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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

verfügt wurde. Die <strong>Heimerziehung</strong> galt<br />

grundsätzlich als die mil<strong>der</strong>e Maßnahme<br />

gegenüber e<strong>in</strong>er strafrechtlichen Verurteilung.<br />

Es gab aber auch Fälle, <strong>in</strong> denen ke<strong>in</strong>e<br />

an<strong>der</strong>en Maßnahmen als die <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />

möglich waren, obwohl das Verhalten des<br />

K<strong>in</strong>des o<strong>der</strong> Jugendlichen e<strong>in</strong>en Straftatbestand<br />

erfüllte, beispielsweise dann, wenn<br />

das K<strong>in</strong>d nicht strafmündig (unter 14 Jahre<br />

alt) war o<strong>der</strong> als strafrechtlich nicht verantwortlich<br />

e<strong>in</strong>gestuft wurde. Es spricht<br />

daher viel dafür, die Grundsätze, die im<br />

Rehabilitationsrecht h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> auch<br />

jugendtypischen Delikte des „Rowdytums“,<br />

<strong>der</strong> „Asozialität“ und <strong>der</strong> „Zusammenrottung“<br />

bei Erwachsenen entwickelt wurden,<br />

auch hier zu berücksichtigen. Diese Delikte<br />

standen <strong>in</strong> dem Kapitel des StGB, <strong>in</strong> dem es<br />

um Straftaten gegen die öffentliche Ordnung<br />

g<strong>in</strong>g und können daher als politische Delikte<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weiteren S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>geordnet werden.<br />

440 H<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Rehabilitierung wird<br />

aber zu Recht betont, dass diese Straftatbestände<br />

e<strong>in</strong>en außerordentlich weiten und<br />

unbestimmten Inhalt hatten, <strong>der</strong> krim<strong>in</strong>elles<br />

Verhalten wie Sachbeschädigungen und Gewalttätigkeiten<br />

<strong>in</strong> Gruppen ebenso umfasste<br />

wie politisch motivierte o<strong>der</strong> staatlicherseits<br />

als politisch def<strong>in</strong>ierte Handlungen. Es ist<br />

folglich <strong>in</strong> jedem E<strong>in</strong>zelfall zu prüfen, ob<br />

diese Delikte politisch <strong>in</strong>strumentalisiert<br />

wurden o<strong>der</strong> nicht. 441<br />

440 Freiburg 1981, 275.<br />

441 Schwarze, <strong>in</strong>: Potsdamer Kommentar 1997,<br />

§ 1 StrRehaG Rn. 8, siehe aber ebd., Rn. 116, wo<br />

<strong>der</strong>selbe Autor das „asoziale Verhalten“ nicht als<br />

(mögliches) politisches Delikt, son<strong>der</strong>n als möglichen<br />

Fall für e<strong>in</strong> grobes Missverhältnis zwischen Tat und<br />

Rechtsfolge e<strong>in</strong>ordnet. Ebenso BVerfG, 13.2.2000 –<br />

2 BvR 2707/93. Vgl. auch Widmaier 1999, 302; Wermelskirchen<br />

2008, 344. Wenn bloße Nichtarbeit ohne<br />

weitere Schädigungen Dritter (z. B. durch Unterhaltsverletzungen)<br />

als asoziales Verhalten nach § 249 StGB<br />

geahndet wurde, ist dies als rechtsstaatswidrig und<br />

rehabilitierungsfähig anerkannt, vgl. OLG Brandenburg,<br />

14.3.2006 – 2 Ws (Reha) 14/05, NJ 2006, 420.<br />

6.1.2.1.3 Politische Kampagnen gegen<br />

Jugendkulturen<br />

H<strong>in</strong>sichtlich des „Rowdytums“ ist e<strong>in</strong>e<br />

politische Verfolgung bei den Kampagnen<br />

gegen westliche Jugendkulturen im Schrifttum<br />

anerkannt. 442 In <strong>der</strong> Rechtsprechung<br />

werden jedenfalls die Kampagnen gegen die<br />

sogenannte „Beat-Bewegung“ <strong>in</strong> den 1960er-<br />

Jahren als Maßnahmen <strong>der</strong> politischen<br />

Verfolgung gewertet. 443 Für die 1980er-Jahre<br />

wird h<strong>in</strong>gegen vertreten, dass „westliches“<br />

Auftreten ke<strong>in</strong> Verfolgungsgrund mehr gewesen<br />

sei. 444 Hier wird man vermutlich differenzieren<br />

müssen, weil beispielsweise Punks<br />

mit ihrer grundsätzlich eher arbeitsscheuen<br />

Lebenshaltung <strong>in</strong> dieser Zeit durchaus mit<br />

Repressionen belegt wurden. 445<br />

Allgeme<strong>in</strong> muss zur politischen Verfolgung<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> gesagt werden, dass es die Staatsführung<br />

selbst war, die jugendliches Protestverhalten<br />

politisierte und krim<strong>in</strong>alisierte.<br />

Auch <strong>in</strong> Westdeutschland wurden langhaarige<br />

Männer, die nicht regelmäßig zur Arbeit<br />

g<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong> den 1950er- und 1960er-Jahren<br />

als asozial und gefährdet stigmatisiert, ohne<br />

dass dieses Verhalten jedoch auch schon als<br />

staatsgefährdend gegolten hätte. In <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

wurden vergleichbare Ersche<strong>in</strong>ungen als<br />

Landgew<strong>in</strong>n des Klassenfe<strong>in</strong>des und Unterm<strong>in</strong>ierung<br />

<strong>der</strong> staatlichen Ordnung gewertet.<br />

Auch wenn die Jugendlichen selbst gar<br />

nicht politisch dachten, ordneten die <strong>DDR</strong>-<br />

Funktionäre <strong>der</strong>en Handlungen als politisch<br />

relevant e<strong>in</strong>. 446 Dies gilt im Übrigen auch für<br />

442 Schwarze, <strong>in</strong>: Potsdamer Kommentar 1997,<br />

§ 1 StrRehaG Rn. 110.<br />

443 KG Berl<strong>in</strong>, 6.8.2010 – 2 Ws 28/10 Reha.<br />

444 OLG Jena, 17.9.2010 – I Ws Reha 50/10.<br />

445 Vgl. Zimmermann 2004.<br />

446 Siehe allgeme<strong>in</strong> zur Politisierung unpolitisch<br />

geme<strong>in</strong>ten Verhaltens Neubert 1998, 28, und speziell<br />

zu den Jugendkulturen ebd., 129; siehe auch Wierl<strong>in</strong>g<br />

1994, 404: „Die Tatsache, daß die Erziehungsfunktionäre<br />

die oft diffusen Protestsignale geradezu<br />

zwanghaft <strong>in</strong> die Deutungsmuster des Kalten Krieges<br />

e<strong>in</strong>ordneten, machte die jugendlichen Subkulturen<br />

unausweichlich zu e<strong>in</strong>em politisch relevanten Protest,<br />

zu e<strong>in</strong>em wi<strong>der</strong>ständigen Spiel mit den Mächtigen, bei<br />

dem die Grenzen eng gesetzt und Grenzverletzungen<br />

Fluchtversuche aus <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, die bei M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen<br />

oft Abenteuerlust o<strong>der</strong> persönliche<br />

Probleme als H<strong>in</strong>tergrund hatten. Nichtsdestotrotz<br />

wurden sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> klar als politische<br />

Taten behandelt. 447<br />

Nicht schon als politische Verfolgung e<strong>in</strong>zuordnen<br />

ist h<strong>in</strong>gegen die allgeme<strong>in</strong>e Vorgabe<br />

<strong>der</strong> Pädagogik <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, die K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

zu sozialistischen Persönlichkeiten zu erziehen.<br />

448 Auch dies war zwar e<strong>in</strong> politisches<br />

Konzept, und Abweichungen wurde repressiv<br />

begegnet. Inhaltlich aber ist <strong>der</strong> Begriff so<br />

weit, dass alle möglichen Verhaltensweisen<br />

und Erziehungsmethoden damit vere<strong>in</strong>bar<br />

se<strong>in</strong> können o<strong>der</strong> auch nicht. Man muss<br />

also auch hier im E<strong>in</strong>zelfall prüfen, welche<br />

Handlungen mit dem Erziehungsziel <strong>der</strong><br />

sozialistischen Persönlichkeit gerechtfertigt<br />

wurden. Die Rechtsprechung berücksichtigt<br />

das staatliche Erziehungsziel beispielsweise<br />

dann, wenn es mit beson<strong>der</strong>s schwerwiegenden<br />

Methoden <strong>der</strong> Umerziehung verbunden<br />

ist, wenn es also wie <strong>in</strong> Torgau o<strong>der</strong> Rü<strong>der</strong>sdorf<br />

um nichts an<strong>der</strong>es mehr g<strong>in</strong>g als darum,<br />

äußere Anpassung durch Gewalt und Demütigung<br />

zu erzw<strong>in</strong>gen. 449 E<strong>in</strong>e solche Behandlung<br />

ist aber auch dann menschenrechtswidrig,<br />

wenn das Erziehungsziel nicht „sozialistische<br />

Persönlichkeit“ heißt. Zu bedenken<br />

ist dabei, dass das enge Menschenbild des<br />

SED-Staates e<strong>in</strong> wesentlicher Grund für die<br />

rigide Verfolgung „abweichenden“ Verhaltens<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> war. Nicht nachvollziehbar<br />

ist es daher, wenn das OLG Naumburg die<br />

Zurichtung auf die „sozialistische Persönlichkeit“<br />

<strong>in</strong> Heimen als vollkommen irrelevant<br />

bewertet und behauptet, es sei überhaupt<br />

nicht klar, was damit eigentlich geme<strong>in</strong>t war<br />

(siehe dazu beispielsweise oben Kap. 3.2). 450<br />

deshalb leicht herbeizuführen waren.“<br />

447 Vgl. Wierl<strong>in</strong>g 1994, 412; Neubert 1998, 28.<br />

448 OLG Jena, 17.9.2010 – I Ws Reha 50/10. OLG<br />

Naumburg, 22.10.2010 – 2 Ws (Reh) 8/10.<br />

449 KG Berl<strong>in</strong>, 6.8.2010 – 2 Ws 28/10 Reha.<br />

450 OLG Naumburg, 22.10.2010 – 2 Ws (Reh)<br />

8/10: „Soweit <strong>der</strong> Betroffene im Zuge se<strong>in</strong>er Verfassungsbeschwerde<br />

gegen den Beschluss des ersten<br />

Senats für Rehabilitierungssachen vom 10. März 2008<br />

geme<strong>in</strong>t hat, ihm sei sachwidrig e<strong>in</strong> sozialistisches<br />

Menschenbild aufgezwungen worden, vermag <strong>der</strong><br />

Se<strong>in</strong>e weitergehenden Ausführungen, nach<br />

denen M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige ke<strong>in</strong>en Anspruch<br />

auf die Erziehung auf bestimmte Ziele h<strong>in</strong><br />

hätten, weil darüber die Erziehungsberechtigten<br />

bestimmten, zeugen zudem von e<strong>in</strong>er<br />

unkritischen Gleichsetzung <strong>der</strong> Heim- mit<br />

<strong>der</strong> Familienerziehung: Nach Art. 6 Abs. 2<br />

GG s<strong>in</strong>d es die Eltern, die Erziehungsziele<br />

und -methoden frei wählen können, nicht<br />

aber alle Erziehungsberechtigten. Der Staat<br />

hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er freiheitlichen und rechtsstaatlichen<br />

Ordnung gerade nicht die Befugnis, e<strong>in</strong><br />

bestimmtes Erziehungsziel vorzugeben, auch<br />

nicht <strong>in</strong> staatlichen Institutionen und auch<br />

dann nicht, wenn er selbst die Erziehungsrechte<br />

für e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d <strong>in</strong>nehat.<br />

6.1.2.2 Sachfremde Zwecke<br />

Allgeme<strong>in</strong> gesprochen dient e<strong>in</strong>e Maßnahme<br />

sachfremden Zwecken, wenn sie nicht dem<br />

Zweck dient, dem sie nach ihrer gesetzlichen<br />

Zweckbestimmung o<strong>der</strong> nach ihrer<br />

Begründung im E<strong>in</strong>zelfall dienen soll. 451 Die<br />

Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> sollte nach<br />

dem Recht <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> alle<strong>in</strong> erzieherischen<br />

Zwecken dienen. Sachfremd ersche<strong>in</strong>t sie<br />

folglich dann, wenn sich h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> erzieherischen<br />

Begründung <strong>der</strong> Maßnahme an<strong>der</strong>e<br />

Zwecke verbergen. Als sachfrem<strong>der</strong> Zweck<br />

anerkannt ist mittlerweile die bloße gewalttätige<br />

Diszipl<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtsprechung:<br />

Die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> den GJWH Torgau diente<br />

immer sachfremden Zwecken, weil dieser im<br />

Senat nicht auszumachen, wor<strong>in</strong> sich dieses Menschenbild<br />

von an<strong>der</strong>en unterschied und <strong>in</strong> welcher<br />

H<strong>in</strong>sicht <strong>der</strong> Betroffene hierdurch e<strong>in</strong>er politischen<br />

Verfolgung o<strong>der</strong> sachwidrigen Maßnahme ausgesetzt<br />

gewesen se<strong>in</strong> soll. Wie <strong>der</strong> Senat bereits an an<strong>der</strong>er<br />

Stelle mehrfach betont hat, gibt es ke<strong>in</strong> Recht e<strong>in</strong>es<br />

M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen nicht o<strong>der</strong> nach bestimmten Grundsätzen<br />

erzogen zu werden. Die Entscheidung über<br />

die Erziehung obliegt vielmehr den Erziehungs- bzw.<br />

Sorgeberechtigten, solange dies nicht zu e<strong>in</strong>er Gefährdung<br />

des K<strong>in</strong>deswohls führt.“<br />

451 Vgl. Schrö<strong>der</strong>, <strong>in</strong>: Bruns, Schrö<strong>der</strong> und Tappert<br />

1993, § 2 StrRehaG [a.F.] Rn. 17: „E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung<br />

aus sachfremden Gründen liegt vor, wenn sie nicht<br />

gedeckt ist durch den üblichen rechtsstaatskonformen<br />

Zweck e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>weisung.“<br />

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