>in</strong>em genehmigten Urlaub nach<br />
Hause wurde ich von zwei zivilen Personen für<br />
mich nicht nachvollziehbar abgeholt und <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>en fensterlosen B1000 ohne Gepäck, wie e<strong>in</strong><br />
Stück Vieh, <strong>in</strong> das Durchgangsheim Alt-Stralau<br />
transportiert.“<br />
Zeuge werden von traumatischen<br />
Ereignissen<br />
Die Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> wurden zwangsläufig zu<br />
Zeugen <strong>der</strong> Gewaltanwendungen und <strong>der</strong> Demütigungen<br />
gegenüber den an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />
Sie mussten Suizidversuche und auch vollendete<br />
Suizide an<strong>der</strong>er K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit ansehen.<br />
Betroffene berichten über e<strong>in</strong>en<br />
Jugendwerkhof:<br />
„Noch heute sehe ich das Bild vor mir, wie<br />
e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d sich aufgehängt hatte. Das kann ich<br />
niemals vergessen.“ O<strong>der</strong>: „Da war überall Blut,<br />
das Mädchen hatte sich die Pulsa<strong>der</strong>n aufgeschnitten.<br />
Die hatten aber ke<strong>in</strong> Mitgefühl o<strong>der</strong><br />
Verständnis, ne<strong>in</strong>, zur Strafe wurde sie dann<br />
nach Torgau e<strong>in</strong>gewiesen.“<br />
Haftähnliche Zustände<br />
Die haftähnlichen Zustände vieler Spezialheime<br />
gehören ebenfalls zu den traumatisierenden<br />
Bed<strong>in</strong>gungen. Sie wurden bereits<br />
weiter oben beschrieben.<br />
2.3.5 Angaben zu den speziellen<br />
Heimtypen<br />
In den Berichten <strong>der</strong> ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
f<strong>in</strong>den sich sehr viele ähnliche Schil<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> Heimzustände. E<strong>in</strong>e deutliche Häufung<br />
negativer Heimbed<strong>in</strong>gungen lässt sich bei<br />
den Darstellungen über die Durchgangsheime,<br />
über e<strong>in</strong>ige Jugendwerkhöfe und<br />
Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heime feststellen.<br />
Aufnahmeheime und Durchgangsheime<br />
Die Zustände <strong>in</strong> den Durchgangsheimen<br />
werden von allen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n als beson<strong>der</strong>s<br />
drastisch und belastend beschrieben.<br />
Die Gebäude waren alt, marode und die<br />
Zustände immer haftähnlich. Die Heime<br />
waren geschlossen, die Fenster m<strong>in</strong>destens<br />
bis zum ersten Stock vergittert, umgeben<br />
von Mauern, Zäunen, zur Kontrolle waren<br />
Türspione e<strong>in</strong>gebaut. Zur Durchführung<br />
von Strafen gehörten Arrestzellen hier zum<br />
Standard. Es werden oft katastrophale hygienische<br />
Bed<strong>in</strong>gungen geschil<strong>der</strong>t, beson<strong>der</strong>s<br />
jüngere K<strong>in</strong><strong>der</strong> seien nicht ausreichend<br />
gepflegt worden, gar verwurmt gewesen.<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> sollten ab dem 4. Lebensjahr eigentlich<br />
nur kurzfristig, für ca. zwei Wochen<br />
aufgenommen werden, bevor sie <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e<br />
Heime verlegt wurden. Aus Kapazitätsmangel<br />
an Heimplätzen wurde die vorgesehene<br />
Zeit aber oft dramatisch überschritten. Nach<br />
den Berichten ist aus dem Durchgangsheim<br />
Freienwalde bekannt, dass dort e<strong>in</strong> dreijähriger<br />
Junge über Monate untergebracht worden<br />
sei. Aufenthalte von drei bis vier Monaten<br />
werden häufig benannt, sogar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Fall<br />
e<strong>in</strong>e Unterbr<strong>in</strong>gung über neun Monate. In<br />
zwei Fällen (die Eltern waren <strong>in</strong> den Westen<br />
geflohen) verbrachten die K<strong>in</strong><strong>der</strong> zwischen<br />
fünf und sechs Monate <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Durchgangsheim.<br />
Aufgrund <strong>der</strong> vorgesehenen<br />
kurzen Verweildauer waren die Heime nicht<br />
für längere Aufenthalte e<strong>in</strong>gerichtet und<br />
das Heimprogramm auch nicht auf längere<br />
Aufenthalte e<strong>in</strong>gestellt, e<strong>in</strong> Schulunterricht<br />
war deshalb nicht vorgesehen. Ersatzweise<br />
wurden höchstens e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> <strong>der</strong> Woche vier<br />
Stunden Schulunterricht <strong>in</strong> den Fächern<br />
Staatsbürgerkunde, Geschichte, Mathematik<br />
angeboten. Bei längeren Aufenthalten entstanden<br />
so massive Wissenslücken bei den<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, die sie nie mehr aufholen konnten.<br />
Es gab ke<strong>in</strong> ausreichendes Spielmaterial,<br />
beschäftigt wurden die K<strong>in</strong><strong>der</strong> durch die<br />
Verrichtung körperlicher Arbeit, entwe<strong>der</strong><br />
für die E<strong>in</strong>richtung o<strong>der</strong> für Betriebe, sie<br />
erhielten ke<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> nur wenig Entlohnung.<br />
Als Beispiele werden von Betroffenen z. B.<br />
die Herstellung von Lippenstiften o<strong>der</strong> von<br />
Möbeln für Ikea benannt. Der Umgang im<br />
Heim bestand aus beson<strong>der</strong>s hartem militärischen<br />
Drill, ständiger Politerziehung, Kollektiverziehung.<br />
Es werden von den Betroffenen<br />
viele <strong>der</strong> bereits aufgeführten traumatisierenden<br />
Bed<strong>in</strong>gungen und beson<strong>der</strong>s harte<br />
Strafen geschil<strong>der</strong>t.<br />
E<strong>in</strong>e Betroffene berichtet:<br />
„Im Durchgangsheim s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>e Tattoos mit<br />
e<strong>in</strong>er Wurzelbürste entfernt worden, sie wurden<br />
quasi abgeschrubbt, bei an<strong>der</strong>en hat man sie<br />
auch operativ entfernt.“<br />
Über das Durchgangsheim Freienwalde<br />
berichtet Frau Morawe, dass es bis 1968<br />
e<strong>in</strong> Kreisgerichtsgefängnis war, bevor es<br />
ohne Umbau als D-Heim genutzt wurde. Es<br />
gab deshalb mehrere Arrestzellen auf je<strong>der</strong><br />
Etage, ausgestattet nur mit e<strong>in</strong>em Kübel für<br />
die Notdurft. Das Gebäude war geschlossen,<br />
die Fenster vergittert, wie <strong>in</strong> den früheren<br />
Gefängniszeiten. Auf <strong>der</strong> Tagesordnung<br />
standen Gewaltausübung durch die Erzieher<br />
und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe, Kollektivstrafen, ständige<br />
Schikanen, wenig emotionale Zuwendung,<br />
drastische Strafen. Hier herrschten haftähnliche<br />
Zustände, vergleichbar mit denen im<br />
Jugendwerkhof Torgau.<br />
E<strong>in</strong>e Betroffene berichtet zum Durchgangsheim<br />
Bad Freienwalde:<br />
„Nach drei Tagen E<strong>in</strong>gangsarrest kam ich zu<br />
den an<strong>der</strong>en. Der Aufenthaltsraum war nur<br />
e<strong>in</strong>e etwas größere Zelle. Die Fenster waren wie<br />
<strong>in</strong> allen Räumen vergittert. Die Türen wurden<br />
verriegelt und verschlossen.“<br />
Betroffenenbericht über die Durchgangsheime<br />
Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), Leipzig,<br />
Halle, Magdeburg, Berl<strong>in</strong> und Dresden, mehrere<br />
Aufenthalte <strong>in</strong> den 80er-Jahren:<br />
„Den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n war zu ke<strong>in</strong>er Zeit e<strong>in</strong>e Freistunde,<br />
also e<strong>in</strong> Aufenthalt im Freien, gestattet,<br />
so waren K<strong>in</strong><strong>der</strong> bis zu drei Monate am Stück<br />
nur <strong>in</strong> ihren Zellen und Gruppenräumen untergebracht.<br />
Die Verschickung erfolgte mit entsprechenden<br />
um- und ausgebauten Barkas-Bussen,<br />
die e<strong>in</strong>e Flucht quasi unmöglich machten. K<strong>in</strong><strong>der</strong>,<br />
welche länger als e<strong>in</strong>e Woche dort verbleiben<br />
mussten, bekamen Anstaltskleidung, diese war<br />
entsprechend schäbig, sodass unterwegs jedem<br />
Passanten solch e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d aufgefallen wäre und es<br />
somit leichter wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zufangen war. Besucher<br />
durften nicht empfangen werden. In <strong>der</strong> Regel<br />
benachrichtigte die Jugendhilfe bei Verlegung die<br />
Eltern über den Verbleib <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Die Formen<br />
<strong>der</strong> Bestrafungen bestanden <strong>in</strong> Schlägen, Fesselungen,<br />
Schlägen im gefesselten Zustand, Essensund<br />
Tr<strong>in</strong>kzwang, Essens- und Tr<strong>in</strong>kentzug,<br />
stundenlangem Strammstehen, <strong>in</strong> diversen Re<strong>in</strong>igungsarbeiten<br />
o<strong>der</strong> Arrest bis Dunkel-Arrest.“<br />
Damals 13-jährige Betroffene über das<br />
Durchgangsheim Alt-Stralau Berl<strong>in</strong>:<br />
„Ich wurde geschubst, angeschrien, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Zelle weggeschlossen. Über mehrere Tage verlor<br />
ich die Orientierung und Hoffnung, nur festgesetzte<br />
Toilettengänge, dabei musste ich sogar die<br />
Damenb<strong>in</strong>de vorzeigen. Zum Essen ließ man mir<br />
nur 15 M<strong>in</strong>uten Zeit. Die Frage, warum b<strong>in</strong> ich<br />
hier, zerfraß mich <strong>in</strong>nerlich.“<br />
Beispiel für das Aufnahmeheim Eilenburg,<br />
Frau Hottenrott berichtet:<br />
„Es hatte mehrere Funktionen, die e<strong>in</strong>es<br />
Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimes, e<strong>in</strong>es Jugendwerkhofes für<br />
Mädchen und als Aufnahmeheim. Die Planung<br />
war, dass die K<strong>in</strong><strong>der</strong> hier erst alle untersucht<br />
und diagnostiziert werden sollten, über e<strong>in</strong>en<br />
Zeitraum von sechs Monaten, bevor sie <strong>in</strong> Heime<br />
über die ganze <strong>DDR</strong> verteilt wurden. Da dieser<br />
Plan <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise funktionierte, wurde die<br />
Verteilung nur noch nach Aktenlage vorgenommen,<br />
nach freien Plätzen und nicht auf die<br />
Probleme <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> ausgerichtet. Das Heim war<br />
nicht direkt geschlossen, aber über den Ausgang<br />
wurde genau Buch geführt, mit sehr strengen<br />
Kontrollen, die K<strong>in</strong><strong>der</strong> durften sich auch nicht<br />
frei auf dem Gelände bewegen o<strong>der</strong> von Haus zu<br />
Haus gehen. Es wurde auch sehr genau überwacht,<br />
wer zu Besuchen kam, e<strong>in</strong> sogenanntes<br />
Elternbuch geführt. Die Jugendlichen mussten <strong>in</strong><br />
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