Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Was hilft ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bei <strong>der</strong> Bewältigung ihrer komplexen Traumatisierung?<br />
und Drangsalieren durch Bestrafungen zu<br />
den typischen E<strong>in</strong>schüchterungsmethoden<br />
und waren Alltag im Heim. Ziel war, durch<br />
Gewaltausübung e<strong>in</strong>e Unterwerfung unter<br />
die Heimregeln zu erreichen, aber auch die<br />
gezielte Verunsicherung o<strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>halten<br />
durch Entwerten, um dadurch bereits im<br />
Ansatz jeden Wi<strong>der</strong>stand zu brechen. Das<br />
Machtgefälle zwischen Heimbetreuern und<br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n wurde durch Anwendung<br />
psychischer Gewalt nachdrücklich demonstriert<br />
und als Instrument zur Diszipl<strong>in</strong>ierung<br />
e<strong>in</strong>gesetzt. Die Folgen <strong>der</strong> Anwendung<br />
psychischer Gewalt, nämlich die tief greifende<br />
Entwertung und Entwürdigung <strong>der</strong><br />
zu betreuenden K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen,<br />
sche<strong>in</strong>en entwe<strong>der</strong> nicht reflektiert worden<br />
se<strong>in</strong>, o<strong>der</strong> diese wurden bewusst <strong>in</strong> Kauf<br />
genommen. Fast unvermeidbare Folgen von<br />
psychischer Gewaltausübung s<strong>in</strong>d Verlust des<br />
Vertrauens <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e Menschen und Verlust<br />
des eigenen Selbstwertes bzw. die Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />
e<strong>in</strong>er altersgemäßen Entwicklung von<br />
Kontaktfähigkeit und Selbstvertrauen.<br />
Es gibt viele Berichte über entwürdigende<br />
„Erziehungsmethoden“ <strong>in</strong> <strong>DDR</strong>-Heimen.<br />
Beispielsweise, dass Bettnässen dazu führte,<br />
nackt durch e<strong>in</strong> Spalier von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n gehen<br />
zu müssen und bloßgestellt zu werden,<br />
o<strong>der</strong> dass K<strong>in</strong><strong>der</strong> zur Strafe mit dem nassen<br />
Bettlaken im Raum stehen mussten. Auch<br />
Essensentzug und Flüssigkeitsentzug kam<br />
als Strafe häufiger vor. Gewaltanwendung<br />
fand auch <strong>in</strong> Form von Arresten <strong>in</strong> Zellen<br />
o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Zwischentüren o<strong>der</strong> durch Anketten<br />
an Heizkörper statt. Diese Beispiele machen<br />
deutlich, wie würdelos und wie wenig fürsorglich<br />
<strong>der</strong> Umgang mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n im Heim<br />
se<strong>in</strong> konnte. H<strong>in</strong>zu kommt, dass die Gewaltausübung<br />
durch manche Erzieher willkürlich<br />
und unvorhersehbar stattfand. Offensichtlich<br />
hatten manche Heimbetreuer Freude<br />
daran, K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu ängstigen, zu kommandieren<br />
o<strong>der</strong> sogar psychisch zu verletzen. Es gibt<br />
viele Berichte darüber, dass K<strong>in</strong><strong>der</strong> bestohlen<br />
wurden, wenn von Eltern o<strong>der</strong> Verwandten<br />
Lebensmittel geschickt wurden o<strong>der</strong> wenn<br />
ihnen eigentlich für Arbeitsleistung e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ges<br />
Entgelt zugestanden hätte.<br />
Letztlich befanden sich die Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er rechtlosen Situation. Es gab für die<br />
betroffenen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> ke<strong>in</strong>e Möglichkeit,<br />
sich zu wehren o<strong>der</strong> Beschwerde e<strong>in</strong>zulegen.<br />
Jedes Aufbegehren gegen die durch Betreuer<br />
ausgeübte Gewalt führte zu weiterer Gewalt<br />
und E<strong>in</strong>schüchterung. Auffällig ist, dass<br />
direkte körperliche Gewaltanwendung durch<br />
Erzieher offenbar seltener e<strong>in</strong>gesetzt wurde.<br />
Körperliche Gewaltanwendung wurde eher<br />
<strong>der</strong> Gruppe im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> „Kollektiverziehung“<br />
überlassen. Hierfür brauchte nur die<br />
gesamte Gruppe beispielsweise durch Entzug<br />
von Vergünstigungen bestraft zu werden. Die<br />
an<strong>der</strong>en Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> rächten sich dann an<br />
dem K<strong>in</strong>d, das die Sanktion verursacht hatte,<br />
teilweise durch Schläge und Demütigungen.<br />
Es gab Gruppenstrafen <strong>in</strong> ritualisierter Form,<br />
die je nach Heim unterschiedlich ausfielen.<br />
Teilweise werden Strafmaßnahmen beschrieben,<br />
die wie die Ausübung sadistischer Folter<br />
anmuten (z. B. unter Wasser getaucht werden<br />
bis fast zum ersticken). Im Heim herrschten<br />
zwischen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen Faustrecht<br />
und Selbstjustiz. Offenbar wussten die<br />
Erzieher davon, schritten aber nicht e<strong>in</strong>, da<br />
die diszipl<strong>in</strong>ierende E<strong>in</strong>wirkung <strong>der</strong> Gruppe<br />
als pädagogische Maßnahme genutzt wurde.<br />
Über die Häufigkeit sexueller Übergriffe<br />
<strong>in</strong> Heimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> ist wenig bekannt.<br />
Sicher ist, dass diese vorkamen, <strong>in</strong> manchen<br />
Heimen gehäuft. Es gibt auch Berichte<br />
über sexuelle Traumatisierungen zwischen<br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />
Insgesamt bestand für K<strong>in</strong><strong>der</strong> im Heim e<strong>in</strong><br />
Risiko, selbst Opfer von körperlicher o<strong>der</strong><br />
sexueller Gewalt zu werden o<strong>der</strong> extremen<br />
demütigenden und gewaltvollen Erziehungsmaßnahmen<br />
ausgesetzt zu werden. Zeuge<br />
von Gewalt und Demütigungen zu werden,<br />
gehörte für viele K<strong>in</strong><strong>der</strong> zum Alltag.<br />
3.5 Unterlassene Hilfeleistung bei<br />
psychischen Erkrankungen<br />
Psychische Erkrankungen waren auch bei<br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> häufig, allerd<strong>in</strong>gs<br />
gibt es nur wenige konkrete Zahlenangaben<br />
hierzu. Ca. 60 % <strong>der</strong> Neuaufnahmen <strong>in</strong><br />
Jugendwerkhöfe hatten e<strong>in</strong>e Medikation mit<br />
Psychopharmaka (Zimmermann, 2004, 348).<br />
Es gab <strong>in</strong> den Heimen kaum Möglichkeiten,<br />
psychisch kranke Jugendliche e<strong>in</strong>em Psychologen<br />
o<strong>der</strong> Psychiater vorzustellen. Strukturell<br />
war e<strong>in</strong>e psychiatrische o<strong>der</strong> psychotherapeutische<br />
Hilfeleistung nicht vorgesehen<br />
und wurde hilfebedürftigen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und<br />
Jugendlichen vorenthalten. Ehemalige Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
berichten, dass Ärzte so gut wie nie da<br />
waren.<br />
Zimmermann (Zimmermann, 2004,<br />
157) verweist auf Mannschatz, <strong>der</strong> darauf<br />
aufmerksam gemacht habe, dass seit den<br />
1960er-Jahren verstärkt psychisch kranke<br />
o<strong>der</strong> geistig beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te o<strong>der</strong> verwahrloste<br />
Jugendliche,als „Rechtsverletzer“ auffällig<br />
geworden seien. Dennoch war <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>e<br />
Bedarf an Behandlung und Betreuung von<br />
psychisch kranken K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />
<strong>in</strong> den frühen Jahren <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-<strong>Heimerziehung</strong><br />
we<strong>der</strong> durch die für die <strong>Heimerziehung</strong><br />
verantwortlichen Organe erkannt<br />
und beschrieben noch gedeckt. Auch <strong>in</strong> den<br />
Jahren nach 1970 gab es mit Ausnahme des<br />
Komb<strong>in</strong>ats <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>heime Psychodiagnostik<br />
und pädagogisch-psychologische Therapie<br />
<strong>in</strong> den Heimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> ke<strong>in</strong>e geregelte<br />
psychiatrische o<strong>der</strong> psychotherapeutische<br />
Versorgung für verhaltensauffällige o<strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Weise psychisch kranke K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />
Allenfalls wurde e<strong>in</strong>e pharmakologische<br />
Behandlung durchgeführt. Folgt man den<br />
Berichten von Betroffenen, wurde Fehlverhalten<br />
bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, die aus psychischen<br />
Gründen auffällig waren und dysreguliertes<br />
Verhalten zeigten, grundsätzlich als eigenes<br />
Verschulden angelastet, sogar bei ganz<br />
offensichtlich durch psychosoziale Belastung<br />
ausgelösten Symptomen wie Bettnässen<br />
o<strong>der</strong> bei mangeln<strong>der</strong> Leistungsfähigkeit im<br />
Kontext von Schule o<strong>der</strong> Arbeit. Die Rolle <strong>der</strong><br />
k<strong>in</strong><strong>der</strong>- und jugendpsychiatrischen Kl<strong>in</strong>iken<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> und<br />
<strong>der</strong> Umerziehung von systemabweichenden<br />
Jugendlichen ist unklar und noch nicht<br />
untersucht.<br />
Beim Vorliegen e<strong>in</strong>er psychischen Erkrankung<br />
ist von e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>en Vulnerabilität<br />
für die Bed<strong>in</strong>gungen im Heim auszugehen.<br />
E<strong>in</strong>e fehlende fachliche Diagnostik und<br />
Behandlung trägt zur Chronifizierung<br />
psychischer Störungen bei. Beson<strong>der</strong>s<br />
bedenklich ist, wie ehemalige Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
berichten, dass symptomatische Störungen,<br />
wie beispielsweise Bettnässen o<strong>der</strong> Angstzustände,<br />
als Versagen und vorsätzliches<br />
Fehlverhalten <strong>in</strong>terpretiert wurde. Aufgrund<br />
<strong>der</strong> Häufung von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n mit psychischen<br />
Störungen im Heim hätten Strukturen geschaffen<br />
werden müssen, um e<strong>in</strong>e adäquate<br />
psychiatrische und psychotherapeutische<br />
Versorgung zu ermöglichen. Letztlich wurde<br />
e<strong>in</strong>e notwendige Hilfeleistung unterlassen.<br />
3.6 Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Entwicklung<br />
beruflicher und sozialer Perspektiven<br />
Berufliche und soziale Perspektiven wurden<br />
sehr häufig durch den Heimaufenthalt beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t.<br />
In den Heimen gab es wenig schulische<br />
För<strong>der</strong>ung. In den Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen war<br />
Schulausbildung möglich (bis zum 14. Lebensjahr).<br />
Teilweise wurden begabte K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
als Hilfsschüler e<strong>in</strong>gestuft, da es ke<strong>in</strong>e entsprechend<br />
höher qualifizierten Schulmöglichkeiten<br />
gab. Weitere Berufsausbildung wurde<br />
oft nicht ermöglicht, mit <strong>der</strong> Begründung,<br />
das „Erziehungsziel“ sei nicht erreicht, ohne<br />
weitergehende Begründung. Die berufliche<br />
För<strong>der</strong>ung war im Wesentlichen dem Zufall<br />
überlassen und hatte mit eigenen Fähigkeiten<br />
o<strong>der</strong> Leistung nichts zu tun. Häufig wurde<br />
aufgrund fehlen<strong>der</strong> Möglichkeiten durch die<br />
Heimleitung bestimmt, welche Berufsausbildung<br />
zu absolvieren war, ohne dass diese auf<br />
die <strong>in</strong>dividuellen Fähigkeiten <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
ausgerichtet wurde. Es fand e<strong>in</strong>e traditionelle<br />
geschlechtstypische Berufsför<strong>der</strong>ung<br />
statt. Mädchen wurden <strong>in</strong> Hauswirtschaft<br />
unterrichtet, Jungen <strong>in</strong> handwerklichen Berufen.<br />
Es mussten häufig Arbeitse<strong>in</strong>sätze im<br />
Rahmen unqualifizierter Arbeit (Erntehelfer,<br />
Betriebshelfer) geleistet werden (Zimmermann<br />
2004, 291 ff.). Insgesamt war <strong>der</strong><br />
Zugang zu beruflichen Ausbildungen alle<strong>in</strong>e<br />
schon durch die Situation erschwert, dass<br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung als sozialdeviant<br />
und krim<strong>in</strong>ell, nicht<strong>in</strong>tegrierbar und<br />
unzuverlässig o<strong>der</strong> lernbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>t galten. Die<br />
Stigmatisierung von Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n wurde<br />
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