Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
allerd<strong>in</strong>gs nicht als Sanktion für Fehlverhalten,<br />
son<strong>der</strong>n zu Sicherungszwecken. Bei<br />
Gefährdungen des Personals o<strong>der</strong> <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen<br />
konnten „beson<strong>der</strong>s schwierige<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> o<strong>der</strong> Jugendliche“ <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>en<br />
Isolierzimmern untergebracht werden. Jedes<br />
Durchgangsheim sollte m<strong>in</strong>destens vier<br />
dieser Räume e<strong>in</strong>richten (Ziff. I [2]). 379 Die<br />
Entscheidung, K<strong>in</strong><strong>der</strong> o<strong>der</strong> Jugendliche <strong>in</strong><br />
diesen Zellen zu isolieren, lag bei <strong>der</strong> Heimleitung<br />
o<strong>der</strong> bei den diensthabenden Erziehern<br />
(Ziff. I [2] a. E.).<br />
Die Ermächtigung, Jugendliche zu Sicherungszwecken<br />
zu isolieren, f<strong>in</strong>det sich auch<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> ebenfalls nicht veröffentlichten „Anweisung<br />
zur Anwendung <strong>der</strong> Arbeitsrichtl<strong>in</strong>ie<br />
für Durchgangsheime“ v. 1963 gegeben<br />
(Ziff. 9). E<strong>in</strong>e zeitliche Obergrenze war dar<strong>in</strong><br />
nicht vorgesehen. Die entsprechende Ziffer<br />
<strong>der</strong> Anweisung wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entwurfsfassung<br />
lediglich mit dem handschriftlichen<br />
Zusatz „zeitweilig“ ergänzt. Auch <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen<br />
wurde die E<strong>in</strong>richtung von<br />
Isolierzimmern <strong>in</strong> <strong>in</strong>ternen Richtl<strong>in</strong>ien etwa<br />
ab dem Jahr 1963 erlaubt. 380<br />
Ebenfalls unveröffentlicht blieb die „Ordnung<br />
über die zeitweilige Isolierung von<br />
M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen aus diszipl<strong>in</strong>arischen Gründen<br />
<strong>in</strong> den Spezialheimen <strong>der</strong> Jugendhilfe“<br />
v. 1.12.1967. 381 In dieser Regelung wird<br />
<strong>der</strong> Arrest auch zu Strafzwecken („diszipl<strong>in</strong>arische<br />
Gründe“) erlaubt, und sie wurde<br />
ausdrücklich auf alle Spezialheime <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
ausgeweitet. Sie blieb bis 1989 <strong>in</strong><br />
Kraft. E<strong>in</strong>e ausdrückliche Regelung über den<br />
Arrest <strong>in</strong> den Normalk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen bestand<br />
nach dem <strong>der</strong>zeitigen Forschungsstand nicht.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs konnten Arreststrafen <strong>in</strong> diesen<br />
379 Maßnahmen zur Gewährleistung <strong>der</strong><br />
Sicherheit <strong>in</strong> Durchgangsheimen und -stationen <strong>der</strong><br />
Jugendhilfe und während des Transports von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
und Jugendlichen [gestrichen: Entwurf, 25. Mai 1961],<br />
Vertrauliche Dienstsache, BArch DR 2/60998.<br />
380 Zimmermann 2004, 274 m. N.<br />
381 BArch DR 2/A.2204. H<strong>in</strong>weis darauf, dass<br />
sie nicht veröffentlicht wurde, <strong>in</strong> <strong>der</strong> „Anweisung über<br />
die Aufgaben und Arbeitsweise <strong>der</strong> Durchgangsheime<br />
<strong>der</strong> Jugendhilfe“ vom 25. April 1985 und Sicherheitsbestimmungen,<br />
BStU MfS HA IX Nr. 18754, S. 38–46,<br />
Fußnote zu § 4.<br />
Heimen möglicherweise auf die unbestimmte<br />
Ermächtigung aus § 21 Abs. 3 <strong>der</strong> Heimordnung<br />
von 1969 (s. o. ) gestützt werden.<br />
Die Regelung von 1967 stellt klare und<br />
enge Voraussetzungen für den Arrest auf.<br />
Erstmals werden <strong>in</strong>haltliche Voraussetzungen<br />
für den Arrest genannt, wobei die<br />
Schwelle relativ niedrig liegt: wie<strong>der</strong>holte<br />
Verstöße gegen die Heimordnung, wie<strong>der</strong>holte<br />
Arbeitsverweigerung, Aufwiegelung<br />
an<strong>der</strong>er M<strong>in</strong><strong>der</strong>jähriger und wie<strong>der</strong>holte<br />
Fluchtversuche. Zweck <strong>der</strong> Isolierung sollte<br />
zudem die Sicherung des M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen<br />
o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>er Personen o<strong>der</strong> die Beseitigung<br />
e<strong>in</strong>er akuten Gefahr se<strong>in</strong>. Diese Formulierung<br />
deutet darauf h<strong>in</strong>, dass e<strong>in</strong> Arrest alle<strong>in</strong><br />
zum Zweck <strong>der</strong> Diszipl<strong>in</strong>ierung streng genommen<br />
nicht zulässig war. Zum Verfahren:<br />
Arrest musste durch den E<strong>in</strong>richtungsleiter<br />
o<strong>der</strong> – dann aber nur vorläufig – den diensthabenden<br />
Erzieher angeordnet werden. Er<br />
durfte höchstens drei Tage dauern, als „Freizeitarrest“<br />
neben Schule und Arbeit bis zu<br />
sechs Tagen. Mit Zustimmung des Bezirksreferats<br />
Jugendhilfe konnte er auf bis zu zwölf<br />
Tage ausgedehnt werden. Nur Jugendliche<br />
über 14 Jahren durften <strong>in</strong> den Isolierräumen<br />
festgehalten werden. In Ausnahmefällen<br />
durften aber auch 12- bis 14-Jährige für<br />
e<strong>in</strong>en Zeitraum von bis zu zwölf Stunden<br />
e<strong>in</strong>gesperrt werden. Vor dem Arrest musste<br />
<strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige auf se<strong>in</strong>en Gesundheitszustand<br />
überprüft werden. Arreststrafen<br />
mussten <strong>in</strong> Arrestbüchern vermerkt werden.<br />
Essensentzug im Arrest war nicht zulässig.<br />
Interne Prüfberichte und E<strong>in</strong>gaben zeigen,<br />
dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis gegen diese Vorschriften<br />
verstoßen wurde, sowohl h<strong>in</strong>sichtlich des<br />
Lebensalters <strong>der</strong> Arrestierten als auch h<strong>in</strong>sichtlich<br />
<strong>der</strong> Verweildauer. 382 Aus Torgau wird<br />
auch von Dunkelarrest berichtet. 383<br />
Speziell für die Durchgangsheime enthält<br />
die „Anweisung über die Bildungs- und Erziehungsarbeit“<br />
(1970) e<strong>in</strong>en Anhang, <strong>der</strong><br />
sich erneut mit Sicherheitsbestimmungen <strong>in</strong><br />
382 Sachse 2010, 109.<br />
383 Gespräch am 25.10.2011 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gedenkstätte<br />
Torgau. Die Arrestzellen können dort besichtigt<br />
werden.<br />
diesen E<strong>in</strong>richtungen befasst. 384 Wie<strong>der</strong> wird<br />
darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass zur Isolierung „beson<strong>der</strong>s<br />
schwieriger K<strong>in</strong><strong>der</strong>“ spezielle Räume<br />
e<strong>in</strong>zurichten s<strong>in</strong>d (Ziff. 1.1). H<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong><br />
E<strong>in</strong>richtung dieser Räume wird auf die Ordnung<br />
von 1967 verwiesen. Auch die Anweisung<br />
aus dem Jahr 1980 verweist auf die Sicherheitsbestimmungen<br />
aus <strong>der</strong> Anordnung<br />
von 1967 (§ 4 <strong>der</strong> Sicherheitsbestimmungen<br />
– Anhang 1 zu <strong>der</strong> Anweisung).<br />
Im Jahr 1987 wurden die Durchgangsheime<br />
aufgelöst; ihre Aufgaben wurden nun<br />
von Aufnahmeheimen o<strong>der</strong> -abteilungen<br />
übernommen. Im Zuge dieser Umstrukturierung<br />
wurden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Anweisung auch die<br />
Regelungen zum Arrest <strong>in</strong> diesen Heimen<br />
überarbeitet. 385 Arrest war danach nur noch<br />
bei Jugendlichen über 14 Jahren und nicht<br />
länger als drei Tage zulässig (§ 1 <strong>der</strong> Anweisung).<br />
Als Grund konnten neben <strong>der</strong> „Aufwiegelung“<br />
und Fluchtversuchen nur noch<br />
schwerwiegende und wie<strong>der</strong>holte Verstöße<br />
gegen die Heimordnung angeführt werden<br />
(§ 4 <strong>der</strong> Anlage „Sicherheitsbestimmungen“<br />
zur Anweisung 11/87). Im Übrigen blieb es<br />
weitgehend bei den früheren Regelungen.<br />
Für den GWH Torgau gab es spezielle Bestimmungen,<br />
die <strong>in</strong> Durchführungsbestimmungen<br />
von 1965 festgehalten waren. 386<br />
Danach konnte <strong>der</strong> Arrest auch ohne Absprache<br />
mit dem Referat Jugendhilfe auf bis zu<br />
12 Tage ausgedehnt werden. Vorgesehen war<br />
zudem e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>gangsarrest von 24 Stunden,<br />
384 „Maßnahmen zur Gewährleistung <strong>der</strong> Sicherheit<br />
<strong>in</strong> Durchgangse<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
und während des Transports von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und<br />
Jugendlichen – Sicherheitsbestimmungen (Quelle wie<br />
Anweisung).<br />
385 Anweisung Nr. 11/87 über Aufgaben und<br />
Arbeitsweise bei <strong>der</strong> Aufnahme, Unterbr<strong>in</strong>gung und<br />
Rückführung aufgegriffener K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlicher<br />
vom 3. November 1987 (M<strong>in</strong>ister für Volksbildung,<br />
Margot Honecker) mit Sicherheitsbestimmungen. In:<br />
BStU MfS HA IX 4465, BLHA Rep. 401 RdB Nr. 24492.<br />
386 Durchführungsbestimmung zu <strong>der</strong> Anordnung<br />
über die Isolierung und Arrestierung von<br />
Jugendlichen im Jugendwerkhof Torgau, mit Arrestbelehrung<br />
(1965). E<strong>in</strong>e Abschrift dieser Bestimmung<br />
wurde mir freundlicherweise von Dr. Christian Sachse<br />
überlassen.<br />
dem ke<strong>in</strong> Fehlverhalten des Jugendlichen<br />
vorangegangen se<strong>in</strong> musste. In <strong>der</strong> Praxis<br />
dauerte dieser E<strong>in</strong>gangsarrest regelmäßig<br />
drei Tage und hatte die e<strong>in</strong>zige Funktion, den<br />
Willen des Jugendlichen zu brechen. 387<br />
5.3.4.3 Die Methode <strong>der</strong><br />
„Kollektiverziehung“: Gängelung und<br />
Demütigung durch die Gruppe<br />
Die Rechtsvorschriften, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> die<br />
körperliche Züchtigung verbieten, schließen<br />
immer auch ehrverletzende Strafen<br />
aus. Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fachliteratur wurden diese<br />
Strafarten schon 1954 für überwunden erklärt.<br />
388 Diese <strong>in</strong>sgesamt recht klare Haltung<br />
zur körperlichen Züchtigung und zu ehrverletzenden<br />
Strafen wurde jedoch zum<strong>in</strong>dest<br />
teilweise durch die staatlich vorgegebene<br />
Erziehungsmethode <strong>der</strong> „Kollektiverziehung“<br />
unterlaufen. Die Kollektiverziehung, für die<br />
man sich auf den sowjetischen Pädagogen<br />
Makarenko berief, wurde den Heimen schon<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Heimverordnung von 1951 zentral<br />
vorgegeben. 389 Der Grundgedanke war, dass<br />
das „Kollektiv“, also die Gruppe, <strong>in</strong> die <strong>der</strong><br />
Heimzögl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>geordnet war, <strong>in</strong> wesentlichen<br />
Fragen <strong>der</strong> Erziehung mitwirken sollte.<br />
In <strong>der</strong> Praxis führte dies zu e<strong>in</strong>er Entsolidarisierung<br />
<strong>der</strong> Gruppenmitglie<strong>der</strong>, die noch<br />
dadurch verstärkt wurde, dass e<strong>in</strong>zelnen<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen Macht- und Sanktionsbefugnisse<br />
über ihre Gruppe e<strong>in</strong>geräumt<br />
wurden. Die historische Forschung hat nachgewiesen,<br />
dass diese Gruppenführer nicht<br />
selten diktatorisch über ihre Gruppe herrschten,<br />
sich von den Jüngeren und Schwächeren<br />
bedienen ließen und dass Gruppenmitglie<strong>der</strong>,<br />
die gegen die Heimordnung o<strong>der</strong><br />
387 Der dreitägige E<strong>in</strong>gangsarrest wird <strong>in</strong><br />
zahlreichen Zeitzeugengesprächen und auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Dauerausstellung <strong>der</strong> Gedenkstätte GWH Torgau<br />
dokumentiert. Vgl. Puls 2011; Glocke 2011.<br />
388 Redaktion „Neue Erziehung“ 1954, 20.<br />
389 Fn. 98; dort Präambel, Abs. 2 Satz 3: „Unter<br />
Beachtung <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Entwicklung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen wird die Erziehung zum<br />
Kollektiv die Erreichung dieses Ziels sichern.“ Siehe<br />
auch § 2 <strong>der</strong> HeimO 1969 (Fn. 364).<br />
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