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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

Gefahr im Verzuge und (2) als versuchsweise<br />

Fürsorgeerziehung (§ 67 Satz 2) zur Prüfung,<br />

ob die Fürsorgeerziehung Aussicht auf Erfolg<br />

bot. Zuständig für die Anordnung <strong>der</strong> vorläufigen<br />

Fürsorgeerziehung war vor 1952 das<br />

Vormundschaftsgericht, danach <strong>der</strong> Jugendhilfeausschuss<br />

des Kreisrates. Der Beschluss<br />

über die eilige Fürsorgeerziehung war sofort<br />

vollziehbar, d. h., Rechtsmittel hatten ke<strong>in</strong>e<br />

aufschiebende Wirkung (§ 70 Abs. 2 Satz 3<br />

RJWG). Die eilige Fürsorgeerziehung endete,<br />

wenn die endgültige Fürsorgeerziehung angeordnet<br />

o<strong>der</strong> abgelehnt worden war.<br />

Obwohl die eilige Fürsorgeerziehung als<br />

„vorläufig“ charakterisiert war, gab es <strong>in</strong> § 67<br />

RJWG ke<strong>in</strong>e Frist, <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong>er über e<strong>in</strong>e<br />

endgültige Fürsorgeerziehung hätte entschieden<br />

werden müssen. Nach 1953 allerd<strong>in</strong>gs<br />

wird § 67 RJWG von e<strong>in</strong>er neuen Rechtsgrundlage<br />

über e<strong>in</strong>stweilige Anordnungen<br />

überlagert: 159 Nach § 3 Abs. 5 <strong>der</strong> DfB zur<br />

„Verordnung über die Übertragung <strong>der</strong> Angelegenheiten<br />

<strong>der</strong> freiwilligen Gerichtsbarkeit“<br />

(Fn. 132) konnten sie erlassen werden, wenn<br />

e<strong>in</strong>e akute Gefahr für Leben o<strong>der</strong> Gesundheit<br />

des K<strong>in</strong>des bestand. Mit <strong>der</strong> e<strong>in</strong>stweiligen<br />

Verfügung wurde das K<strong>in</strong>d aus <strong>der</strong> Familie<br />

herausgenommen. Zu diesem Zweck konnte<br />

das Sorgerecht <strong>der</strong> Eltern ausgesetzt o<strong>der</strong><br />

aber das Aufenthaltsbestimmungsrecht<br />

entzogen werden. Als sachliche Rechtfertigung<br />

für die e<strong>in</strong>stweilige Verfügung wird<br />

<strong>der</strong> Auftrag <strong>der</strong> staatlichen Organe zur<br />

Überwachung des elterlichen Sorgerechts angeführt.<br />

160 Zuständig war <strong>der</strong> Referatsleiter<br />

für Jugendhilfe und <strong>Heimerziehung</strong>. Diese<br />

e<strong>in</strong>stweiligen Anordnungen hatten, wenn öffentliche<br />

Erziehung angeordnet wurde, e<strong>in</strong>e<br />

Verfallsdauer von drei Monaten. Bis dah<strong>in</strong><br />

musste e<strong>in</strong>e endgültige Entscheidung getroffen<br />

werden. 161<br />

159 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung 1953, 29.<br />

160 MfV 1953, 59.<br />

161 Wortlaut des § 3 Abs. 5 DfB 1953: „Bei<br />

Gefahr im Verzuge ist <strong>der</strong> Referatsleiter für Jugendhilfe<br />

und <strong>Heimerziehung</strong> berechtigt, vorläufige<br />

Anordnungen zu treffen. Diese Maßnahmen gelten<br />

bis zur Beratung im Jugendhilfebeirat als vorläufige<br />

Maßnahmen. Für den endgültigen Beschluß gilt <strong>der</strong><br />

ordentliche Verfahrensweg. Der endgültige Beschluß<br />

5.1.1.2 Die Jahre 1965 bis 1989<br />

In den Jahren 1965 und 1966 wurden das<br />

Familienrecht und das Jugendhilferecht <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> grundlegend reformiert. Die bis<br />

dah<strong>in</strong> geltenden Regelungen des BGB und<br />

des RJWG traten außer Kraft. An ihre Stelle<br />

traten die Regelungen des Familiengesetzbuches<br />

(FGB) und <strong>der</strong> Jugendhilfeverordnung<br />

(JHVO). 162 Die zentrale Rechtsgrundlage für<br />

die Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> durch<br />

die Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe waren seither –<br />

und unverän<strong>der</strong>t bis 1989 – § 50 FGB i. V.<br />

m. § 23 JHVO. Die frühere Unterscheidung<br />

zwischen Maßnahmen bei K<strong>in</strong>deswohlgefährdung<br />

nach BGB und Fürsorgeerziehung<br />

nach RJWG war damit aufgehoben. Jedenfalls<br />

für die Zeit kurz nach Erlass <strong>der</strong> neuen<br />

Vorschriften ist dokumentiert, dass nicht bei<br />

allen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n zu je<strong>der</strong> Zeit deutlich war,<br />

auf welche Rechtsgrundlage sich ihre Heimunterbr<strong>in</strong>gung<br />

stützte. 163<br />

§ 50 FGB lautete:<br />

„S<strong>in</strong>d die Erziehung und Entwicklung o<strong>der</strong><br />

die Gesundheit des K<strong>in</strong>des gefährdet und<br />

auch bei gesellschaftlicher Unterstützung<br />

<strong>der</strong> Eltern nicht gesichert, hat das Organ <strong>der</strong><br />

Jugendhilfe nach beson<strong>der</strong>en gesetzlichen<br />

Bestimmungen Maßnahmen zu treffen. Das<br />

gilt auch dann, wenn wirtschaftliche Interessen<br />

des K<strong>in</strong>des gefährdet s<strong>in</strong>d. Das Organ <strong>der</strong><br />

Jugendhilfe kann den Eltern o<strong>der</strong> dem K<strong>in</strong>d<br />

Pflichten auferlegen o<strong>der</strong> Maßnahmen zu<br />

se<strong>in</strong>er Erziehung treffen, die zeitweilig auch<br />

außerhalb des Elternhauses durchgeführt<br />

werden können. Das Organ <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />

kann das K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Angelegenheiten<br />

selbst vertreten o<strong>der</strong> zur Wahrnehmung<br />

dieser Angelegenheiten e<strong>in</strong>en Pfleger<br />

bestellen.“<br />

Der vollständige Entzug des Sorgerechts war<br />

ist grundsätzlich <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Monats herbeizuführen,<br />

Überschreitungen dieser Frist bedürfen <strong>der</strong><br />

Genehmigung des Abteilungsleiters. Bei vorläufiger<br />

Anordnung <strong>der</strong> öffentlichen Erziehung kann die Frist<br />

drei Monate betragen.“<br />

162 Fn. 100.<br />

163 Möwert & Waldmann 1968, 18.<br />

nur aufgrund e<strong>in</strong>er gerichtlichen Entscheidung<br />

möglich (§ 51 Abs. 1 FGB). Die <strong>Heimerziehung</strong><br />

g<strong>in</strong>g jedoch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht mit<br />

<strong>der</strong> vollständigen Aufhebung <strong>der</strong> elterlichen<br />

Sorge e<strong>in</strong>her. Sie gehörte daher zu den Maßnahmen,<br />

die nach § 23 JHVO die Organe<br />

<strong>der</strong> Jugendhilfe selbst anordnen konnten. In<br />

dieser Vorschrift hieß es:<br />

„(1) S<strong>in</strong>d die Erziehung und Entwicklung<br />

o<strong>der</strong> die Gesundheit M<strong>in</strong><strong>der</strong>jähriger gefährdet<br />

und auch bei gesellschaftlicher und staatlicher<br />

Unterstützung <strong>der</strong> Erziehungsberechtigten<br />

nicht gesichert, kann <strong>der</strong> Jugendhilfeausschuß<br />

<strong>in</strong> Wahrnehmung se<strong>in</strong>er Aufgaben<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e […]<br />

f. für den M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen die <strong>Heimerziehung</strong><br />

anordnen,<br />

g. für Jugendliche die Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />

im Spezialheim bed<strong>in</strong>gt unter<br />

Festlegung e<strong>in</strong>er Bewährungsfrist bis zur<br />

Dauer von 2 Jahren aussprechen.“<br />

5.1.1.2.1 Zuständigkeit und E<strong>in</strong>leitung des<br />

Verfahrens<br />

Für die Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />

waren nach § 18 JHVO 1966 die Organe <strong>der</strong><br />

Jugendhilfe auf Kreisebene zuständig. Dort<br />

wie<strong>der</strong>um waren es die Jugendhilfeausschüsse,<br />

die den Beschluss über die <strong>Heimerziehung</strong><br />

fassten, also Gremien aus ehrenamtlich tätigen<br />

Bürgern (§ 21 JHVO 1966).<br />

Die Verfahren wurden zumeist von Funktionsträgern<br />

<strong>in</strong> Gang gesetzt, die mit <strong>der</strong> Familie<br />

<strong>in</strong> Berührung gekommen waren, darunter<br />

die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfekommissionen,<br />

aber beispielsweise auch Schuldirektoren 164<br />

und die Organe, die Ordnungsstrafen nach<br />

dem Ordnungswidrigkeitengesetz verhängen<br />

konnten. 165 Antragsberechtigt waren<br />

auch alle Bürger, an<strong>der</strong>e staatliche Erziehungse<strong>in</strong>richtungen,<br />

die gesellschaftlichen<br />

Organisationen (also z. B. die FDJ), die<br />

Schieds- und Konfliktkommissionen <strong>in</strong> den<br />

Betrieben sowie die Organe <strong>der</strong> örtlichen<br />

Volksvertretungen. 166<br />

5.1.1.2.2 Erfassung „gefährdeter“ K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

und Jugendlicher<br />

E<strong>in</strong>e im Vergleich zu Westdeutschland<br />

bemerkenswerte Beson<strong>der</strong>heit des <strong>DDR</strong>-<br />

Rechtssystems ist das Bemühen darum,<br />

auffällige, gefährliche und gefährdete<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche möglichst früh und<br />

lückenlos zu erfassen. In Sachsen-Anhalt<br />

wurden die Jugendämter schon im Jahr<br />

1948 aufgefor<strong>der</strong>t, entsprechende Karteien<br />

anzulegen. 167 Kriterien, durch die e<strong>in</strong> Jugendlicher<br />

sich für die Aufnahme <strong>in</strong> diese<br />

Kartei qualifizieren konnte, wurden nicht<br />

genannt; allgeme<strong>in</strong> sollte die Kartei dem<br />

Zweck des Jugendschutzes dienen. Dafür<br />

verpflichtet das Rundschreiben zahlreiche<br />

öffentliche Stellen, Arbeitgeber und „an<strong>der</strong>e<br />

Interessierte“, Verstöße Jugendlicher gegen<br />

die Bestimmungen <strong>der</strong> Jugendschutzbestimmungen<br />

(„Verordnungen“) o<strong>der</strong> „beg<strong>in</strong>nende<br />

[…] Verwil<strong>der</strong>ungsersche<strong>in</strong>ungen“ an die Jugendämter<br />

zu melden. E<strong>in</strong>e ähnliche Auffor<strong>der</strong>ung<br />

erg<strong>in</strong>g noch e<strong>in</strong>mal im Jahr 1960. 168<br />

Ob solche Karteien vor 1965 tatsächlich<br />

geführt wurden, ist unklar. 169 Im Anschluss<br />

an das 11. Plenum von 1965 wurde die erste<br />

„Verordnung über die Aufgaben <strong>der</strong> örtlichen<br />

Räte und <strong>der</strong> Betriebe bei <strong>der</strong> Erziehung<br />

166 Vgl. Erläuterungsmaterial zur Anwendung<br />

<strong>der</strong> Richtl<strong>in</strong>ie Nr. 2 des Zentralen Jugendhilfeausschusses<br />

durch die Jugendhilfekommissionen v.<br />

23.4.1970, <strong>in</strong>: Jugendhilfe 8 (1970), 185-190 (hier 185<br />

f.).<br />

167 Rundschreiben Nr. 24/48 – 44 – des M<strong>in</strong>isters<br />

für Volksbildung des Landes Sachsen-Anhalt<br />

betreffend den Aufbau e<strong>in</strong>er Jugendschutzkartei vom<br />

1. Juni 1948. In: BArch DR 2/373. Siehe auch die Empfehlung<br />

im „Handbuch Jugendhilfe“ (M<strong>in</strong>isterium für<br />

Volksbildung 1953, 105), für Jugendliche, die gegen<br />

die Jugendschutzverordnung verstoßen, e<strong>in</strong>e Kartei<br />

anzulegen.<br />

168 Sachse 2010, 137.<br />

169 Vgl. die entsprechenden Zweifel bei Sachse<br />

2010, 137.<br />

164 § 34 <strong>der</strong> Verordnung über die Sicherung e<strong>in</strong>er<br />

festen Ordnung an den allgeme<strong>in</strong>bildenden Schulen –<br />

Schulordnung – v. 20.10.1967, GBl. 1967, 769.<br />

165 § 19 Abs. 5 OwiG v. 12. Januar 1968, GBl.<br />

46<br />

1968, 101.<br />

47

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