Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
„Die Erzieher<strong>in</strong> (Name geschwärzt) erzieht die<br />
ihr anvertrauten K<strong>in</strong><strong>der</strong>, es handelt sich dabei<br />
um K<strong>in</strong><strong>der</strong> im Alter von 9–11 Jahren, fast nur<br />
mit Prügel ...“.<br />
Die Information wird vom IMS 499 „Merthmann“,<br />
<strong>der</strong> wie IM „Claudia“ im selben Heim<br />
als Erzieher beschäftigt ist, bestätigt. 500<br />
Der IM-Kandidat „Lilo Gran“, tätig im<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim „Fritz Schellbach“ <strong>in</strong> Weißenfels,<br />
horchte e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d aus, dessen Eltern es aus <strong>der</strong><br />
Bundesrepublik zu sich holen wollten, und<br />
gibt dem M<strong>in</strong>isterium für Staatssicherheit<br />
die Namen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> an, mit denen dieses<br />
K<strong>in</strong>d im Heim befreundet ist. 501<br />
Der IM „Dieter Heide“ berichtet, dass<br />
die Probleme des Heimes an den Erziehern<br />
liegen. „Teilweise müssen sie (die Erzieher,<br />
Zus. d. Vf.) selbst noch erzogen werden, beson<strong>der</strong>s<br />
auf dem Gebiet des Benehmens und<br />
<strong>der</strong> Haltung“. Die weiteren Berichte zeigen,<br />
dass auf die „Ka<strong>der</strong>politik“ E<strong>in</strong>fluss genommen<br />
wurde. 502<br />
E<strong>in</strong> offenbar beim Rat des Kreises tätiger<br />
IM „Lukas“ berichtet am 01.02.1981, dass<br />
zwei Erzieher<strong>in</strong>nen aus dem K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim<br />
Cramon mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n kirchliche Veranstaltungen<br />
besuchten und dass <strong>der</strong> zuständige<br />
Parteisekretär die Erzieher<strong>in</strong>nen belehrte:<br />
„Es wurde ihnen <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch <strong>der</strong> marx./<br />
499 „Inoffizielle Mitarbeiter zur Sicherung und<br />
Durchdr<strong>in</strong>gung e<strong>in</strong>es Verantwortungsbereiches“,<br />
(BStU, 2009, S. 44).<br />
500 IM „Claudia“, Bericht über die<br />
Erziehungsmethoden im Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim<br />
„Fritz Pawlowski“, 20.04.1976; IM „Merthmann“,<br />
Informationen zur Erziehungssituation im<br />
Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim „Fritz Pawlowski am 03.06.1976;<br />
M<strong>in</strong>isterium für Staatssicherheit. Bezirksverwaltung<br />
Karl-Marx-Stadt, E<strong>in</strong>schätzung über das<br />
Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim „Fritz Pawlowski“ Mittweida.<br />
22.06.1976, alle drei Quellen <strong>in</strong>: BStU MfS AKG,<br />
Nr. 494, Bd. 2.<br />
501 M<strong>in</strong>isterium für Staatssicherheit.<br />
Bezirksverwaltung Halle, Operative Meldung,<br />
23.05.1985. In BStU MfS BV Halle BKG, Nr. 2387.<br />
502 IM „Dieter Heide“, Informationen<br />
zu Problemen des K<strong>in</strong><strong>der</strong>heimes Wolmirstedt<br />
im Zusammenhang mit dem Vorkommnis am<br />
20/21.11.1986. In: BStU MfS BV Magdeburg KD<br />
Wolmirstedt, Nr. 372.<br />
len<strong>in</strong>. Erziehung und <strong>der</strong> idealistischen Betätigung“<br />
dargelegt. 503<br />
Der IM „Bernhard“ soll e<strong>in</strong>e „Negativ-Liste“<br />
von Jugendlichen des Heimes anlegen. Er<br />
weiß, dass man im Jugendwerkhof Wolfersdorf<br />
auf Gorbatschow „nichts kommen lässt“,<br />
dass das Verbot des „Sputnik“ Diskussionen<br />
erregt und dass die Jugendlichen großes<br />
Interesse an <strong>der</strong> „‚Umgestaltung‘ <strong>in</strong> <strong>der</strong> SU“<br />
entwickeln. 504<br />
Man liest immer wie<strong>der</strong> auch, dass IM<br />
anfangs willig und von <strong>der</strong> moralischen<br />
Rechtmäßigkeit ihres Tuns überzeugt waren<br />
und später nur unwillig zusammenarbeiteten<br />
o<strong>der</strong> auch Gelegenheiten suchten, die Zusammenarbeit<br />
e<strong>in</strong>zustellen.<br />
4.6.3 Flucht aus dem Heim und aus <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong><br />
Polizeiberichte über die Flucht von Jugendlichen<br />
hießen „Fluchtwegberichte“ 505 . In manchen<br />
Berichten wird nach Ursachen gesucht.<br />
So stehen die Entweichungen im Jugendwerkhof<br />
„Clara Zetk<strong>in</strong>“ (Crimmitschau) „<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em direkten Zusammenhang mit den im<br />
JWH tätigen Erziehern“. 506<br />
503 Rat des Kreises Schwer<strong>in</strong>. Betr. Aktivitäten<br />
des Pastors (Name geschwärzt) aus Cramon im<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim Cramon. In: BStU MfS BV Schwer<strong>in</strong> Abt.<br />
XII, Nr. 1173/88.<br />
504 BStU MfS KD Stadtroda, 1988, Nr. 762/80.<br />
505 BStU MfS KD F<strong>in</strong>sterwalde, Nr. 1414.<br />
Das M<strong>in</strong>isterium für Staatssicherheit ließ<br />
Entweichungsstatistiken anfertigen, ob dies<br />
regelmäßig geschah, ist unbekannt. Die uns<br />
vorliegende Statistik stammt aus dem April und<br />
dem Juni des Jahres 1963. Im April wurden<br />
<strong>in</strong>sgesamt 85 Entweichungen mit 154 beteiligten<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>n festgehalten, im Juni waren es 111 und 210.<br />
(Entweichungen aus den Jugendwerkhöfen, K<strong>in</strong><strong>der</strong>und<br />
Durchgangsheimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> im Monat April bzw.<br />
Juni 1963. In BStU MfS HA XX, Nr. 6187).<br />
506 Von den dortigen 33 Erzieherplanstellen<br />
s<strong>in</strong>d nur 27 besetzt, davon s<strong>in</strong>d 5 Absolventen,<br />
e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Mitarbeiter hat ke<strong>in</strong>e Erfahrung, von<br />
3 Mitarbeitern müsste man sich wegen gehäufter<br />
Vorkommnisse trennen (bisher ist dies nicht erfolgt),<br />
6 s<strong>in</strong>d schwanger o<strong>der</strong> haben Babyjahr und 7 gehen<br />
<strong>in</strong> vorzeitigen Ruhestand (Information. Betr.<br />
ka<strong>der</strong>mäßige Besetzung des Jugendwerkhofes „Clara<br />
E<strong>in</strong> drastischer Fall aus dem Sommer 1989<br />
wurde per Telegramm dem M<strong>in</strong>isterium für<br />
Staatssicherheit übermittelt. In Torgau wollten<br />
e<strong>in</strong>ige Jugendliche e<strong>in</strong>en Mit<strong>in</strong>sassen,<br />
<strong>der</strong> zuvor dazu se<strong>in</strong> E<strong>in</strong>verständnis gegeben<br />
hatte, töten, um durch die dadurch herbeigeführte<br />
Aufregung Gelegenheit zur Flucht<br />
zu bekommen. Das Opfer erklärte, dass „es<br />
ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n mehr im Leben sah“. 507<br />
Bei sogenannter Republikflucht o<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>em Republikfluchtversuch (RV) wurde<br />
die Staatssicherheit e<strong>in</strong>geschaltet. Sie nahm<br />
umfangreiche Untersuchungen vor. Die<br />
Verhörprotokolle von Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n sche<strong>in</strong>en<br />
standardisiert.<br />
• „In welchen sozialen Verhältnissen<br />
wuchsen Sie auf?<br />
• Wie wurden Sie erzogen?<br />
• Wie verlief Ihre schulische<br />
Entwicklung?<br />
• Welcher beruflichen Tätigkeit g<strong>in</strong>gen<br />
Sie nach Ihrer Schulentlassung nach?<br />
• In welcher Form haben Sie sich<br />
politisch orientiert?<br />
• In welcher Form hat Sie das Empfangen<br />
von Sendungen des Westfernsehens<br />
und Westrundfunks bee<strong>in</strong>flusst?<br />
• Wie war Ihre gesellschaftliche<br />
Entwicklung?<br />
• Wie verbr<strong>in</strong>gen Sie Ihre Freizeit?<br />
• Welche Personen gehören zu Ihrem<br />
näheren Umkreis?<br />
• Haben Sie Verb<strong>in</strong>dung nach<br />
Westdeutschland, Westberl<strong>in</strong> o<strong>der</strong> <strong>in</strong>s<br />
kapitalistische Ausland?“ 508<br />
E<strong>in</strong> Fall mit Verletzungsfolge ereignete sich<br />
am 14.06.1976. E<strong>in</strong> 15-jähriger und e<strong>in</strong><br />
16-jähriger Schüler verließen nachts das<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim Rehna und gelangten kurz nach<br />
Mitternacht an <strong>der</strong> <strong>in</strong>nerdeutschen Grenze <strong>in</strong><br />
Zetk<strong>in</strong>“ Crimmitschau vom 19.05.1988. In: BStU MfS<br />
AU Chemnitz XX, Nr. 3775).<br />
507 Betr. Sofortmeldung gem. 1.2.(1) versuchter<br />
Mord und Beihilfe zum versuchten Mord, 11.7.1989.<br />
In. BStU MfS HA XX, Nr. 6076.<br />
508 M<strong>in</strong>isterium für Staatssicherheit.<br />
Bezirksverwaltung Schwer<strong>in</strong> Betr. Jugendlichen xxx<br />
In: BStU MfS BV Schwer<strong>in</strong> Ref. XII, Nr. 13/69.<br />
e<strong>in</strong>e Sprengfalle. Beide überleben, s<strong>in</strong>d aber<br />
nicht transportfähig. Die Staatssicherheit entscheidet<br />
am Tag darauf, dass auf Haftstrafe<br />
verzichtet wird, beide <strong>in</strong> E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong><br />
Jugendhilfe nach Genesung zurückgeführt<br />
werden, e<strong>in</strong>er von beiden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en geschlossenen<br />
Jugendwerkhof. Im September wird an<br />
den Staatsanwalt von Schwer<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Brief verfasst,<br />
<strong>in</strong> dem mitgeteilt wird, dass aufgrund<br />
dieses Vorfalls alle Referatsleiter <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
verpflichtet werden, „bei Anzeichen <strong>der</strong><br />
Vorbereitung des illegalen Verlassens <strong>der</strong> Republik<br />
von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen sofort<br />
die Sicherheitsorgane und das Bezirksreferat<br />
zu <strong>in</strong>formieren, um wirksame Maßnahmen<br />
e<strong>in</strong>leiten zu können.“ 509 Der leibliche Vater<br />
e<strong>in</strong>es Jugendlichen, zu dem kaum Kontakte<br />
bestehen, hat die Ausreise aus <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> beantragt.<br />
Es wird erwogen, diesen Antrag schnell<br />
positiv zu beantworten, bevor er von <strong>der</strong><br />
Verletzung se<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des erfährt. Der Vater<br />
des an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong>des arbeitet bei <strong>der</strong> Transportpolizei.<br />
Er soll im Frühjahr 1977, wenn<br />
die orthopädische Behandlung se<strong>in</strong>es Sohnes<br />
voraussichtlich beendet se<strong>in</strong> würde, versetzt<br />
werden. Zugleich wird vom M<strong>in</strong>isterium für<br />
Staatssicherheit entschieden, den Sohn nun<br />
doch nicht erneut <strong>in</strong>s Heim e<strong>in</strong>zuweisen,<br />
damit „das Vorkommnis vor allem im bisherigen<br />
Umgangsbereich des (Name geschwärzt)<br />
<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auf Grund se<strong>in</strong>er Verletzung<br />
nicht öffentlichkeitswirksam“ wird. 510<br />
In e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Bericht werden die<br />
Zahlen, H<strong>in</strong>tergründe und Maßnahmen, die<br />
die <strong>DDR</strong>-Flucht von Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n betreffen,<br />
notiert. Geschlussfolgert wird, dass <strong>der</strong> im<br />
Heim tätige GMS (Gesellschaftlicher Mitarbeiter<br />
für Sicherheit, beson<strong>der</strong>e Form <strong>in</strong>offizieller<br />
Mitarbeit) „He<strong>in</strong>z Roth“ noch „zielgerichteter“<br />
e<strong>in</strong>gesetzt werden muss. 511<br />
509 Rat des Bezirkes Schwer<strong>in</strong>, Abt. Volksbildung<br />
an den Staatsanwalt des Bezirkes Schwer<strong>in</strong> Gen.<br />
Dr. Wolf, 13.10.1976. In BStU MfS Handakte Archiv<br />
Schwer<strong>in</strong>, Nr. 368/77.<br />
510 Ergänzungsmeldung zum FS, Nr. 339 vom<br />
15.9.1976. In BStU MfS AU Schwer<strong>in</strong>, Nr. 369/77<br />
Bd. II.<br />
511 Bericht über Ersche<strong>in</strong>ungsformen des ungesetzlichen<br />
Verlassens <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> durch Zögl<strong>in</strong>ge<br />
des Jugendwerkhofes Wolfersdorf und des<br />
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