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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> <strong>der</strong> juristischen Literatur nur<br />

punktuell Kritik, und dies auch erst <strong>in</strong> den<br />

1980er-Jahren. 47<br />

Gegen Akte <strong>der</strong> öffentlichen Gewalt gab es<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bis 1989 nur verwaltungs<strong>in</strong>ternen<br />

Rechtsschutz. E<strong>in</strong>e Verwaltungs- o<strong>der</strong><br />

Verfassungsgerichtsbarkeit kannte das<br />

<strong>DDR</strong>-Recht bis zu diesem Zeitpunkt nicht.<br />

Grundrechtsverletzungen konnten darum<br />

ebenso wenig gerichtlich geltend gemacht<br />

werden wie Verletzungen öffentlichen Rechts<br />

durch Verwaltungsorgane – dies gilt ab dem<br />

Jahr 1952 auch für die Entscheidungen <strong>der</strong><br />

Jugendhilfeorgane über die <strong>Heimerziehung</strong>.<br />

Damit waren nicht nur die Bürger <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

<strong>in</strong> wichtigen Angelegenheiten gegenüber <strong>der</strong><br />

Staatsmacht rechtlos gestellt. Es fehlte <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> auch das wichtige Korrektiv e<strong>in</strong>er<br />

unabhängigen Rechtsprechung, die auf e<strong>in</strong>e<br />

an<strong>der</strong>e Interpretation <strong>der</strong> Grundrechte o<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Regelungen im öffentlichen<br />

Recht hätte dr<strong>in</strong>gen können. Hier liegt e<strong>in</strong><br />

wesentlicher Unterschied zu <strong>der</strong> Entwicklung<br />

<strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik:<br />

Dort waren es die öffentliche Me<strong>in</strong>ung, kritische<br />

Stimmen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtswissenschaft<br />

und vor allem das Bundesverfassungsgericht,<br />

die ab den 1960er-Jahren e<strong>in</strong>en Wandel<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtsauffassung und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis<br />

e<strong>in</strong>leiteten.<br />

Rechtsschutz konnte gegen Akte <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Gewalt <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> lediglich auf folgenden<br />

Wegen erlangt werden:<br />

(1) Die Verwaltungsbeschwerde, die allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht verfassungsrechtlich gesichert<br />

war, son<strong>der</strong>n auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachgesetzlichen<br />

Ebene <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Rechtsbereichen eröffnet<br />

wurde und <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en nicht. Gegen die Anordnung<br />

<strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> war die Verwaltungsbeschwerde<br />

ab 1952 zulässig (vorher<br />

gab es die gerichtliche Beschwerde, s. u. Kap.<br />

5.1.1.1.1 – [5]).<br />

(2) Die E<strong>in</strong>gabe nach Art. 103 <strong>DDR</strong>-Verf.,<br />

die auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> immer wie<strong>der</strong><br />

genutzt wurde. 48 Sie war jedoch e<strong>in</strong> nichtöf-<br />

47 Vgl. Bönn<strong>in</strong>ger 1980, 935 f.<br />

48 Gesetz über die Bearbeitung <strong>der</strong> E<strong>in</strong>gaben<br />

<strong>der</strong> Bürger v. 19.6.1975 – GBl. 1975, 461. Siehe auch<br />

den E<strong>in</strong>gabenerlass v. 1961, <strong>in</strong> Auszügen bei Klenner<br />

fentliches Verfahren ohne klare Entscheidungskriterien.<br />

Nach dem bisherigen Stand<br />

<strong>der</strong> historischen Forschung wurden die meisten<br />

E<strong>in</strong>gaben, die Maßnahmen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />

betrafen, abgelehnt.<br />

2.7.3 Das allgeme<strong>in</strong>e<br />

Verhältnismäßigkeitspr<strong>in</strong>zip<br />

In <strong>der</strong> bundesdeutschen Verfassungsdogmatik<br />

hat sich das allgeme<strong>in</strong>e Verhältnismäßigkeitspr<strong>in</strong>zip<br />

o<strong>der</strong> auch Übermaßverbot als<br />

e<strong>in</strong> wichtiger Bestandteil des Rechtsstaatspr<strong>in</strong>zips<br />

herausgebildet. Für die Bewertung<br />

<strong>der</strong> westdeutschen <strong>Heimerziehung</strong> ist die<br />

Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mittel<br />

e<strong>in</strong> wichtiges Kriterium. Im Staatsrecht <strong>der</strong><br />

<strong>DDR</strong> hat sich <strong>der</strong> Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />

nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong>selben Weise als allgeme<strong>in</strong>er<br />

Maßstab etabliert. Dies ist auch nur<br />

folgerichtig, da das staatliche Handeln <strong>der</strong><br />

Ideologie nach auf das objektiv Notwendige<br />

gerichtet war, das per se auch als das Angemessene<br />

und damit das Verhältnismäßige<br />

angesehen werden musste.<br />

Auf verfassungsrechtlicher Ebene f<strong>in</strong>den<br />

sich dennoch e<strong>in</strong>zelne H<strong>in</strong>weise auf Verhältnismäßigkeitsanfor<strong>der</strong>ungen,<br />

beispielsweise<br />

<strong>in</strong> Art. 30 Abs. 2 <strong>der</strong> Verfassung von<br />

1968/1974. 49 Ebenfalls punktuell ist e<strong>in</strong> Verhältnismäßigkeitskriterium<br />

auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachrechtlichen<br />

Ebene geregelt, etwa <strong>in</strong> § 4 des<br />

Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse<br />

<strong>der</strong> Deutschen Volkspolizei. 50 Im Recht <strong>der</strong><br />

<strong>Heimerziehung</strong> f<strong>in</strong>den sich ebenfalls Verhältnismäßigkeitserwägungen<br />

(siehe unten<br />

Kap. 5). Auch hierbei muss allerd<strong>in</strong>gs berücksichtigt<br />

werden, dass mit dem „Bürger“ im<br />

<strong>DDR</strong>-Staatsrecht nicht das Individuum mit<br />

se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellen Belangen geme<strong>in</strong>t ist,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> vergesellschaftete, <strong>in</strong>s Kollektiv<br />

e<strong>in</strong>gebundene Mensch, dessen Persönlichkeit<br />

und Freiheit nicht unabhängig vom Kollektiv,<br />

schon gar nicht im Wi<strong>der</strong>spruch gegen das<br />

1964, 266–270 (ohne Quellenangabe).<br />

49 Vgl. dazu Mampel 1982, Art. 30 <strong>DDR</strong>-Verf.<br />

Rn. 15. Siehe auch BGH, 3.11.1992 – 5 StR 370/92,<br />

BGHSt 39, 1–36 (Mauerschützen).<br />

50 Vom 11.6.1968, GBl. 1968, 232.<br />

Kollektiv, son<strong>der</strong>n nur <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Vorgaben<br />

<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft an den E<strong>in</strong>zelnen<br />

bestehen kann. 51<br />

2.7.4 Internationales Recht –<br />

Menschenrechte<br />

Im Jahr 1973 wurde die <strong>DDR</strong> Mitglied <strong>der</strong><br />

UNO und damit automatisch auch Mitgliedstaat<br />

<strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>en Menschenrechtserklärung<br />

(AEMR). E<strong>in</strong> Jahr später ratifizierte<br />

die <strong>DDR</strong> auch den für die Freiheitsund<br />

Verfahrensrechte beson<strong>der</strong>s wichtigen<br />

Internationalen Pakt für bürgerliche und<br />

politische Rechte (IPbpR), <strong>der</strong> für beide deutsche<br />

Staaten im Jahr 1976 <strong>in</strong> Kraft trat 52 .<br />

Dadurch, dass die <strong>DDR</strong> ab 1974 zu den<br />

Unterzeichnerstaaten <strong>der</strong> AEMR und des<br />

IPbpR wurde, war sie völkerrechtlich an die<br />

Menschenrechtsgarantien dieser Dokumente<br />

gebunden. Diese B<strong>in</strong>dung wurde mit <strong>der</strong> Unterzeichnung<br />

<strong>der</strong> KSZE-Schlussakte von Hels<strong>in</strong>ki<br />

im Jahr 1975 noch e<strong>in</strong>mal bekräftigt.<br />

Gleichzeitig wies die <strong>DDR</strong> westliche Kritik an<br />

Menschenrechtsverletzungen <strong>in</strong> ihrem Staat<br />

vehement zurück. Die Rechtswissenschaft<br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> entwickelte folgende Strategie, um<br />

mit dieser Kritik nach <strong>in</strong>nen wie nach außen<br />

umzugehen. Zwar wurden völkerrechtliche<br />

Verträge wie die Internationalen Pakte von<br />

1966 als verb<strong>in</strong>dliches Recht e<strong>in</strong>geordnet,<br />

das die Mitgliedstaaten ab dem Zeitpunkt<br />

<strong>der</strong> Ratifizierung zur Umsetzung verpflichtet.<br />

Gleichzeitig aber verbat man sich e<strong>in</strong>e Kritik<br />

an <strong>der</strong> Menschenrechtspolitik <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> mit<br />

dem Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht<br />

<strong>der</strong> Völker, das im IPbpR ebenfalls garantiert<br />

wird. 53 Die Umsetzung <strong>der</strong> Menschenrechte<br />

51 Vgl. dazu Mampel 1982, Art. 30 <strong>DDR</strong>-Verf.<br />

Rn. 17.<br />

52 Internationaler Pakt für bürgerliche und<br />

politische Rechte v. 19.12.1966 – BGBl. II 1973, 1534.<br />

Beitritt <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> 1974: GBl. 1974, 57. Inkrafttreten<br />

des Paktes für die <strong>DDR</strong>: 23.3.1976 (GBl. 1976, 108).<br />

53 Vgl. Graefrath 1978, 331: „Sozialistische<br />

Grundrechte werden deshalb auch nicht an universellen<br />

<strong>in</strong>ternationalen Konventionen, son<strong>der</strong>n an<br />

den Gesetzmäßigkeiten des Aufbaus des Sozialismus<br />

gemessen.“ Ähnlich <strong>der</strong>s. 1977; siehe auch Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

für Völkerrecht 1981, 231 ff., 234 ff.;<br />

im nationalen Recht ersche<strong>in</strong>t nach dieser<br />

Lesart als <strong>in</strong>nerstaatliche Angelegenheit, <strong>in</strong><br />

die an<strong>der</strong>e Staaten o<strong>der</strong> die UNO sich nicht<br />

e<strong>in</strong>zumischen hatten. Innerstaatlich aber<br />

wurden die Menschenrechte im marxistischlen<strong>in</strong>istischen<br />

S<strong>in</strong>ne <strong>in</strong>terpretiert, mit dem<br />

Ergebnis, dass sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bereits verwirklicht<br />

seien. Die <strong>DDR</strong>-Rechtswissenschaft<br />

grenzt sich klar gegen die westliche Sicht <strong>der</strong><br />

Menschenrechte ab und hält ihr das eigene<br />

Menschenrechtsverständnis kämpferisch<br />

entgegen. 54 Dar<strong>in</strong> wird die Vorstellung e<strong>in</strong>er<br />

universellen Menschenrechtskonzeption abgelehnt:<br />

Menschenrechte seien immer nur im<br />

H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>e bestimmte Gesellschaftssituation<br />

zu verstehen; sie seien „Klassenrechte“<br />

und damit auch nur relativ <strong>in</strong> Bezug<br />

auf die Klassenfrage <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er konkreten Gesellschaft<br />

zu verstehen. 55 Schließlich betont<br />

die <strong>DDR</strong> <strong>in</strong> ihrem Menschenrechtsverständnis<br />

die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen<br />

Rechte, vor allem das Recht auf materielle<br />

Existenzsicherung, auf Arbeit und auf<br />

Bildung. Diese, so die herrschende Me<strong>in</strong>ung,<br />

seien <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> voll verwirklicht, während<br />

sie im Westen gegenüber den politischen<br />

Rechten vernachlässigt würden. 56 So ist zu<br />

erklären, dass sich auch die völkerrechtlichen<br />

Menschenrechtserklärungen nicht zu e<strong>in</strong>em<br />

Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft 1977,<br />

228; Nie<strong>der</strong>meier 1986, 6.<br />

54 Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft<br />

1977, 227: „Es kann festgestellt werden, daß<br />

die Grundrechtswirklichkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> dem geltenden<br />

Völkerrecht voll entspricht und weit über dessen<br />

demokratische Gebote h<strong>in</strong>ausführt. Das ist um so<br />

bedeutsamer, als die vom demokratischen Völkerrecht<br />

für verb<strong>in</strong>dlich erklärten Menschenrechte <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> weltweiten Klassenause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung zwischen<br />

Sozialismus und Imperialismus e<strong>in</strong>e große Rolle spielen<br />

und e<strong>in</strong> wichtiges Kampfmittel für die Kräfte des<br />

Fortschritts und <strong>der</strong> Demokratie s<strong>in</strong>d.“ Siehe zu beiden<br />

Argumenten (Verwirklichung <strong>der</strong> Menschenrechte <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> und Missachtung <strong>der</strong> Menschenrechte <strong>in</strong> den<br />

„imperialistischen“ Staaten) auch Nie<strong>der</strong>meier 1986, 5.;<br />

55 Klenner 1978, 287: „Sozialistische Bürgerrechte<br />

normieren das historisch-konkrete Maß an<br />

Freiheit, das von den ökonomischen Möglichkeiten<br />

und politischen Notwendigkeiten (auch den außenpolitischen)<br />

bestimmt wird.“ Ebenso Zschiedrich 1978.<br />

56 Vgl. Poppe 1969, 10, 11; Zschiedrich 1978.<br />

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