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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

ungeschriebene Verhaltensregeln verstießen,<br />

von <strong>der</strong> gesamten Gruppe verprügelt wurden,<br />

ohne dass die Erzieher e<strong>in</strong>schritten. 390 In<br />

diesem Zusammenhang wird auch von<br />

sexuellem Missbrauch durch ältere Zögl<strong>in</strong>ge<br />

berichtet. 391<br />

Doch waren die Heimgruppen nicht nur<br />

für körperliche Übergriffe verantwortlich,<br />

son<strong>der</strong>n hatten unter Umständen auch das<br />

Mandat, e<strong>in</strong>zelne Gruppenmitglie<strong>der</strong> vor <strong>der</strong><br />

Geme<strong>in</strong>schaft zu demütigen, etwa <strong>in</strong> Verfahren<br />

<strong>der</strong> „Selbstkritik“ o<strong>der</strong> <strong>der</strong> „Gruppenkritik“.<br />

In diesem Zusammenhang spielen auch<br />

die FDJ-Gruppen <strong>in</strong> den Heimen e<strong>in</strong>e Rolle,<br />

die ebenfalls befugt waren, Verstöße gegen<br />

die Heimordnung <strong>in</strong> ihren Versammlungen<br />

zu erörtern und Selbstkritik zu verlangen.<br />

5.3.4.4 Kontakt zur Familie, Postkontrolle<br />

In allen Heimen <strong>der</strong> Jugendhilfe bestanden<br />

außerordentlich rigide Besuchsregelungen,<br />

die rechtlich allerd<strong>in</strong>gs nach dem bisherigen<br />

Forschungsstand <strong>in</strong> dieser Form nicht vorgegeben<br />

waren. Dasselbe gilt für die flächendeckend<br />

betriebene Postkontrolle und Zensur,<br />

für die es ebenfalls ke<strong>in</strong>e ausdrückliche<br />

Rechtsgrundlage gegeben haben dürfte. Nur<br />

für die Durchgangsheime bestand e<strong>in</strong>e Regelung:<br />

Nach dem Entwurf für e<strong>in</strong>e „Anweisung<br />

über die Anordnung <strong>der</strong> Arbeitsrichtl<strong>in</strong>ie<br />

für Durchgangsheime“ von 1963 waren<br />

dort Besuche von Angehörigen grundsätzlich<br />

nicht erlaubt (Ziff. 18). Aus- und e<strong>in</strong>gehende<br />

Post wurde kontrolliert; entsprach e<strong>in</strong>e<br />

Postsendung nicht den Vorstellungen, wurde<br />

sie an das Kreisreferat Jugendhilfe weitergeleitet<br />

(Ziff. 21). Was dort damit geschah,<br />

wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Anweisung nicht erläutert. E<strong>in</strong>e<br />

ähnliche Regelung f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> „Anweisung<br />

über die Aufgaben und Arbeitsweise <strong>der</strong><br />

Durchgangsheime <strong>der</strong> Jugendhilfe“ aus dem<br />

Jahr 1985 (§ 2 Abs. 9), allerd<strong>in</strong>gs ohne die<br />

Weiterleitung <strong>der</strong> aussortierten Post an das<br />

Referat Jugendhilfe.<br />

390 Vgl. nur Sachse 2010, 95 f., und die H<strong>in</strong>weise<br />

auf entsprechende Prüfberichte bei Zimmermann<br />

2004, 345 ff.<br />

391 Vgl. Puls 2011, 80 ff.<br />

5.3.4.5 Gesundheitsversorgung,<br />

Medikamente, Schwangerschaften<br />

E<strong>in</strong> noch viel zu wenig erforschtes Terra<strong>in</strong> ist<br />

<strong>der</strong> gesamte Bereich <strong>der</strong> Gesundheitsversorgung<br />

<strong>in</strong> den Heimen. Dies betrifft zum e<strong>in</strong>en<br />

die Frage, ob die Gesundheitsversorgung<br />

<strong>in</strong> den Heimen ausreichend war. Brisanter<br />

noch s<strong>in</strong>d die H<strong>in</strong>weise aus <strong>der</strong> Forschungsliteratur<br />

und aus Zeitzeugenberichten,<br />

dass zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> den Son<strong>der</strong>heimen und<br />

möglicherweise auch <strong>in</strong> Spezialheimen <strong>der</strong><br />

Jugendhilfe offenbar <strong>in</strong> erheblichem Umfang<br />

Psychopharmaka gegeben wurden. In e<strong>in</strong>em<br />

Fachgespräch am 28.11.2011 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> berichtete<br />

die Expert<strong>in</strong> Ebb<strong>in</strong>ghaus von ihren<br />

Erkenntnissen, nach denen etwa die Hälfte<br />

<strong>der</strong> Insassen <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>heime Psychopharmaka<br />

erhielten, und wies darauf h<strong>in</strong>, dass<br />

bislang ke<strong>in</strong>e Erkenntnisse dazu vorliegen,<br />

um welche Medikamente es sich handelte,<br />

aufgrund welcher Diagnosen sie verordnet<br />

wurden und ob diese Diagnosen e<strong>in</strong>er kritischen<br />

Prüfung standhalten würden. Zimmermann<br />

weist <strong>in</strong> ihrer Untersuchung zur<br />

<strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> auf e<strong>in</strong>en Prüfbericht<br />

aus dem Jahr 1981 h<strong>in</strong>, <strong>in</strong> dem auch<br />

aus Jugendwerkhöfen berichtet wird, dass<br />

sogar die Mehrheit <strong>der</strong> Insassen (60 %) unter<br />

ruhigstellenden Medikamenten standen. 392<br />

E<strong>in</strong> weiteres Problem, das bislang nicht<br />

h<strong>in</strong>reichend untersucht wurde, ist <strong>der</strong><br />

Umgang mit Schwangerschaften <strong>in</strong> den<br />

Heimen. Zeitzeugen berichten von erzwungenen<br />

Schwangerschaftsabbrüchen und Adoptionsfreigaben<br />

<strong>in</strong> Heimen. 393 In <strong>der</strong> juristischen<br />

Literatur wird diese Problematik nicht<br />

wi<strong>der</strong>gespiegelt. Nach dem <strong>der</strong>zeitigen Stand<br />

<strong>der</strong> Forschung gab es nur für Durchgangsheime<br />

e<strong>in</strong>e Regelung, die sich überhaupt mit<br />

Schwangerschaften befasste. Danach sollten<br />

schwangere M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige so schnell wie<br />

möglich <strong>in</strong> ihre Elternhäuser o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Heime gebracht werden. Im Durchgangsheim<br />

392 Zimmermann 2004, 348 m. N.<br />

393 Diese Erfahrungen wurden auch von Prof.<br />

Dr. Ruth Ebb<strong>in</strong>ghaus im Fachgespräch am 28.11.2011<br />

aus ihren Interviews mit ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

bestätigt.<br />

selbst durften sie nur mit leichten Arbeiten<br />

beschäftigt werden. 394 Schwangerschaftsabbrüche<br />

o<strong>der</strong> Adoptionsfreigaben zu erzw<strong>in</strong>gen,<br />

dürfte zu ke<strong>in</strong>em Zeitpunkt mit geltendem<br />

Recht <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> übere<strong>in</strong>gestimmt haben.<br />

5.3.4.6 Heimalltag:<br />

Sicherheitsbestimmungen<br />

Über den Alltag <strong>in</strong> den Heimen <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />

ist aus den gesetzlichen Regelungen und<br />

<strong>der</strong> juristischen Literatur wenig Konkretes<br />

zu erfahren. E<strong>in</strong>e systematische Durchsicht<br />

<strong>der</strong> Hausordnungen <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Heime<br />

könnte hier weitere Erkenntnisse br<strong>in</strong>gen;<br />

dies war im Rahmen dieses Gutachtens<br />

jedoch nicht zu leisten. Lediglich für die<br />

Durchgangsheime und den Jugendwerkhof<br />

Torgau f<strong>in</strong>den sich spezielle Regelungen, die<br />

sich fast ausschließlich mit Sicherheitsbestimmungen<br />

o<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Diszipl<strong>in</strong> im<br />

Tagesablauf befassen. 395 Daraus lässt sich e<strong>in</strong><br />

Bild dieser Heime zeichnen, das kaum e<strong>in</strong>en<br />

Raum für den Schutz o<strong>der</strong> die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen lässt. Es dom<strong>in</strong>ieren<br />

die Diszipl<strong>in</strong>ierung und die Sicherung <strong>der</strong><br />

Anstalt. Auch die Freizeitgestaltung war <strong>in</strong><br />

den Heimen nicht frei, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> den Heimgruppen<br />

durchgeregelt. Sie stand zudem<br />

unter <strong>der</strong> Anleitung <strong>der</strong> FDJ (§ 4 HeimO<br />

1969). Zeit zur freien Verfügung hatten die<br />

Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> demnach nur selten.<br />

In den meisten Heimen gehörte auch die<br />

regelmäßige ideologische Erziehung <strong>in</strong> Form<br />

e<strong>in</strong>er „Zeitungsschau“ o<strong>der</strong> politischer Diskussionsrunden<br />

zum Tagesablauf.<br />

394 Ziff. 15e <strong>der</strong> Anweisung über die Anwendung<br />

<strong>der</strong> Arbeitsrichtl<strong>in</strong>ie <strong>in</strong> den Durchgangsheimen (1963).<br />

395 Vgl. z. B. Arbeitsordnung des Geschlossenen<br />

Jugendwerkhofes Torgau (Auszug, undatiert), <strong>in</strong>: Blask,<br />

Geißler & Scholze 1997, 25–30; Maßnahmen zur Gewährleistung<br />

<strong>der</strong> Sicherheit <strong>in</strong> Durchgangsheimen und<br />

-stationen <strong>der</strong> Jugendhilfe und während des Transports<br />

von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen [gestrichen: Entwurf,<br />

25. Mai 1961], Vertrauliche Dienstsache, BArch<br />

DR 2/60998.<br />

5.3.4.6.1 Spezielle Vorschriften für<br />

Durchgangsheime<br />

In <strong>der</strong> vertraulichen Anordnung über Sicherungsmaßnahmen<br />

<strong>in</strong> Durchgangsheimen<br />

f<strong>in</strong>den sich neben den Regelungen zur Isolierung<br />

von M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen weitere Vorschriften,<br />

die auf e<strong>in</strong>en streng reglementierten<br />

Alltag <strong>in</strong> diesen Heimen und e<strong>in</strong>e permanente<br />

Kontrolle <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen<br />

h<strong>in</strong>deuten. So wurden die Schlafräume<br />

nachts verschlossen (Ziff. I [4]) und während<br />

<strong>der</strong> Nachtruhe waren regelmäßige Kontrollgänge<br />

im Abstand von höchstens zwei<br />

Stunden vorgesehen (Ziff. I [6]). Die Kontrollgänge<br />

mussten zu zweit durchgeführt<br />

werden (Ziff. I [13]. Wurden die Erzieher<br />

nachts gerufen, mussten sie zu zweit <strong>in</strong> den<br />

Schlafsaal gehen und sich gegenseitig sichern<br />

(ebd.). Auch e<strong>in</strong> Diensthund durfte <strong>in</strong> den<br />

Durchgangsheimen gehalten werden (Ziff. I<br />

[14]). Insgesamt wecken diese Vorschriften<br />

die Assoziation e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>richtung, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

schwerkrim<strong>in</strong>elle Menschen festgehalten<br />

werden. Wenn man bedenkt, dass die Durchgangsheime<br />

für K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche aller<br />

Altersstufen gedacht waren, von denen die<br />

meisten nur von e<strong>in</strong>em Heim <strong>in</strong> e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es<br />

verlegt werden mussten, muten sie reichlich<br />

unverhältnismäßig an. Ähnlich kl<strong>in</strong>gen die<br />

Regelungen, die sich mit <strong>der</strong> Sicherheit <strong>der</strong><br />

Personen befassen, die die Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> das<br />

Durchgangsheim und von ihm weg transportierten<br />

(Ziff. II). Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> mussten vor dem<br />

Transport durchsucht werden, und die sogenannten<br />

„Zuführer“ mussten wie bei e<strong>in</strong>em<br />

Gefangenentransport allerlei Vorkehrungen<br />

treffen, um vor e<strong>in</strong>em Angriff geschützt zu<br />

se<strong>in</strong> und um Entweichungen während des<br />

Transports zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Ganz ähnliche<br />

Regelungen f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> den Sicherheitsbestimmungen<br />

aus dem Jahr 1970 (dort Ziff. 1<br />

und 2).<br />

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