Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
denen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik vergleichbar<br />
gewesen und/o<strong>der</strong> (2) die Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong><br />
den Heimen hätten den damaligen Erziehungsvorstellungen<br />
entsprochen, wobei<br />
nicht zwischen Erziehungsvorstellungen<br />
<strong>in</strong> West- und Ostdeutschland differenziert<br />
wird. 460 Beides ist nicht zu rechtfertigen: Der<br />
Maßstab für rehabilitationsfähiges Unrecht<br />
ist das Rechtsstaatspr<strong>in</strong>zip, nicht die Rechtsordnung<br />
<strong>der</strong> BRD zur vergleichbaren Zeit. 461<br />
Die Arbeit des Runden Tisches <strong>Heimerziehung</strong><br />
hat zudem aufgezeigt, dass die Situation<br />
<strong>in</strong> vielen Heimen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
bis <strong>in</strong> die 1970er-Jahre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> ebenfalls als<br />
460 LG Erfurt, 14.7.2011 – 1 Reha 181/10: „Aus<br />
Heimen <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland ist <strong>in</strong>zwischen<br />
e<strong>in</strong>e Vielzahl von Fällen bekannt geworden,<br />
<strong>in</strong> denen es zu massiven Bee<strong>in</strong>trächtigungen von<br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n gekommen ist, ohne dass <strong>in</strong>soweit e<strong>in</strong>e<br />
Möglichkeit <strong>der</strong> ‚Rehabilitierung geschaffen wurde.‘;<br />
OLG Naumburg, 22.10.2010 – 2 Ws (Reh) 8/10: „Exzesse<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> konkreten E<strong>in</strong>richtung kamen auch im<br />
Rechtsstaat vor (vgl. Künast ZRP 2008, 33), ohne dass<br />
sie die angeordnete <strong>Heimerziehung</strong> und <strong>der</strong>en Ziel,<br />
Gefahren für die Erziehung und Entwicklung o<strong>der</strong> die<br />
Gesundheit M<strong>in</strong><strong>der</strong>jähriger abzuwenden, grundsätzlich<br />
<strong>in</strong> Frage stellen. Die Beurteilung von Maßnahmen<br />
<strong>der</strong> Jugendhilfe <strong>in</strong> <strong>der</strong> ehemaligen <strong>DDR</strong> muss, wie bereits<br />
oben dargelegt, dem Umstand Rechnung tragen,<br />
dass sich die Anschauungen zum Umgang mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
seither grundlegend gewandelt haben. Was damals<br />
<strong>in</strong> ganz Deutschland gängige Praxis war, ist we<strong>der</strong> zu<br />
rehabilitierendes staatliches Unrecht <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> noch<br />
mit wesentlichen Grundsätzen e<strong>in</strong>er freiheitlichen<br />
rechtsstaatlichen Ordnung unvere<strong>in</strong>bar. Daran än<strong>der</strong>n<br />
auch die sozialistischen Vorzeichen dieser Erziehung<br />
nichts.“ KG Berl<strong>in</strong>, 06.3.2007 – 2/5 Ws 246/06 Reha,<br />
NJ 2007, 424 f.: „Menschenrechtswidrige Gewaltakte<br />
kamen ausweislich <strong>der</strong> neueren Forschung <strong>in</strong> Deutschland<br />
nicht nur <strong>in</strong> Jugendheimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> vor, rechtsstaatswidrig<br />
waren sie dadurch noch nicht.“ [Hierbei<br />
wird zusätzlich übersehen, dass die E<strong>in</strong>haltung <strong>der</strong><br />
Menschenrechte über das Menschenwürdepr<strong>in</strong>zip<br />
selbstverständlicher Bestandteil des Rechtsstaatspr<strong>in</strong>zips<br />
ist. E<strong>in</strong> menschenrechtswidriger Gewaltakt<br />
kann mit den Grundsätzen e<strong>in</strong>er freiheitlich rechtsstaatlichen<br />
Ordnung nicht vere<strong>in</strong>bar se<strong>in</strong>]. Siehe auch<br />
OLG Rostock, 27.10.2010 – I Ws RH 33/10; OLG Jena,<br />
17.9.2010 – I Ws Reha 50/10.<br />
461 Vgl. Mützel 2011, 109, <strong>der</strong> sich auf den Abschlussbericht<br />
des RTH beruft, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Rechtsstaatswidrigkeit<br />
auch für die HE <strong>der</strong> BRD <strong>in</strong> den 1950er- und<br />
1960er-Jahren bejaht.<br />
rechtsstaatswidrig bewertet werden muss<br />
– man kann schlecht die e<strong>in</strong>e Rechtsstaatswidrigkeit<br />
mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en rechtfertigen, son<strong>der</strong>n<br />
wird nicht umh<strong>in</strong>kommen, beide gleichermaßen<br />
zu verurteilen. Und was die „damaligen<br />
Erziehungsvorstellungen“ betrifft, so war beispielsweise<br />
das Schlagen von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Bundesrepublik bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad<br />
tatsächlich bis <strong>in</strong> die 1970er-Jahre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> von<br />
gesellschaftlichen Erziehungsvorstellungen<br />
gedeckt, die sich auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtsprechung<br />
wie<strong>der</strong>f<strong>in</strong>den lassen. In <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> dagegen<br />
waren solche Maßnahmen seit den 1950er-<br />
Jahren ausdrücklich verboten. Man kann<br />
darum gerade für die <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> schlecht davon sprechen, dass sie von<br />
„damaligen Erziehungsvorstellungen“ gedeckt<br />
gewesen sei. Ähnlich argumentiert auch das<br />
KG <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Grundsatzurteilen zu E<strong>in</strong>weisungen<br />
nach Torgau und Rü<strong>der</strong>sdorf. Neben <strong>der</strong><br />
Funktion dieser Heime als re<strong>in</strong>e Diszipl<strong>in</strong>ierungsanstalten<br />
nennt es auch die menschenunwürdigen<br />
Unterbr<strong>in</strong>gungsbed<strong>in</strong>gungen als<br />
rechtsstaatswidrige Bed<strong>in</strong>gungen. 462 Dies entspricht<br />
im Übrigen auch <strong>der</strong> Rechtsprechung<br />
zum Bundesentschädigungsgesetz. In mehreren<br />
Urteilen wurde die Rechtsstaatswidrigkeit<br />
e<strong>in</strong>er Maßnahme deswegen bejaht, weil ihr<br />
Vollzug unter rechtsstaatswidrigen Bed<strong>in</strong>gungen<br />
stattgefunden hatte. 463<br />
462 KG Berl<strong>in</strong>, 15.12.2004 – 5 Ws 169/04 Reha<br />
(Fall: E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> JWH Torgau wegen erzieherischer<br />
Gründe (Gewalttätigkeiten u. a.); Verfügung<br />
des M<strong>in</strong>isteriums für Volksbildung auf Antrag des<br />
Spezialheims, <strong>in</strong> dem <strong>der</strong> Jgl. vorher gewesen war.):<br />
„Der Senat hält es nach Überprüfung <strong>der</strong> bisherigen<br />
Rechtsprechung nicht mehr für gerechtfertigt, bei <strong>der</strong><br />
Unterbr<strong>in</strong>gung von Jugendlichen im Geschlossenen<br />
Jugendwerkhof Torgau die Entscheidung über die<br />
Rehabilitation von den Gründen abhängig zu machen,<br />
die zu <strong>der</strong> E<strong>in</strong>weisung geführt haben. Vielmehr ergibt<br />
e<strong>in</strong>e Würdigung <strong>der</strong> Umstände, unter denen die E<strong>in</strong>weisungen<br />
vorgenommen und die Unterbr<strong>in</strong>gungen<br />
durchgeführt wurden, daß hierbei die Menschenrechte<br />
<strong>der</strong> betroffenen Jugendlichen regelmäßig<br />
schwerwiegend verletzt wurden. Deshalb waren die<br />
E<strong>in</strong>weisungen unabhängig von den Gründen für die<br />
Anordnung regelmäßig mit den Grundsätzen e<strong>in</strong>er<br />
freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvere<strong>in</strong>bar.“<br />
Siehe auch die Entscheidung vom 6.8.2010 zum<br />
Arbeits- und Erziehungslager Rü<strong>der</strong>sdorf.<br />
463 BGH, 1.12.1956 – IV ZR 241/56, RzW 1957,<br />
Diese Überlegungen führen nicht dazu, dass<br />
rechtsstaatswidrige Unterbr<strong>in</strong>gungsbed<strong>in</strong>gungen<br />
pauschal und immer zu e<strong>in</strong>er Rehabilitierung<br />
führen können. Es geht weiterh<strong>in</strong><br />
nur um die Rechtsstaatswidrigkeit <strong>der</strong><br />
Anordnungsentscheidung. Diese kann jedoch<br />
auch dann gegeben se<strong>in</strong>, wenn die tatsächliche<br />
Ausgestaltung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> die<br />
Anordnungsentscheidung als grob unverhältnismäßig<br />
ersche<strong>in</strong>en lässt. Dies muss zum<strong>in</strong>dest<br />
bei E<strong>in</strong>weisungen <strong>in</strong> Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heime,<br />
vor allem <strong>in</strong> Durchgangsheime und Jugendwerkhöfe,<br />
ernsthaft bedacht werden.<br />
6.1.2.4 Verfahrensverstöße<br />
Dass die Verfahren <strong>der</strong> Anordnung von<br />
<strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> durchgehend<br />
rechtsstaatlich bedenklich waren, ist aus<br />
den Ausführungen <strong>in</strong> Teil 5 deutlich geworden.<br />
Problematisch s<strong>in</strong>d beispielsweise die<br />
fehlenden gerichtlichen Rechtsmittel sowie<br />
fehlende Anhörungen sowie allgeme<strong>in</strong> die<br />
mangelnde Gewaltenteilung und -kontrolle<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> sowie die fehlende Unparteilichkeit<br />
<strong>der</strong> Justiz. In diesem S<strong>in</strong>ne verstießen<br />
die Verfahrensvorschriften im Recht <strong>der</strong><br />
<strong>Heimerziehung</strong> ganz generell gegen rechtsstaatliche<br />
Pr<strong>in</strong>zipien, weil sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong> nicht<br />
rechtsstaatliches System e<strong>in</strong>gebettet waren.<br />
Im Rehabilitationsrecht kann e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige<br />
allgeme<strong>in</strong>e Rechtsstaatswidrigkeit <strong>der</strong><br />
behördlichen Strukturen und Verfahrensweisen<br />
jedoch nicht rehabilitiert werden. Rechtsstaatswidrige<br />
Verfahrensweisen s<strong>in</strong>d nur<br />
dann rehabilitationsfähig, wenn sie zu e<strong>in</strong>er<br />
Entscheidung geführt haben, die ihrerseits<br />
nicht mit wesentlichen Pr<strong>in</strong>zipien e<strong>in</strong>er freiheitlichen<br />
rechtsstaatlichen Ordnung vere<strong>in</strong>bar<br />
ist. Wurden also beispielsweise die Eltern<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Verfahren vor den Organen <strong>der</strong><br />
Jugendhilfe nicht angehört, so muss geprüft<br />
werden, ob die daraus folgende Anordnung<br />
<strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> auch <strong>in</strong>haltlich gegen<br />
rechtsstaatliche Grundsätze verstößt. 464<br />
87; OLG Hamm, 16.1.1963 – 13 U (E) 174/60, RzW<br />
1963, 317. Siehe auch Mützel 2011a, 108.<br />
464 Schrö<strong>der</strong>, <strong>in</strong>: Bruns, Schrö<strong>der</strong> und Tappert<br />
1993, § 1 StrRehaG Rn. 68.<br />
Die rechtsstaatlich äußerst bedenkliche<br />
Tatsache, dass es gegen Anordnungen <strong>der</strong><br />
<strong>Heimerziehung</strong> ke<strong>in</strong> gerichtliches Rechtsmittel<br />
gab, ist also für sich genommen nicht<br />
rehabilitationsfähig.<br />
6.1.2.5 Freiwillige Erziehungsverträge<br />
Im Schrifttum ist zu lesen, dass die Rehabilitierung<br />
dann ausgeschlossen sei, wenn die<br />
<strong>Heimerziehung</strong> aufgrund e<strong>in</strong>er Erziehungsvere<strong>in</strong>barung<br />
e<strong>in</strong>geleitet wurde, und zwar<br />
auch dann, wenn diese unter Drohungen<br />
zustande gekommen sei. 465 Diese Auffassung<br />
ersche<strong>in</strong>t bedenklich vor dem H<strong>in</strong>tergrund,<br />
dass viele dieser Erziehungsvere<strong>in</strong>barungen<br />
vermutlich nicht freiwillig zustande<br />
gekommen s<strong>in</strong>d, jedenfalls dann nicht,<br />
wenn sie im Rahmen e<strong>in</strong>es Strafverfahrens<br />
abgeschlossen wurden (s. o.). Gegen die<br />
Berücksichtigung freiwilliger Erziehungsvere<strong>in</strong>barungen<br />
spricht grundsätzlich <strong>der</strong><br />
Wortlaut <strong>der</strong> §§ 1 und 2 StrRehaG, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Rehabilitierung nur bei staatlichen (gerichtlichen<br />
o<strong>der</strong> behördlichen) Entscheidungen<br />
vorsieht. Jedoch ist e<strong>in</strong>e erpresste „freiwillige“<br />
Vere<strong>in</strong>barung e<strong>in</strong> staatliches Handeln,<br />
mit dem e<strong>in</strong>e gerichtliche o<strong>der</strong> behördliche<br />
Entscheidung bewusst umgangen wird. Für<br />
die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e psychiatrische Anstalt<br />
ist daher <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur anerkannt, dass<br />
auch e<strong>in</strong>e verme<strong>in</strong>tlich freiwillige E<strong>in</strong>weisung<br />
rehabilitierungsfähig ist, wenn sie<br />
beispielsweise durch Täuschung zustande<br />
gekommen ist. 466 Für den Fall <strong>der</strong> Drohung<br />
kann nichts an<strong>der</strong>es gelten. Auch bei freiwilligen<br />
Erziehungsverträgen ist die Sachlage<br />
folglich gründlich im E<strong>in</strong>zelfall zu prüfen<br />
und s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Schil<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />
Betroffenen ernst zu nehmen.<br />
465 Vgl. Mützel 2011a, 107.<br />
466 Schrö<strong>der</strong>, <strong>in</strong>: Bruns, Schrö<strong>der</strong> & Tappert<br />
1993, § 2 StrRehaG Rn. 11.<br />
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