Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
e<strong>in</strong>es Verteidigers (§ 42 Abs. 2 Satz 2).<br />
Die Entscheidung für die Heime<strong>in</strong>weisung<br />
erfolgte im Urteil des Strafgerichts (§ 9 Abs. 2<br />
JGG-<strong>DDR</strong>).<br />
(2) Voraussetzungen<br />
Strafmündig waren Jugendliche ab 14 Jahren<br />
(§ 1 JGG). Nach § 4 JGG-<strong>DDR</strong> musste darüber<br />
h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> jedem e<strong>in</strong>zelnen Verfahren<br />
ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit geprüft<br />
werden, also ob die Jugendlichen die notwendige<br />
E<strong>in</strong>sichts- und Steuerungsfähigkeit<br />
(vgl. § 3 JGG-BRD) bzw. im Sprachgebrauch<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Rechtswissenschaft die E<strong>in</strong>sicht<br />
<strong>in</strong> die Gesellschaftsgefährlichkeit ihres<br />
Verhaltens besaßen. 237 Wurde die Verantwortlichkeit<br />
abgelehnt, konnte ke<strong>in</strong>e Strafe<br />
verhängt werden. Erziehungsmaßnahmen<br />
blieben jedoch weiter möglich – und damit<br />
auch die Anordnung von <strong>Heimerziehung</strong><br />
durch strafrichterliches Urteil (§ 4 Abs. 2,<br />
§ 9 JGG-<strong>DDR</strong>). Auch wenn sich schon im<br />
Ermittlungsverfahren herausstellte, dass<br />
<strong>der</strong> Jugendliche strafrechtlich nicht verantwortlich<br />
war, musste e<strong>in</strong>e Hauptverhandlung<br />
durchgeführt und über die <strong>Heimerziehung</strong><br />
durch Urteil entschieden werden. 238 Die E<strong>in</strong>weisung<br />
strafrechtlich nicht verantwortlicher<br />
Jugendlicher <strong>in</strong> die Jugendwerkhöfe führte<br />
dazu, dass sich gerade <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen<br />
für Hilfsschüler Jugendliche ansammelten,<br />
die erhebliches Del<strong>in</strong>quenzverhalten<br />
zeigten. Der Vorschlag e<strong>in</strong>iger Bezirksräte,<br />
für diese Jugendlichen spezielle E<strong>in</strong>richtungen<br />
zu schaffen, wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Politik nicht<br />
aufgegriffen. 239<br />
wirksamen Bekämpfung <strong>der</strong> Jugendkrim<strong>in</strong>alität vom<br />
6.2.1967, BStU MfS HA XX Nr. 2206, S. 56 ff., Ziff. 2.6.<br />
237 Die Voraussetzungen für die strafrechtliche<br />
Verantwortlichkeit waren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtswissenschaft<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> heftig umstritten, siehe dazu Plath 2005,<br />
16 ff.<br />
238 BG Potsdam, 21.4.1961 – III BSB 61/61 m.<br />
Anm. v. Horst Luther, NJ 1961, 757–759; Deutsches<br />
Institut für Rechtswissenschaft 1957, 406, 679.<br />
239 Vgl. Brief <strong>der</strong> Abteilung Volksbildung, Referat<br />
Jugendhilfe des Rates des Bezirkes Erfurt an das<br />
MfV v. 22.1.1970, BArch DR 2/51127.<br />
In jedem Fall war die Voraussetzung für die<br />
Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> im Urteil,<br />
dass <strong>der</strong> Jugendliche e<strong>in</strong>e Verfehlung begangen<br />
hatte (§ 2 Abs. 1 JGG-<strong>DDR</strong>). Dieser<br />
unbestimmte Rechtsbegriff wurde we<strong>der</strong> im<br />
Gesetz noch <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Vorschriften def<strong>in</strong>iert.<br />
Nach <strong>der</strong> jugendstrafrechtlichen Tradition<br />
ist das JGG e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Verfahrensgesetz;<br />
die Strafbarkeit als solche bemisst sich nach<br />
den allgeme<strong>in</strong>en Tatbeständen des StGB. Im<br />
RJGG 1923/1943 war dieser Zusammenhang<br />
nicht ausdrücklich geregelt, son<strong>der</strong>n wurde<br />
vorausgesetzt. Im JGG <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
wird ebenfalls mit dem Begriff <strong>der</strong> „Verfehlung“<br />
gearbeitet: Diese wird näher def<strong>in</strong>iert<br />
als Verhalten, das nach den allgeme<strong>in</strong>en<br />
Vorschriften mit Strafe bedroht ist (§ 1 Abs.<br />
1 JGG-BRD). Auch im Jugendstrafrecht <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> wurde <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> „Verfehlung“ <strong>in</strong><br />
dieser Weise ausgelegt: Sie war <strong>der</strong> Oberbegriff<br />
für die Verbrechen und Vergehen des<br />
StGB. 240 Der Grund für diesen Wortgebrauch:<br />
Weniger die strafrechtliche E<strong>in</strong>ordnung <strong>der</strong><br />
Tat sollte entscheidend se<strong>in</strong> als die erzieherische<br />
Wirkung <strong>der</strong> Sanktion. 241<br />
Nicht im Begriff <strong>der</strong> Verfehlung enthalten<br />
war die bis 1968 im Strafrecht enthaltene<br />
Kategorie <strong>der</strong> „Übertretungen“ (§ 1<br />
Abs. 3, § 360 StGB), die durch polizeiliche<br />
Strafverfügungen geahndet wurden (§ 328<br />
StPO-<strong>DDR</strong> 242 ). Nach § 51 JGG konnten Übertretungen<br />
wie <strong>der</strong> „grobe Unfug“ aber auch<br />
bei Jugendlichen verfolgt werden (s. dazu<br />
schon oben Kap. 5.1.1.2.8). Nicht unter den<br />
Begriff <strong>der</strong> Verfehlung fielen auch Ordnungswidrigkeiten<br />
und allgeme<strong>in</strong>e Diszipl<strong>in</strong>verstöße,<br />
die nach an<strong>der</strong>en Vorschriften verfolgt<br />
wurden. 243<br />
240 Vgl. Nathan 1952, 147; Deutsches Institut für<br />
Rechtswissenschaft 1957, 286. Siehe auch Schreiben<br />
des Generalstaatsanwaltes <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> v. 5.4.1967 zu den<br />
rechtlichen Aspekten <strong>der</strong> E<strong>in</strong>weisung nach Rü<strong>der</strong>sdorf,<br />
BArch DR 2/51127 („beson<strong>der</strong>e Bezeichnung für<br />
Jugendstraftaten“); Plath 2005, 152 f.<br />
241 So Nathan 1952, 147.<br />
242 Vom 2.10.1952, GBl. 1952, 996.<br />
243 Siehe Deutsches Institut für Rechtswissenschaft<br />
1957, 286.<br />
Verwirrend ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang,<br />
dass <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> „Verfehlung“ im StGB<br />
von 1968 an<strong>der</strong>s verwendet wird: Er steht<br />
dort für e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Gruppe von Delikten,<br />
die unterhalb e<strong>in</strong>es Vergehens und oberhalb<br />
e<strong>in</strong>er Ordnungswidrigkeit angesiedelt s<strong>in</strong>d<br />
(§ 4 StGB-<strong>DDR</strong>, vgl. auch die konkreten<br />
Verfehlungstatbestände <strong>in</strong> § 134 Abs. 1, 137<br />
ff., 160, 179 StGB-<strong>DDR</strong>). Sie wurden nach beson<strong>der</strong>en<br />
Bestimmungen geahndet. 244 Dieser<br />
Wortgebrauch hat mit <strong>der</strong> früheren Verwendung<br />
dieses Begriffs im JGG nichts zu tun –<br />
im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Jugendkrim<strong>in</strong>alität<br />
ist im neuen StGB von Verfehlungen auch<br />
nicht mehr die Rede.<br />
§ 14 JGG enthielt auch e<strong>in</strong> Verhältnismäßigkeitskriterium:<br />
Die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> den Jugendwerkhof<br />
sollte nur dann stattf<strong>in</strong>den, wenn<br />
an<strong>der</strong>e Erziehungsmaßnahmen nicht ausreichten.<br />
245 Nach <strong>der</strong> Rechtsprechung konnte<br />
<strong>Heimerziehung</strong> nicht angeordnet werden,<br />
wenn <strong>der</strong> Jugendliche sich im Laufe des Verfahrens<br />
gebessert hatte, weil damit deutlich<br />
wurde, dass schon das Verfahren als solches<br />
ihn nachhaltig bee<strong>in</strong>druckt hatte. 246 Auch bei<br />
Bagatelldelikten war <strong>Heimerziehung</strong> ke<strong>in</strong>e<br />
zulässige Erziehungsmaßnahme. Offenbar<br />
aber nutzten e<strong>in</strong>ige Jugendhilfereferate die<br />
Gerichte dazu, ihnen die Entscheidung über<br />
<strong>Heimerziehung</strong> abzunehmen. 247<br />
(3) Rechtsfolgen<br />
Das strafgerichtliche Urteil war die unmittelbare<br />
Rechtsgrundlage für die Heime<strong>in</strong>weisung.<br />
Zuständig für die Auswahl des Heims<br />
und das E<strong>in</strong>weisungsverfahren waren die<br />
Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe nach den allgeme<strong>in</strong>en<br />
Regeln (Kap. 5.2). Auf <strong>der</strong> Grundlage<br />
e<strong>in</strong>er strafrechtlichen Verurteilung konnte<br />
die <strong>Heimerziehung</strong> allerd<strong>in</strong>gs nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
244 Erste Durchführungsverordnung zum<br />
EGStGB – Verfolgung von Verfehlungen – v.<br />
19.12.1974, GBl. 1975, 128.<br />
245 Dazu auch Deutsches Institut für Rechtswissenschaft<br />
1957, 683.<br />
246 BG Dresden, 19.4.1955 – 3b Nds 146/55, NJ<br />
1955, 382.<br />
247 Siehe die Kritik bei Fräbel 1958, 15.<br />
Jugendwerkhof durchgeführt werden; dies<br />
galt auch dann, wenn die Jugendlichen nicht<br />
strafrechtlich verantwortlich waren, weil<br />
auch hier die <strong>Heimerziehung</strong> im Urteil angeordnet<br />
wurde.<br />
(4) Rechtsmittel<br />
Gegen die Entscheidung des Jugendschöffengerichts<br />
stand das Rechtsmittel <strong>der</strong> Berufung zur<br />
Verfügung (§ 48 JGG-<strong>DDR</strong> i. V. m. § 279 StPO).<br />
E<strong>in</strong>e Revisions<strong>in</strong>stanz gab es <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> nicht.<br />
Das OG und <strong>der</strong> Generalstaatsanwalt konnten<br />
Urteile <strong>der</strong> unteren Instanzen durch Kassation<br />
aufheben (§§ 301 ff. StPO); auf diese Verfahren,<br />
die <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>heitlichung <strong>der</strong> Rechtsprechung<br />
dienten, hatten die Angeklagten, ihre Angehörigen<br />
und Verteidiger jedoch ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss.<br />
Auch die Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe konnten Berufung<br />
e<strong>in</strong>legen, allerd<strong>in</strong>gs nur zugunsten des<br />
Jugendlichen. Bemerkenswert ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang,<br />
dass es auch als e<strong>in</strong>e Berufung<br />
zugunsten des Jugendlichen angesehen wurde,<br />
wenn die Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe die angeordnete<br />
<strong>Heimerziehung</strong> verlängern wollten. In<br />
e<strong>in</strong>em Fall aus dem Jahr 1955 hatte das Strafgericht<br />
im Urteil <strong>Heimerziehung</strong> bis zur Vollendung<br />
des 18. Lebensjahres angeordnet. Die<br />
Jugendhilfe legte Berufung mit dem Ziel e<strong>in</strong>,<br />
dass die <strong>Heimerziehung</strong> nicht befristet werden<br />
sollte – nach § 9 Abs. 4 GG konnte die <strong>Heimerziehung</strong>,<br />
die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em strafgerichtlichen Urteil<br />
angeordnet worden war, bis zur Vollendung<br />
des 20. Lebensjahres ausgedehnt werden. Das<br />
Berufungsgericht lehnte den Antrag als unzulässig<br />
ab, da er nicht zugunsten des Jugendlichen<br />
e<strong>in</strong>gelegt worden sei. Diese Entscheidung<br />
kassierte das OG mit <strong>der</strong> Begründung, <strong>Heimerziehung</strong><br />
sei ke<strong>in</strong>e Strafe, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e „Maßnahme<br />
<strong>der</strong> Erziehung, wie sie normalerweise den<br />
Jugendlichen im Elternhaus zuteil werden sollte.“ 248<br />
Das OG setzt <strong>in</strong> dieser Entscheidung nicht<br />
nur Heim- und Familienerziehung unkritisch<br />
gleich, son<strong>der</strong>n geht auch davon aus, dass e<strong>in</strong>e<br />
Maßnahme <strong>der</strong> Erziehung immer e<strong>in</strong>e Maßnahme<br />
zugunsten <strong>der</strong> Zögl<strong>in</strong>ge sei.<br />
248 OG, 28.7.1955 – 2 Zst III 55/55, NJ 1955,<br />
636.<br />
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