Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
Persönlichkeitsentwicklung konnten bereits<br />
bei „e<strong>in</strong>em direkten Wi<strong>der</strong>stand gegen die<br />
erzieherischen E<strong>in</strong>flüsse“ notwendig werden.<br />
Es gibt nach Makarenko e<strong>in</strong>e „moralisch<br />
begründete theoretische Behauptung, (...),<br />
die das R<strong>in</strong>gen um Diszipl<strong>in</strong>iertheit bestimmen<br />
muss. Sie lautet: „Die Interessen<br />
des Kollektivs stehen höher als die <strong>der</strong><br />
Persönlichkeit“. 489 Von dieser Prämisse ausgehend<br />
ist das Wesen <strong>der</strong> Schwererziehbarkeit<br />
als „Defektivität <strong>der</strong> sozialen Beziehungen“<br />
bestimmt worden. Diese Formel, die von<br />
Mannschatz und an<strong>der</strong>en im Anschluss an<br />
Makarenko gebraucht wurde, drückt Beziehungsstörung<br />
aus. 490 Makarenko ist <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Aufsatz „Über die Explosion“<br />
(1938) zwar vehement dafür e<strong>in</strong>getreten,<br />
dass mit „Defektivität“ ke<strong>in</strong>e mechanische<br />
Bewusstse<strong>in</strong>sbeschädigung des E<strong>in</strong>zelnen<br />
geme<strong>in</strong>t sei. Er verlagert die Ursache für den<br />
Defekt aber dennoch <strong>in</strong>s Individuum. Die<br />
„Defektivität <strong>der</strong> sozialen Beziehungen“ ist<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fehlerhaften („herabgem<strong>in</strong><strong>der</strong>ten“)<br />
Vorstellung des Individuums von <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
begründet 491 und diese herabgem<strong>in</strong><strong>der</strong>te<br />
Vorstellung ist genauer bestimmbar. Sie<br />
besteht dar<strong>in</strong>, dass das e<strong>in</strong>zelne Bewusstse<strong>in</strong><br />
von se<strong>in</strong>er Rolle und Stellung im Kollektiv<br />
e<strong>in</strong>e Vorstellung hat, die den Kollektiv<strong>in</strong>teressen<br />
nicht dienen und mit ihnen nicht übere<strong>in</strong>stimmen.<br />
Das führt zu „ungerechtfertigten<br />
Ansprüchen“ an das Kollektiv und damit<br />
ist <strong>der</strong> Angriffspunkt für die Umerziehung<br />
bezeichnet. Denn ungerechtfertigte Ansprüche<br />
an das Kollektiv bedeuten die Infragestellung<br />
<strong>der</strong> oben zitierten Maxime, nach <strong>der</strong> die<br />
Interessen des Kollektivs höherwertiger als<br />
Individual<strong>in</strong>teressen s<strong>in</strong>d. Ungerechtfertigte<br />
Interessen an das Kollektiv s<strong>in</strong>d – ohne dass<br />
die pädagogische Literatur <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> die Frage<br />
aufgeworfen hat, wer über die Berechtigung<br />
von Ansprüchen entscheidet – gleichzusetzen<br />
mit Individualismus, zeichnen also die Haltung<br />
des kapitalistischen Menschen aus. 492<br />
489 Makarenko, 1952, S. 8.<br />
490 Makarenko, 1989, S. 633; Mannschatz, 1968,<br />
S. 6.<br />
491 Makarenko, 1989, S. 633.<br />
492 „Denk- und Verhaltensweise bzw.<br />
An diesem Punkt s<strong>in</strong>d die Unterschiede von<br />
politischen, sozialpädagogischen und gesundheitlichen<br />
Aspekten theoretisch <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
verwoben und bilden das Phänomen<br />
<strong>der</strong> Schwererziehbarkeit. Denn „diese <strong>in</strong>dividualistische<br />
Gerichtetheit ist offensichtlich<br />
<strong>der</strong> Kern <strong>der</strong> psychischen Beson<strong>der</strong>heiten<br />
Schwererziehbarer“. 493<br />
Die Korrektur dieses komplexen Erziehungsproblems<br />
bedarf ke<strong>in</strong>es sensiblen<br />
Hilfeplans, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Umerziehung. E<strong>in</strong>en<br />
pädagogischen Weg dafür beschreibt Mannschatz<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em genannten Aufsatz nicht.<br />
Aber die Korrekturen <strong>der</strong> „<strong>in</strong>dividualistischen<br />
Gerichtetheit“ zielen auf Unterwerfung,<br />
das E<strong>in</strong>schleifen von Ordnungsreflexen<br />
und die E<strong>in</strong>ordnung <strong>in</strong>s Kollektiv.<br />
4.6 Das M<strong>in</strong>isterium für Staatssicherheit<br />
und die <strong>Heimerziehung</strong><br />
Die Behandlung des M<strong>in</strong>isteriums für<br />
Staatssicherheit an dieser Stelle bedarf<br />
ke<strong>in</strong>er Rechtfertigung. Im Laufe <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-<br />
Geschichte haben ca. 600.000 Menschen bei<br />
<strong>der</strong> Staatssicherheit gearbeitet, gegen 1989<br />
kamen auf 100 E<strong>in</strong>wohner 1 Inoffizieller<br />
Mitarbeiter. 494 Über das Ausmaß und die Systematik<br />
<strong>der</strong> Tätigkeit des M<strong>in</strong>isteriums für<br />
Staatssicherheit im Kontext <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
können hier jedoch noch ke<strong>in</strong>e sicheren<br />
Aussagen getroffen werden. Deshalb versteht<br />
sich dieser Abschnitt auch als Beispielsammlung.<br />
Deutlich werden soll e<strong>in</strong>erseits, wie<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Geheimdienst <strong>in</strong> den Heimen se<strong>in</strong>e<br />
Macht <strong>der</strong> erzieherischen Bee<strong>in</strong>flussung bot,<br />
und an<strong>der</strong>erseits – dies deutet auf den nächsten<br />
Abschnitt – dadurch se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss auf<br />
den Heimalltag ausübte.<br />
theo retische Auffassung, die das Individuum und die<br />
<strong>in</strong>dividuellen Interessen <strong>in</strong> abstrakten Gegensatz zur<br />
Gesellschaft und den gesellschaftlichen Interessen<br />
setzt“ (Klaus/Buhr, 1976, Bd. I, Art. Individualismus,<br />
S. 559).<br />
493 Mannschatz, 1979, S. 29.<br />
494 Wiegmann, 2007, S. 71.<br />
4.6.1 Ruhe und Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Informationsverbreitung<br />
Häufig bleibt unklar, was die Staatssicherheit<br />
mit den Informationen bezweckte. Zumeist<br />
aber geht es e<strong>in</strong>fach darum, Unruhe aufzulösen<br />
und Konflikte nicht öffentlich werden zu<br />
lassen.<br />
„Zur Zeit herrscht wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e relative Ruhe<br />
und Ordnung im Heim. Ich möchte e<strong>in</strong>schätzen,<br />
dass es <strong>in</strong> bestimmten Abständen wie<strong>der</strong> solche<br />
o<strong>der</strong> ähnliche Vorkommnisse (die Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
verließen bei e<strong>in</strong>er außerhalb des Heimes durchgeführten<br />
Jugendweiheveranstaltung „demonstrativ“<br />
den K<strong>in</strong>osaal“, Zus. d. Vf.) geben wird<br />
(...)“. 495<br />
E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Fall betrifft e<strong>in</strong>en Schäfer aus<br />
Neubrandenburg. Se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong> wurden <strong>in</strong>s<br />
Heim e<strong>in</strong>gewiesen und als er sich dadurch<br />
wehrte, dass er unvorsichtigerweise ankündigte,<br />
die Öffentlichkeit zu <strong>in</strong>formieren,<br />
wurde die Staatssicherheit aufmerksam.<br />
„Der Beschuldigte ist dr<strong>in</strong>gend verdächtig,<br />
die Tätigkeit staatlicher Organe durch Drohungen<br />
bee<strong>in</strong>trächtigt zu haben, <strong>in</strong>dem er am<br />
31.10.1985 während e<strong>in</strong>es Gespräches beim<br />
Rat des Kreises Neustrelitz, Abt. Innere Angelegenheiten,<br />
mit dem Ziel, die Entlassung se<strong>in</strong>er<br />
durch staatliche Entscheidung zur <strong>Heimerziehung</strong><br />
e<strong>in</strong>gewiesenen 2 K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong>s Elternhaus zu<br />
erzw<strong>in</strong>gen, androhte, am 1.11.1985 nach Berl<strong>in</strong><br />
zu fahren und so lange vor dem Staatsrat zu<br />
warten, bis se<strong>in</strong> Problem zu se<strong>in</strong>er Zufriedenheit<br />
geklärt ist.“ 496<br />
Die Staatssicherheit hat nicht alle<strong>in</strong> diese<br />
Verzweiflungstat unterbunden, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong><br />
Ermittlungsverfahren e<strong>in</strong>geleitet, das zur<br />
Inhaftierung führte.<br />
495 IM „Dieter Heide“, Informationen<br />
zu Problemen des K<strong>in</strong><strong>der</strong>heimes Wolmirstedt<br />
im Zusammenhang mit dem Vorkommnis am<br />
20/21.11.1986. In: BStU MfS BV Magdeburg KD<br />
Wolmirstedt, Nr. 372.<br />
496 Bezirksverwaltung für Staatssicherheit<br />
Neubrandenburg, Verfügung. In: BStU MfS Ast.<br />
Neubrandenburg III, Nr. 508/86.<br />
4.6.2 Inoffizielle Mitarbeiter <strong>in</strong> Heimen<br />
Die allgeme<strong>in</strong>e Aufgabenstellung <strong>der</strong> IM<br />
lautete zumeist, Informationen über Personal<br />
und Bewohner zu sammeln. Viele Informationen<br />
s<strong>in</strong>d trivial, nichtssagend und <strong>in</strong>terpretationsoffen.<br />
Wenn es jedoch heißt, dass die<br />
Mutter e<strong>in</strong>es Heimk<strong>in</strong>des „Nicht-Wähler<strong>in</strong>“<br />
ist o<strong>der</strong> dass die Eltern e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>des Westkontakte<br />
pflegen, dann s<strong>in</strong>d damit Informationen<br />
weitergegeben worden, die das Wohl und die<br />
Sicherheit des K<strong>in</strong>des gefährdeten.<br />
Die Spannbreite <strong>der</strong> Spitzeltätigkeit ist breit.<br />
Der Heimleiter des K<strong>in</strong><strong>der</strong>heims „Schlösschen“<br />
berichtet (zunächst als KP – Kontaktperson,<br />
später als GMS – gesellschaftlicher Mitarbeiter<br />
für Sicherheit) über die Frau e<strong>in</strong>es bekannten<br />
Dissidenten, die als Erzieher<strong>in</strong> im Heim tätig<br />
ist. Dass er sie kaum belastet, wird ihm als<br />
Schwäche ausgelegt – („Sympathie mit <strong>der</strong><br />
xxx“).<br />
„Der GMS ‚Adler‘ ist im Charakter zu weich<br />
und idealistisch. Er versteht es nicht, obwohl er<br />
Genosse ist und als solcher gut beurteilt wird, die<br />
politische Notwendigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zusammenarbeit<br />
mit dem MfS zu werten“. 497<br />
IM „Egemann“ beschreibt am 19.06.1989 jeden<br />
e<strong>in</strong>zelnen Kollegen des Hanno-Günt her-Heims<br />
Aschersleben mit Namen, Parteizugehörigkeit<br />
und Charakter. Noch am 4.10.1989 weiß er<br />
von Spannungen im Kollektiv zu berichten.<br />
„Inhaltliche Fragen, wie z. B. das Festlegen<br />
gezielter Maßnahmen für bestimmte K<strong>in</strong><strong>der</strong>, die<br />
kont<strong>in</strong>uierliche Arbeit, e<strong>in</strong>e gezielte Hospitation <strong>in</strong><br />
den Gruppen mit gründlicher Auswertung erfolgt<br />
(dagegen im Heim, Zus. d. Vf.) nicht.“ 498<br />
Die IM „Claudia“ berichtet von Erziehungsmethoden<br />
im Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim „Fritz Pawlowski“,<br />
die gegen die „Gesetze für die Erziehung<br />
<strong>in</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen verstoßen“.<br />
497 Treffbericht, 02.11.1976. In: BStU MfS HA<br />
XX/9, Nr. 1881.<br />
498 Schriftlicher Bericht vom 19.06.1989 zur<br />
augenblicklichen Entwicklung im K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim. In:<br />
BStU MfS BV Halle KD Aschersleben, Nr. 881.<br />
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