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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

Jugendlichen auf Antrag <strong>der</strong> Erziehungsberechtigten<br />

<strong>in</strong>s Heim e<strong>in</strong>weisen, wenn die<br />

Voraussetzungen <strong>der</strong> Fürsorgeerziehung gegeben<br />

waren (§ 26 Wohlfahrtsgesetz). Dies<br />

entspricht <strong>in</strong> etwa den landesrechtlichen<br />

Regelungen zur Freiwilligen Erziehungshilfe,<br />

die auch <strong>in</strong> Westdeutschland <strong>in</strong> den<br />

1950er-Jahren bestanden. 274 In den an<strong>der</strong>en<br />

Regionen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> war die Erziehungsvere<strong>in</strong>barung<br />

vollkommen ungeregelt.<br />

Im Schrifttum war anerkannt, dass die<br />

Eltern die Vere<strong>in</strong>barung je<strong>der</strong>zeit wie<strong>der</strong><br />

aufkündigen konnten. 275 Es ist jedoch m<strong>in</strong>destens<br />

e<strong>in</strong> Fall bekannt, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> Jugendlicher<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Spezialheim e<strong>in</strong>gewiesen<br />

wurde, nachdem die Eltern ihre Zustimmung<br />

zum Erziehungsvertrag bereits wi<strong>der</strong>rufen<br />

hatten. 276<br />

Nach den Erkenntnissen <strong>der</strong> historischen<br />

Forschung wurden Erziehungsverträge <strong>in</strong><br />

erheblichem Umfang im Zusammenhang<br />

mit Strafverfahren gegen Jugendliche abgeschlossen.<br />

277 Sie waren e<strong>in</strong> Weg, mit dem<br />

e<strong>in</strong>e Strafhaft für Jugendliche abgewendet<br />

werden konnte. Die Eltern unterschrieben<br />

die Vere<strong>in</strong>barung <strong>in</strong> vielen Fällen daher vermutlich<br />

nicht, weil sie die <strong>Heimerziehung</strong><br />

für die richtige Maßnahme gegenüber ihrem<br />

K<strong>in</strong>d hielten, son<strong>der</strong>n weil sie gegenüber<br />

e<strong>in</strong>er Verurteilung und Haft das kle<strong>in</strong>ere<br />

Übel darstellte.<br />

Freiwillige Erziehungsverträge wurden<br />

auch von den konfessionellen Heimen bevorzugt<br />

abgeschlossen, als sie <strong>in</strong> den 1950er-<br />

Jahren von staatlichen Stellen kaum noch<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche zugewiesen bekamen.<br />

278 Hier dürfte <strong>der</strong> Druck auf die Eltern<br />

ger<strong>in</strong>ger gewesen se<strong>in</strong>. Nachgewiesen s<strong>in</strong>d<br />

freiwillige Erziehungsvere<strong>in</strong>barungen auch<br />

<strong>in</strong> Fällen, <strong>in</strong> denen Eltern <strong>in</strong>haftiert wurden.<br />

279 Schließlich gibt es H<strong>in</strong>weise darauf,<br />

dass es unter hohen Funktionären <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

274 Siehe dazu Wapler 2010, 87 ff.<br />

275 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung 1993, 58.<br />

276 Vgl. die Fallschil<strong>der</strong>ung bei Sachse 2010, 162.<br />

277 Vgl. Sachse 2010, 129 und 142; Zimmermann<br />

2004, 262.<br />

278 Zimmermann 2004, 265 m. N.<br />

279 Sachse 2010, 142 m. N.<br />

zeitweilig e<strong>in</strong>e verbreitete Praxis war, ihre<br />

unbotmäßigen K<strong>in</strong><strong>der</strong> per freiwilligem Vertrag<br />

<strong>in</strong>s Heim zu geben. 280<br />

E<strong>in</strong> Son<strong>der</strong>fall <strong>der</strong> freiwilligen Erziehungsvere<strong>in</strong>barung<br />

ist ab dem Jahr 1950 <strong>der</strong><br />

Antrag e<strong>in</strong>er alle<strong>in</strong>erziehenden Mutter auf<br />

<strong>der</strong> Grundlage des § 3 Abs. 1 des „Gesetzes<br />

über den Mutter- und K<strong>in</strong><strong>der</strong>schutz“. 281 Hier<br />

entschied nicht die Abteilung Jugendhilfe/<br />

<strong>Heimerziehung</strong>, weil es nicht um die Gefährdung<br />

von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n g<strong>in</strong>g, son<strong>der</strong>n die Abteilung<br />

Mutter und K<strong>in</strong>d des Kreises (§ 2 Abs.<br />

3 <strong>der</strong> 1. DfB zur HeimV [1951, Fn. 107] und<br />

§ 7 Abs. 1 <strong>der</strong> Durchführungsbestimmung<br />

zum MKSchG [1950, Fn. 281]). 282 Nach § 3<br />

des MKSchG konnte die Mutter auch entscheiden,<br />

dass ihr K<strong>in</strong>d wie<strong>der</strong> aus dem Heim<br />

entlassen werden sollte. In <strong>der</strong> 1. DfB zur<br />

Heimverordnung allerd<strong>in</strong>gs wird auch die<br />

Entscheidung über die Heimentlassung von<br />

<strong>der</strong> Zustimmung <strong>der</strong> Abteilung Mutter und<br />

K<strong>in</strong>d abhängig gemacht (§ 2 Abs. 3).<br />

In <strong>der</strong> JHVO von 1965 ist die freiwillige<br />

Erziehungsvere<strong>in</strong>barung nicht als Maßnahme<br />

<strong>der</strong> Jugendhilfe vorgesehen. In e<strong>in</strong>em<br />

Aufsatz von 1968 wird bemängelt, dass<br />

nach wie vor K<strong>in</strong><strong>der</strong> auf dieser Grundlage<br />

<strong>in</strong>s Heim kämen; dies lässt darauf schließen,<br />

dass die freiwillige Erziehungsvere<strong>in</strong>barung<br />

nach dem neuen Recht nicht mehr möglich<br />

se<strong>in</strong> sollte. 283 Sachse allerd<strong>in</strong>gs berichtet, dass<br />

jedenfalls im Strafverfahren nach wie vor<br />

„freiwillige“ Erziehungsvere<strong>in</strong>barungen abgeschlossen<br />

wurden. 284 Nach 1977 waren sie<br />

nach <strong>der</strong> Richtl<strong>in</strong>ie Nr. 7 auch ausdrücklich<br />

wie<strong>der</strong> zugelassen, wenn die <strong>Heimerziehung</strong><br />

280 Sachse 2010, 143 m. N.<br />

281 Gesetz über den Mutter- und K<strong>in</strong><strong>der</strong>schutz<br />

und die Rechte <strong>der</strong> Frau vom 27.9.1950. Diese Möglichkeit<br />

wurde im Jahr 1973 auch auf alle<strong>in</strong>erziehende<br />

Väter und Doppelverdiener-Paare ausgedehnt, vgl. §§ 1<br />

bis 3 <strong>der</strong> Verordnung über die E<strong>in</strong>weisung und Aufnahme<br />

von Säugl<strong>in</strong>gen und Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>krippen<br />

und Dauerheime v. 22.3.1973 – GBl.1973, 181.<br />

282 Nach M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung 1953,<br />

60 war für den Erlass <strong>der</strong> E<strong>in</strong>weisungsverfügung die<br />

Abt. JH/HE zuständig; dies wi<strong>der</strong>spricht aber dem<br />

Wortlaut bei<strong>der</strong> Durchführungsbestimmungen.<br />

283 Möwert & Waldmann 1968, 18.<br />

284 Sachse 2010, 131.<br />

nach den Voraussetzungen des § 50 FGB<br />

unabwendbar erschien. 285 Die Vere<strong>in</strong>barung<br />

wurde dann zwischen dem Leiter des Referats<br />

Jugendhilfe und den Erziehungsberechtigten<br />

geschlossen.<br />

5.1.4 Heime<strong>in</strong>weisung „aufgegriffener“<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlicher durch Polizei und<br />

Staatsanwaltschaft<br />

Sogenannte „aufgegriffene“ K<strong>in</strong><strong>der</strong> und<br />

Jugendliche waren solche, die von zu Hause<br />

o<strong>der</strong> aus dem Heim ausgerissen waren,<br />

ke<strong>in</strong>en festen Wohnsitz hatten o<strong>der</strong> versucht<br />

hatten, die <strong>DDR</strong> zu verlassen. 286 Sie wurden<br />

regelmäßig <strong>in</strong> die Durchgangsheime <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />

e<strong>in</strong>geliefert. Die Heime<strong>in</strong>weisung<br />

erfolgte dann durch vorläufige Anordnung<br />

<strong>der</strong> Polizei o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Staatsanwaltschaft,<br />

unter Umständen auch über den Umweg<br />

<strong>der</strong> Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe. 287 Als Rechtsgrundlage<br />

diente bis 1968 vermutlich e<strong>in</strong>e<br />

Vere<strong>in</strong>barung aus dem Jahr 1950. 288 Im Jahr<br />

1968 erhielt die Volkspolizei die Befugnis,<br />

Personen für 24 Stunden <strong>in</strong> Gewahrsam zu<br />

nehmen, wenn sie die öffentliche Ordnung<br />

285 Richtl<strong>in</strong>ie Nr. 7 des Zentralen Jugendhilfeausschusses<br />

zur Sicherung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>heitlichen Anwendung<br />

<strong>der</strong> Verfahrensvorschriften <strong>in</strong> den Fällen des<br />

§ 50 FGB durch die Jugendhilfeorgane v. 27.4.1977,<br />

Jugendhilfe 15, 234-237, Ziff. III.9. Nach Mannschatz<br />

(1984, 25) waren freiwillige Erziehungsvere<strong>in</strong>barungen<br />

auch zulässig, wenn die Eltern aus wichtigen<br />

Gründen ihr Erziehungsrecht nicht selbst wahrnehmen<br />

konnten.<br />

286 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung 1953, 61.<br />

287 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung 1953, 61:<br />

Die Jugendlichen waren von <strong>der</strong> Polizei o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

staatlichen Organen den Organen <strong>der</strong> Jugendhilfe zu<br />

übergeben, die dann als „beauftragte Hilfsstelle <strong>der</strong><br />

Polizei“ tätig wurde.<br />

288 Die Vere<strong>in</strong>barung konnte nicht nachgewiesen<br />

werden. Jedoch wird im Handbuch des M<strong>in</strong>isteriums<br />

für Volksbildung (1953, 61) e<strong>in</strong>e „Vere<strong>in</strong>barung<br />

v. 3.6.1950 für das begrenzte Aufgabengebiet <strong>der</strong><br />

Behandlung jugendlicher Grenzverletzer und Ausreißer“<br />

erwähnt. Dort wird – ebenfalls ohne Quellenangabe<br />

– auch auf e<strong>in</strong>e Stellungnahme des M<strong>in</strong>isteriums<br />

für Volksbildung zur Rechtsgrundlage für E<strong>in</strong>weisungen<br />

<strong>in</strong> Grenzgänger und Durchgangsheime vom<br />

19.10.1950 verwiesen.<br />

und Sicherheit gefährden o<strong>der</strong> stören (§ 15<br />

Abs. 1 Satz 2 DVPG). 289 Streng genommen<br />

verstieß diese Regelung gegen Art. 30 Abs. 2<br />

<strong>der</strong> Verfassung von 1968/1974, da die Gewahrsamnahme<br />

we<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verfolgung e<strong>in</strong>er<br />

strafbaren Handlung noch e<strong>in</strong>er Heilbehandlung<br />

diente. In <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Verfassungsrechtsliteratur<br />

wird dieses Problem jedoch nicht<br />

diskutiert. 290<br />

5.1.5 Exkurs: Dimensionen „abweichenden<br />

Verhaltens“ <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

Welche Verhaltensweisen von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, Jugendlichen<br />

und ihren Eltern <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> als<br />

Indizien für e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>deswohl- o<strong>der</strong> Erziehungsgefährdung,<br />

für „Verwahrlosung“ o<strong>der</strong> auch<br />

für die Schwererziehbarkeit (dazu s. u. Kap.<br />

5.2.6) angesehen wurden, kann nicht ohne den<br />

rechtlichen Kontext des Jugendschutzes sowie<br />

des Ordnungswidrigkeiten- und Strafrechts<br />

verstanden werden. Während <strong>in</strong> Westdeutschland<br />

vor allem <strong>in</strong> den 1950er-Jahren von den<br />

Jugendämtern und Gerichten e<strong>in</strong>e vor- o<strong>der</strong><br />

überrechtliche christlich fundierte Sittenlehre<br />

herangezogen wurde, um tadelnswertes<br />

Verhalten zu identifizieren, war <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> zu<br />

je<strong>der</strong> Zeit ihres Bestehens rechtlich geregelt und<br />

damit von Staats wegen bzw. durch die Parteigremien<br />

festgelegt, welche Verhaltensweisen als<br />

gesellschaftsgefährdend und unerwünscht angesehen<br />

wurden. Alle diese Verhaltensweisen<br />

konnten zu polizeilicher, straf- und ordnungsrechtlicher<br />

Verfolgung sowie zur Verhandlung<br />

vor gesellschaftlichen Gerichten, aber auch zu<br />

erzieherischen Maßnahmen nach §§ 50 FGB,<br />

23 JHVO führen. Die Grenzen zwischen Jugendhilfe<br />

und Strafverfolgung waren während<br />

des gesamten Bestehens <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> fließend.<br />

Die Vorstellung <strong>der</strong> staatlichen Führung g<strong>in</strong>g<br />

dah<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> ganzes Bündel rechtlicher Maßnahmen<br />

vorzuhalten, die alle dasselbe Ziel verfolgten,<br />

die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen zu „sozialistischen<br />

Persönlichkeiten“ zu formen. 291<br />

289 Gesetz über die Befugnisse <strong>der</strong> Deutschen<br />

Volkspolizei v. 11.6.1968, GBl. 1968, 232.<br />

290 Siehe aber aus westdeutscher Perspektive<br />

Mampel 1982, Art. 30 <strong>DDR</strong>-Verf. Rn. 30.<br />

291 Siehe zu diesem Zusammenwirken <strong>der</strong><br />

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