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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

getroffen hatte (§ 50 Abs. 2 JHVO). Sie hatte<br />

ke<strong>in</strong>e aufschiebende Wirkung, d. h. die <strong>Heimerziehung</strong><br />

konnte während des Beschwerdeverfahrens<br />

schon vollzogen werden (§ 50<br />

Abs. 3 JHVO).<br />

Das Organ <strong>der</strong> Jugendhilfe, das die<br />

Entscheidung getroffen hatte, konnte sie<br />

zunächst selbst berichtigen, wenn es dies<br />

für angebracht hielt (§ 52 Abs. 1 JHVO). In<br />

<strong>der</strong> Regel war dies das Referat Jugendhilfe<br />

des Kreises. Wenn es <strong>der</strong> Beschwerde nicht<br />

stattgab, musste es diese Entscheidung gegenüber<br />

dem zuständigen Mitglied des Rates<br />

begründen. Das Ratsmitglied hatte dann zu<br />

entscheiden, ob das Organ <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />

die Angelegenheit selbst noch e<strong>in</strong>mal prüfen<br />

o<strong>der</strong> aber an das übergeordnete Organ abgeben<br />

sollte (§ 52 Abs. 2 JHVO). Das übergeordnete<br />

Organ <strong>der</strong> Jugendhilfe – zumeist<br />

das Referat Jugendhilfe auf Bezirksebene<br />

– konnte <strong>der</strong> Beschwerde stattgeben o<strong>der</strong> sie<br />

ablehnen; es konnte die Angelegenheit auch<br />

e<strong>in</strong> weiteres Mal an die untere Ebene zurückverweisen<br />

o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e eigene Entscheidung<br />

treffen (§ 52 Abs. 3 bis 5 JHVO). E<strong>in</strong>e Verschlechterung<br />

<strong>der</strong> Maßnahme war nicht zulässig.<br />

212 In seltenen Fällen wurden abgewiesene<br />

Beschwerden zur Entscheidung an das<br />

M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung weitergeleitet<br />

(§ 53 JHVO). Für alle diese Ebenen hat die<br />

historische Forschung nachgewiesen, dass<br />

<strong>der</strong> größte Teil <strong>der</strong> Beschwerden (bis zu 90 %)<br />

abgewiesen wurde. 213<br />

Weitere Rechtsmittel standen nicht zur<br />

Verfügung (§ 52 Abs. 7 JHVO). Die Entscheidung<br />

<strong>der</strong> Jugendhilfe über <strong>Heimerziehung</strong><br />

konnte folglich nicht gerichtlich überprüft<br />

werden. Erst zum 1.7.1989 wurde e<strong>in</strong> gerichtlicher<br />

Rechtsbehelf gegen Entscheidungen<br />

<strong>der</strong> Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe e<strong>in</strong>geführt. 214<br />

212 Vgl. Beschluss des Zentralen Jugendhilfeausschusses<br />

v. 23.4.1970, <strong>in</strong>: Jugendhilfe 8 (1970), 213.<br />

213 Vgl. Sachse 2010, 141 mit Bezug auf eigene<br />

Recherchen und speziell für die Beschwerden, die<br />

im MfV bearbeitet wurden auf BArch DR 2/7911 –<br />

MfV: Dienstbesprechung am 21.3.1967, TOP 10:<br />

Maßnahmen zur außerplanmäßigen Schaffung von<br />

Jugendwerkhofkapazitäten (mit Vorlage). Das zitierte<br />

Dokument hat mir nicht vorgelegen.<br />

214 § 52a JHVO <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fassung <strong>der</strong> Verordnung<br />

5.1.1.2.7 Vorläufige Maßnahmen und<br />

<strong>Heimerziehung</strong> „auf Bewährung“<br />

Die Möglichkeit, für K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche<br />

bei Gefahr im Verzuge vorläufig <strong>Heimerziehung</strong><br />

anzuordnen, war nach 1965 <strong>in</strong> § 22<br />

JHVO geregelt. Zuständig war <strong>der</strong> Leiter des<br />

Referats Jugendhilfe. Die vorläufige Anordnung<br />

verfiel nach acht Wochen automatisch.<br />

Zeitzeugen berichten aber, dass die Acht-<br />

Wochen-Frist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis überschritten<br />

wurde. 215<br />

Die JHVO gab den Organen <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />

auch die Möglichkeit, <strong>Heimerziehung</strong><br />

im Spezialheim für zwei Jahre „auf Bewährung“<br />

anzuordnen (§ 23 Abs. 1 Buchst. g<br />

JHVO).<br />

5.1.1.2.8 Insbeson<strong>der</strong>e: Anordnung <strong>der</strong><br />

Arbeitserziehung auf <strong>der</strong> Grundlage des<br />

§ 22 JHVO<br />

Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> vorläufigen<br />

Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> ist e<strong>in</strong>e kurze<br />

Periode beson<strong>der</strong>s hervorzuheben, <strong>in</strong> <strong>der</strong> auf<br />

<strong>der</strong> Grundlage des § 22 JHVO Maßnahmen<br />

<strong>der</strong> Arbeitserziehung gegen Jugendliche<br />

angeordnet wurden. Der H<strong>in</strong>tergrund waren<br />

Jugendkrawalle <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> im Jahr 1965 (sog.<br />

„Beat-Aufstände“). Im Zuge dieser Aufstände<br />

waren Jugendliche zu e<strong>in</strong>- bis dreiwöchigen<br />

Arbeitse<strong>in</strong>sätzen im Braunkohletagebau<br />

verurteilt worden, nachdem sie gegen die<br />

Bekämpfung westlicher Musik („Beat“)<br />

demonstriert hatten. Rechtsgrundlage war<br />

damals § 3 Abs. 2 <strong>der</strong> Verordnung über die<br />

Aufenthaltsbeschränkung. 216 Als Reaktion<br />

auf diese Ereignisse wurde im Jahr 1966 das<br />

Arbeits- und Erziehungslager Rü<strong>der</strong>sdorf bei<br />

v. 14.12.1988, GBl. 1988, 330 (wirksam ab 1.7.1989).<br />

Zum Verfahren nach <strong>der</strong> Rechtsmittelreform siehe das<br />

Gesetz über die Zuständigkeit und das Verfahren <strong>der</strong><br />

Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen<br />

vom 14.12.1988, GBl. 1988, 327 und Christoph<br />

1989.<br />

215 Vgl. die Fallschil<strong>der</strong>ung bei Sachse 2010,<br />

160 f. Siehe auch die kritischen Andeutungen bei<br />

Möwert & Waldmann 1968, 18.<br />

216 Vom 24.8.1961, GBl. 1961, 55. Siehe zu<br />

diesen Ereignissen Rauhut 1993, 147 f.<br />

Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gerichtet. Das Arbeitserziehungslager<br />

Rü<strong>der</strong>sdorf war dem M<strong>in</strong>isterium des<br />

Innern unterstellt, also ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung<br />

<strong>der</strong> Jugendhilfe, son<strong>der</strong>n des Strafvollzuges.<br />

Dennoch wurde zunächst § 22 JHVO als<br />

Rechtsgrundlage für die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> dieses<br />

Lager genutzt. 217<br />

Dieses Vorgehen wurde <strong>in</strong>tern für <strong>DDR</strong>-Verhältnisse<br />

ungewöhnlich scharf kritisiert: Der<br />

Generalstaatsanwalt <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bezeichnete es<br />

als „ungesetzlich“ 218 ; <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Aktennotiz <strong>der</strong><br />

Abteilung Jugendhilfe im Volksbildungsm<strong>in</strong>isterium<br />

wurde festgestellt, das Vorgehen<br />

wi<strong>der</strong>spreche den „Grundsätzen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>haltung<br />

<strong>der</strong> Gesetzlichkeit“. 219 In diesem Schreiben<br />

wurde auch darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass die „Genossen<br />

des MdI“ (Innenm<strong>in</strong>isterium) e<strong>in</strong>e gerichtliche<br />

Entscheidung über die E<strong>in</strong>weisung<br />

nach Rü<strong>der</strong>sdorf for<strong>der</strong>ten. Im Jahr 1967<br />

e<strong>in</strong>igten sich Justiz und Inneres auf e<strong>in</strong>e<br />

Lösung, das dem strafrechtlichen Charakter<br />

<strong>der</strong> Arbeitserziehung näher kam: 220 Nunmehr<br />

wurde e<strong>in</strong> gerichtliches Eilverfahren wegen<br />

„groben Unfugs“ nach § 360 Abs. 1 Nr. 11<br />

StGB e<strong>in</strong>geleitet. Haftbefehl und Anklage<br />

sollten <strong>in</strong>nerhalb von 24 Stunden vorliegen.<br />

Bei Erwachsenen genügte e<strong>in</strong> Strafbefehl; bei<br />

Jugendlichen war e<strong>in</strong>e Hauptverhandlung<br />

vorgesehen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sie zu e<strong>in</strong>er Freiheitsentziehung<br />

bis zu sechs Wochen verurteilt<br />

werden konnten. Danach konnten sie unmittelbar<br />

nach Rü<strong>der</strong>sdorf überwiesen werden.<br />

217 Die E<strong>in</strong>weisung aufgrund vorläufiger Verfügung<br />

durch die Referate Jugendhilfe ist nachgewiesen<br />

<strong>in</strong> BArch DR 2/51127 – Arbeits- und Erziehungslager<br />

Rü<strong>der</strong>sdorf. Erste E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong> Arbeitsergebnisse<br />

vom 31.12.1966, Bl. 1.<br />

218 Schreiben des Generalstaatsanwalts <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

v. 5.4.1967 zu den rechtlichen Aspekten <strong>der</strong> E<strong>in</strong>weisung<br />

nach Rü<strong>der</strong>sdorf, BArch DR 2/51127.<br />

219 Aktennotiz zum Objekt Rü<strong>der</strong>sdorf v.<br />

23.2.1967, BArch DR 2/51127. Siehe dazu auch Sachse<br />

2010, 51.<br />

220 „Geme<strong>in</strong>same Anweisung des Generalstaatsanwalts<br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, Streit, und des M<strong>in</strong>isters des Innern<br />

und Chefs <strong>der</strong> deutschen Volkspolizei, Dietzel, zur<br />

E<strong>in</strong>weisung jugendlicher Rowdys <strong>in</strong> die Vollzugsanstalt<br />

Rü<strong>der</strong>sdorf“ v. 27.7.1967, LArch Berl<strong>in</strong>, C Rep<br />

120/2596, zit. n. Zimmermann 2004, 220. Das Dokument<br />

hat mir nicht vorgelegen.<br />

Dieses Beispiel demonstriert, dass das<br />

Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> „sozialistischen Gesetzlichkeit“<br />

durchaus Grenzen setzte, die allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Rechtswissenschaft <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> selten thematisiert<br />

wurden. Die Gesetzesb<strong>in</strong>dung g<strong>in</strong>g<br />

allerd<strong>in</strong>gs nicht so weit, dass Gesetze nicht<br />

durch untergesetzliche Anordnungen hätten<br />

geän<strong>der</strong>t werden können. Auch dies zeigt das<br />

Beispiel Rü<strong>der</strong>sdorf: Der Generalstaatsanwalt<br />

stellte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schreiben aus dem Jahr<br />

1967 fest, dass gegen Jugendliche e<strong>in</strong>e kurze<br />

Haft von bis zu sechs Wochen, wie sie für<br />

sogenannte „Übertretungen“ aus § 360 Nr. 11<br />

StGB vorgesehen war, nicht zulässig war: § 17<br />

JGG erlaubte e<strong>in</strong>e Freiheitsstrafe gegen Jugendliche<br />

nur bei Verbrechen o<strong>der</strong> Vergehen,<br />

nicht aber bei den vergleichsweise ger<strong>in</strong>gfügigen<br />

„Übertretungen“ nach §§ 360 ff. StGB,<br />

und überdies waren im JGG ke<strong>in</strong>e kurzen<br />

Freiheitsstrafen unter drei Monaten vorgesehen.<br />

221 Auch die Arbeitserziehung nach § 42 d<br />

StGB <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „Heim für soziale Betreuung“<br />

durfte gegen Jugendliche nicht verhängt<br />

werden (§ 23 JGG 1952). Im Zusammenhang<br />

mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung des Arbeitslagers Rü<strong>der</strong>sdorf<br />

e<strong>in</strong>igten sich die Verantwortlichen<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternen Briefwechsel kurzerhand<br />

darauf, dass <strong>der</strong>artige kurze Haftstrafen im<br />

Zusammenhang mit § 360 Nr. 11 StGB auch<br />

bei Jugendlichen als „Erziehungsmaßnahme“<br />

künftig zulässig seien. 222 Dieser Vorschlag<br />

221 Schreiben des Generalstaatsanwalts <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

v. 5.4.1967 zu den rechtlichen Aspekten <strong>der</strong> E<strong>in</strong>weisung<br />

nach Rü<strong>der</strong>sdorf, BArch DR 2/51127. Siehe auch<br />

die Bedenken bei Goldenbaum <strong>in</strong> BArch DR 2/51127 –<br />

Die gesetzlichen Grundlagen für die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> das<br />

Objekt Rü<strong>der</strong>sdorf (ohne Datum, etwa Februar 1967).<br />

222 Vgl. Schreiben des Generalstaatsanwalts<br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> v. 5.4.1967 zu den rechtlichen Aspekten <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>weisung nach Rü<strong>der</strong>sdorf, BArch DR 2/51127:<br />

„Unter Beachtung <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Pr<strong>in</strong>zipien des JGG<br />

müßten wir uns auf den Standpunkt stellen, auch<br />

gegen Jugendliche die Verurteilung zu e<strong>in</strong>er Haftstrafe<br />

bis sechs Wochen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form des e<strong>in</strong>fachen<br />

Freiheitsentzuges (§ 18 Abs. 2 StGB) zuzulassen.“ Antwort<br />

des M<strong>in</strong>isters des Innern v. 19.4.1967, BArch DR<br />

2/51127: „Es bleibt natürlich das Problem <strong>der</strong> Zeitangabe<br />

für den Freiheitsentzug gegenüber Jugendlichen<br />

nach § 17 JGG. Da <strong>der</strong> im Objekt Rü<strong>der</strong>sdorf durchgeführte<br />

Freiheitsentzug nicht <strong>in</strong> das Strafregister e<strong>in</strong>getragen<br />

wird und die Jugendlichen damit auch nicht als<br />

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