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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

4.7.2.3 Sexuelle Übergriffe<br />

Berichte über sexuelle Übergriffe s<strong>in</strong>d aus<br />

Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen, Jugendwerkhöfen und<br />

Jugendheimen, aber auch aus Durchgangsheimen<br />

bekannt. Wegen <strong>der</strong> Versuche, solche<br />

Vorfälle zu bagatellisieren o<strong>der</strong> zu verschweigen,<br />

s<strong>in</strong>d E<strong>in</strong>zelheiten aus <strong>in</strong>ternen Berichten<br />

kaum erkennbar. Im Folgenden werden e<strong>in</strong>ige<br />

Beispiele genannt, welche die vermutete<br />

Bandbreite andeuten.<br />

In e<strong>in</strong>er Reihe von Fällen sche<strong>in</strong>en sich<br />

sexuelle Beziehungen zwischen Erziehern<br />

und Insassen aufgrund <strong>der</strong> Tatsache ergeben<br />

zu haben, dass zwischen beiden teilweise nur<br />

e<strong>in</strong> sehr ger<strong>in</strong>ger Altersunterschied bestand.<br />

Verhältnisse dieser Art sche<strong>in</strong>en – obwohl<br />

sie strafbar waren – oft toleriert worden zu<br />

se<strong>in</strong>. G<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e Erzieher<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Verhältnis mit<br />

e<strong>in</strong>em Zögl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>, wurde dies eher skandalisiert<br />

als im umgekehrten Fall. 568<br />

In e<strong>in</strong>em Fall wurde die systematische Belästigung<br />

von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Normalheim<br />

durch den Heimleiter erst nach mehrfachen<br />

Beschwerden <strong>der</strong> Erzieher<strong>in</strong>nen des Heimes<br />

bearbeitet und – so zum<strong>in</strong>dest <strong>der</strong> E<strong>in</strong>druck<br />

nach Aktenlage – <strong>der</strong> Vertuschung durch den<br />

Heimleiter nichts entgegengesetzt. 569<br />

Sexuelle Kontakte mit weiblichen Insassen<br />

wurden durch das Personal offenbar auch<br />

durch Vergünstigungen erkauft. E<strong>in</strong> schwerwiegen<strong>der</strong><br />

Vorfall wurde vom M<strong>in</strong>isterium<br />

für Staatssicherheit aus dem Berl<strong>in</strong>er K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim<br />

Makarenko erfasst. Der damalige<br />

(1977) Sekretär <strong>der</strong> Komb<strong>in</strong>atsleitung hatte<br />

unter Ausnutzung se<strong>in</strong>er Garantenstellung<br />

Jungen und Mädchen sexuell missbraucht<br />

und ihnen unter Geldzahlungen nahegelegt,<br />

dass „sie ihn bei daraus entstehen<strong>der</strong> Vaterschaft<br />

nicht bei den zuständigen staatlichen<br />

Organen und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit anzeigen“.<br />

568 Vorgang vom Juli 1985: Sexuelle Kontakte<br />

e<strong>in</strong>er Erzieher<strong>in</strong> mit Heim<strong>in</strong>sassen. In: BLHA Rep. 801<br />

RdBCtb. 23621.<br />

569 Schriftwechsel mit Organen und E<strong>in</strong>richtungen<br />

(E<strong>in</strong>gaben) aus dem Bezirk Potsdam 1969<br />

bis 1983: Vorgang: Vorwürfe wegen unsittlichen<br />

Verhaltens des Heimleiters des K<strong>in</strong><strong>der</strong>heimes Falkensee<br />

vom 3. Januar bis 16. April 1979. In: BArch DR<br />

2/51066.<br />

Diese Vorgänge waren im Heim bekannt<br />

und sollten durch Versetzung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim unterbunden werden. Erst nach<br />

e<strong>in</strong>er Anzeige kam es zu e<strong>in</strong>er Untersuchung,<br />

die mit Entlassungen und e<strong>in</strong>em Ausschluss<br />

aus <strong>der</strong> SED endete. 570<br />

Sexuelle Übergriffe wurden im Jahr 1964<br />

im Durchgangsheim Rostock-Bramow unter<br />

Nennung <strong>der</strong> Namen <strong>der</strong> Mitarbeiter bekannt.<br />

Im Bericht wurden Diszipl<strong>in</strong>arverfahren<br />

angekündigt, die Monate später zum<br />

Berichtszeitpunkt noch nicht e<strong>in</strong>geleitet<br />

waren. 571<br />

E<strong>in</strong> auch vom M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung<br />

erkanntes schwerwiegendes Problem<br />

bestand dar<strong>in</strong>, dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ganzen Reihe<br />

von Fällen Pädagogen an Heime<strong>in</strong>richtungen<br />

strafversetzt wurden, die sich sexuelle Verfehlungen<br />

zuschulden kommen lassen hatten<br />

(und damit teilweise an den E<strong>in</strong>richtungen<br />

<strong>der</strong> Jugendhilfe fortfuhren). 572<br />

In e<strong>in</strong>em Fall kann Homosexualität trotz<br />

Straffreiheit im S<strong>in</strong>ne des StGB als zentraler<br />

E<strong>in</strong>weisungsgrund <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Jugendwerkhof<br />

vermutet werden. 573<br />

570 „Beson<strong>der</strong>s negative unmoralische<br />

Verhaltensweisen zeigte <strong>der</strong> ehemalige Sekretär<br />

<strong>der</strong> Komb<strong>in</strong>atsleitung <strong>der</strong> SED, (Name geschwärzt),<br />

<strong>der</strong> unter Ausnutzung se<strong>in</strong>er damaligen Funktion<br />

als Fachberater und persönlicher Versprechungen<br />

weibliche Angestellte des Heimes und von ihm<br />

betreute Jugendliche zur Aufnahme <strong>in</strong>timer<br />

Beziehungen bewegte und ihnen Gel<strong>der</strong> zahlt,<br />

damit sie ihn bei daraus entstehen<strong>der</strong> Vaterschaft<br />

nicht bei den zuständigen Organen und <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit anzeigen.“ Informationen über<br />

Feststellungen zu Mängeln und Missständen im<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim „A. S. Makarenko“, die im Ergebnis <strong>der</strong><br />

Ermittlungsverfahren gegen die <strong>DDR</strong>-Bürger (Name<br />

geschwärzt) getroffen wurden, 03.11.1977. In: BStU<br />

MfS BV Berl<strong>in</strong> AKG, Nr. 1336.<br />

571 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung: Bericht über<br />

die Überprüfung <strong>der</strong> Durchgangse<strong>in</strong>richtung Rostock-<br />

Bramow, vom 30. Januar 1964. In: BArch DR 2/<br />

60997.<br />

572 Korzilius, 2005, S. 354. Und: Blask/Geißler/<br />

Scholze, 1997, S. 78 und 81.<br />

573 E<strong>in</strong>gabe vom Juli 1977 von Frau B. aus<br />

Spremberg an den Generalstaatsanwalt <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>,<br />

E<strong>in</strong>weisungsverfahren und Gründe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Jugendwerkhof betreffend. In: BArch DR 2/27222.<br />

E<strong>in</strong> bisher auch von Zeitzeugen weitgehend<br />

tabuisiertes Thema stellt <strong>der</strong> sexuelle Missbrauch<br />

unter den (vorwiegend männlichen)<br />

Insassen dar, auf dessen kompliziertes Bed<strong>in</strong>gungsgefüge<br />

hier nur pauschal h<strong>in</strong>gewiesen<br />

werden kann. 574 Verbreitet war vermutlich sexueller<br />

Missbrauch von männlichen Insassen<br />

untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, wie er <strong>in</strong> Anstalten bekannt<br />

ist. 575 Hier ist mit e<strong>in</strong>em erheblichen Gewaltpotenzial<br />

zu rechnen. 576 Es gibt aber auch<br />

Zeitzeugen, die <strong>der</strong>artige Erfahrungen trotz<br />

langjähriger Heimaufenthalte nicht gemacht<br />

haben. 577<br />

4.7.2.4 Suizide<br />

Vollzogene Suizide wurden <strong>in</strong>nerhalb des<br />

Apparates <strong>der</strong> Volksbildung rout<strong>in</strong>emäßig<br />

unter <strong>der</strong> Rubrik „beson<strong>der</strong>e Vorkommnisse“<br />

gemeldet. Zu diesem Bereich zählten auch<br />

bewusste Selbstverletzungen, die zu e<strong>in</strong>er<br />

Entlastung beispielsweise durch e<strong>in</strong>en Krankenhausaufenthalt<br />

führen sollten. 578<br />

Da die Meldungen <strong>in</strong> den Archiven nicht<br />

vollständig erhalten s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d quantitative<br />

Abschätzungen nicht möglich. Vollzogene Suizide<br />

wurden, soweit bisher erkennbar, auch<br />

zum Anlass genommen, Erziehungspraktiken<br />

zu überdenken. E<strong>in</strong>e Reihe von Suiziden und<br />

Suizidversuchen aus dem Geschlossenen<br />

Jugendwerkhof Torgau wird hier nicht berücksichtigt,<br />

da hier e<strong>in</strong>e Ausnahmesituation<br />

vorausgesetzt werden muss, die e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong><br />

Erklärung bedarf.<br />

E<strong>in</strong>er geson<strong>der</strong>ten Untersuchung bedürfen<br />

Suizide und Suizidversuche <strong>in</strong> den<br />

574 Schikora, 1997, S. 214 und 251. Und: E<strong>in</strong>gabe<br />

über die Zustände und Erziehungsmethoden im<br />

Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim „Wilhelm Pieck“ <strong>in</strong> Pritzhagen vom<br />

15. Februar 1988. In: BArch DR 2/51103 Teil 2.<br />

575 E<strong>in</strong>gabe über die Zustände und Erziehungsmethoden<br />

im Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim „Wilhelm Pieck“<br />

<strong>in</strong> Pritzhagen vom 15. Februar 1988. In: BArch DR<br />

2/51103 Teil 2.<br />

576 Schikora, 1997, S. 214.<br />

577 Zeitzeugengespräch mit R. M. aus L. am<br />

22. Juni 2010. In: Archiv Christian Sachse db8274.<br />

578 Liste beson<strong>der</strong>er Vorkommnisse an den<br />

Jugendwerkhöfen <strong>in</strong> den Jahren 1977 und 1978 (ohne<br />

Datum, Ende 1978). In: BArch DR 2/12293.<br />

Son<strong>der</strong>heimen. Sie wurden dort als Teil <strong>der</strong><br />

Verhaltensstörungen verstanden: „abnorme<br />

Gewohnheitsbildungen und Reaktionen wie<br />

E<strong>in</strong>nässen, E<strong>in</strong>koten, Schreikrämpfe ohne<br />

Anlaß, Tobsuchtsanfälle, Tic-Ersche<strong>in</strong>ungen,<br />

chronisches Weglaufen – verbunden mit uns<strong>in</strong>nigen<br />

o<strong>der</strong> gefährlichen Handlungen […]<br />

Suizidabsichten, laufenden Suiziddrohungen<br />

und demonstrative Versuche.“ 579<br />

Nach sehr unvollständigen Erkenntnissen<br />

lassen sich im Bereich versuchter Suizide<br />

bestimmte Muster f<strong>in</strong>den, wie Pädagogen<br />

und Mitarbeiter <strong>der</strong> Jugendhilfe damit umgegangen<br />

s<strong>in</strong>d. Auffällig ist das Erklärungsmuster<br />

des „vorgetäuschten Suizidversuches“.<br />

Er wurde z. T. <strong>in</strong> zynischer Weise als „Versuch<br />

<strong>der</strong> Erpressung“ <strong>in</strong>terpretiert, während<br />

den Betroffenen ke<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Ausweg<br />

offenstand. 580<br />

Deutlich ist, dass Erzieher <strong>in</strong> <strong>der</strong>artigen<br />

Fällen überfor<strong>der</strong>t waren. E<strong>in</strong>em Mädchen,<br />

das unter dem Druck des Jugendwerkhofes<br />

autoaggressive Tendenzen mit manifesten<br />

Selbstmordabsichten entwickelte, versuchte<br />

e<strong>in</strong>e Erzieher<strong>in</strong> durch „gutes Zureden“ zu<br />

helfen. Dieser Versuch führte dazu, dass das<br />

Mädchen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Nervenkl<strong>in</strong>ik e<strong>in</strong>gewiesen<br />

wurde. 581 Weitere Berichte zeigen, dass das<br />

Erziehungspersonal sehr unterschiedlich<br />

reagierte. 582<br />

579 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung, Sekretariat<br />

des M<strong>in</strong>isters: Auszug aus dem Protokoll <strong>der</strong><br />

Dienstbesprechung vom 24. April 1984, TOP 2:<br />

Analyse und Standpunkte zur weiteren Entwicklung<br />

des Komb<strong>in</strong>ats <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>heime. In: BArch DR<br />

2/12325.<br />

580 E<strong>in</strong>gaben zu E<strong>in</strong>weisungen <strong>in</strong> Heime,<br />

Jugendwerkhöfe (Entweichungen, Behandlung,<br />

Beschlüsse) aus dem Jahr 1981–1983. Hilferuf und<br />

Suizidversuch vom 16. März 1983. In: BArch SAPMO<br />

DY 30/5899.<br />

581 Zeitzeugengespräch mit Erzieher<strong>in</strong> E. von<br />

1997. In: Blask/Geißler/Scholze 1997, S. 206.<br />

582 Briefe von entwichenen Zögl<strong>in</strong>gen aus dem<br />

Jugendwerkhof Wittenberg, <strong>der</strong>en Beziehungen<br />

unterdrückt worden s<strong>in</strong>d, vom Oktober 1982.<br />

In: BArch DR 2/51152.E<strong>in</strong>gabe von R. C. zu den<br />

Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen im Durchgangsheim Alt-Stralau<br />

(ohne Datum, etwa Oktober 1986). In: BArch DR<br />

2/51103 Teil 2. E<strong>in</strong>gaben zu E<strong>in</strong>weisungen <strong>in</strong> Heime,<br />

Jugendwerkhöfe (Entweichungen, Behandlung,<br />

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