Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Was hilft ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bei <strong>der</strong> Bewältigung ihrer komplexen Traumatisierung?<br />
die erziehungsschwierigen und straffälligen<br />
Jugendlichen; die Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heime für<br />
schwer erziehbare, bildungsfähige, schwachs<strong>in</strong>nige<br />
Jugendliche. Die Durchgangsheime<br />
sollten für ca. 14 Tage K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche<br />
aufnehmen, um e<strong>in</strong>er Gefährdung <strong>der</strong><br />
eigenen Person o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit vorzubeugen<br />
(Jahn 2010, 16 ff). E<strong>in</strong>e Son<strong>der</strong>rolle<br />
spielte das aus e<strong>in</strong>em Aufnahmeheim und<br />
vier Son<strong>der</strong>heimen bestehende Komb<strong>in</strong>at für<br />
Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische<br />
Therapie. (E<strong>in</strong>e weitere Beschreibung<br />
<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Heimtypen und des Heimalltages<br />
erfolgt im zweiten Kapitel.) Der Betrieb<br />
von nichtstaatlichen Heimen war nur noch<br />
mit „ärztlicher Zielrichtung“ möglich, <strong>der</strong><br />
von privat geführten Heimen untersagt, um<br />
die 100 kirchliche Heime existierten aber<br />
nach persönlicher Auskunft von Sachse noch<br />
zur Wendezeit, vermutlich wurden dort<br />
überwiegend beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche<br />
betreut. Bezüglich <strong>der</strong> Zustände und<br />
<strong>der</strong> möglichen schädigenden Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong><br />
Heimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> für Säugl<strong>in</strong>ge o<strong>der</strong> für Vorschulk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
ist noch sehr wenig bekannt.<br />
Offen als politisch begründete E<strong>in</strong>weisungen<br />
stellen, auch nach den Ergebnissen<br />
<strong>der</strong> vorliegenden Literatur, den ger<strong>in</strong>geren<br />
Teil <strong>der</strong> Heime<strong>in</strong>weisungen auf allen Versorgungsebenen<br />
dar. In <strong>der</strong> Regel wurden<br />
die E<strong>in</strong>weisungen durch die Jugendhilfe mit<br />
Versorgungsmängeln im Elternhaus begründet<br />
o<strong>der</strong> erfolgten aufgrund von Waisenstatus.<br />
Häufige Gründe für e<strong>in</strong>e Verlegung<br />
o<strong>der</strong> auch e<strong>in</strong>e Direkte<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heime<br />
(z. B. Jugendwerkhof) waren<br />
Ausreißen aus dem Elternhaus o<strong>der</strong> Fluchtversuche<br />
aus e<strong>in</strong>em Heim, <strong>der</strong> Anschluss an<br />
Jugendcliquen (wie Punks, Anhänger <strong>der</strong><br />
westlichen Jugendkultur) o<strong>der</strong> z. B. Schulund<br />
Arbeitsverweigerer. Dabei wurden auch<br />
kurze Fehlzeiten von nur wenigen Tagen<br />
bereits als Schulbummelei bezeichnet. Der<br />
Anlass war <strong>in</strong> solchen Fällen verhältnismäßig<br />
gesehen sicher sehr ger<strong>in</strong>g, an<strong>der</strong>erseits<br />
waren Schule und Arbeit e<strong>in</strong>e Pflicht <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> und Bummelei wurde als asoziales und<br />
die Gesellschaft schädigendes Verhalten<br />
angesehen. E<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>es Risiko für e<strong>in</strong>e<br />
Heime<strong>in</strong>weisung trugen offenbar K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
alle<strong>in</strong>erziehen<strong>der</strong> Mütter. (Im zweiten Kapitel<br />
werden die E<strong>in</strong>weisungsgründe ausführlicher<br />
dargestellt und erläutert.)<br />
An<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD bestand <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
ke<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruchsrecht <strong>der</strong> Eltern gegen<br />
e<strong>in</strong>e Heime<strong>in</strong>weisung. Es gab Möglichkeiten,<br />
E<strong>in</strong>gaben zu machen, aber ke<strong>in</strong> durchsetzbares<br />
Recht, denn die Familiengerichte waren<br />
abgeschafft. In vielen Fällen <strong>der</strong> Heime<strong>in</strong>weisungen<br />
kann aus heutiger Sicht dem K<strong>in</strong>d<br />
o<strong>der</strong> Jugendlichen ke<strong>in</strong> Verschulden o<strong>der</strong><br />
Fehlverhalten unterstellt werden, da die<br />
H<strong>in</strong>tergründe für das oft nachvollziehbare<br />
Verhalten <strong>der</strong> Betroffenen durch die Jugendhilfe<br />
nicht immer ausreichend differenziert<br />
betrachtet wurden. Auch wurde oft pauschal<br />
zu <strong>der</strong> Lösungsmöglichkeit Heimaufnahme<br />
gegriffen und nicht ausreichend geklärt,<br />
welche an<strong>der</strong>en Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen<br />
möglich gewesen wären. Es<br />
muss deshalb angenommen werden, dass das<br />
Instrument Heimaufnahme häufig zu unkritisch<br />
zur Anwendung kam und zu wenig<br />
h<strong>in</strong>terfragt wurde. Die Jugendhilfe <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
war oft nur e<strong>in</strong> Instrument <strong>der</strong> Diszipl<strong>in</strong>ierung<br />
von Jugendlichen (Sachse 2010, 52).<br />
Da die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen sich den<br />
Heimen nicht entziehen konnten, kam es<br />
aus Verzweiflung zu häufigen Fluchtversuchen.<br />
Zahlen aus 1963 belegen, dass über e<strong>in</strong><br />
Viertel <strong>der</strong> Jugendlichen e<strong>in</strong>en Fluchtversuch<br />
unternommen hatten (Zimmermann 2004,<br />
350).<br />
1.1 Was waren die Geme<strong>in</strong>samkeiten,<br />
was waren die Unterschiede <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Heimerziehung</strong> BRD und <strong>DDR</strong>?<br />
Nach Auswertung <strong>der</strong> bisherigen Literatur<br />
gab es ke<strong>in</strong>en großen Unterschied zwischen<br />
Ost und West <strong>in</strong> <strong>der</strong> Versorgung <strong>der</strong> Heime<br />
und <strong>der</strong> Qualifizierung <strong>der</strong> Heimerzieher<br />
<strong>in</strong> den 50er- und 60er-Jahren. Im Westen<br />
kam es allerd<strong>in</strong>gs zu e<strong>in</strong>er Verbesserung <strong>der</strong><br />
Heimverhältnisse im Zuge <strong>der</strong> Achtundsechziger-Bewegung<br />
und zu Kritik an den<br />
gesellschaftlichen Verhältnissen <strong>der</strong> BRD<br />
und damit auch an den sogenannten „totalen<br />
Institutionen.“ Darunter wurden Anstalten<br />
verstanden, <strong>in</strong> denen Menschen oft gegen<br />
Ihren Willen untergebracht waren. Der<br />
Begriff stammt von Erv<strong>in</strong>g Goffmann, <strong>der</strong><br />
1961 se<strong>in</strong> Buch „Asylum“ <strong>in</strong> den USA veröffentlichte,<br />
die deutsche Übersetzung erschien<br />
1972. Das Buch von Goffmann wurde zum<br />
Schlüsseltext für die westdeutsche Heimkampagne<br />
zwischen 1968 und 1978. Goffmann<br />
erhob den Vorwurf, dass das Leben<br />
<strong>der</strong> Insassen <strong>in</strong> <strong>der</strong> „totalen Institution“<br />
hauptsächlich von <strong>der</strong> Aufrechterhaltung <strong>der</strong><br />
fremdbestimmten B<strong>in</strong>nenorganisation dieser<br />
Institutionen bestimmt wird. Dies trifft auch<br />
für den Erziehungsalltag <strong>in</strong> den Heimen <strong>der</strong><br />
Jugendhilfe bei<strong>der</strong> deutscher Staaten <strong>in</strong> je<strong>der</strong><br />
H<strong>in</strong>sicht zu. Peter Wiedemann als Senatsbeamter<br />
für die Heimaufsicht <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-West<br />
berufen, beschrieb rückblickend für das Jahr<br />
1969 katastrophale Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong><br />
Westheime, Isolation und Arrestierung von<br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n, harte Bestrafungen, Zwangsarbeit<br />
(Kappeler 2010). In den 70er-Jahren<br />
wurden dann zunehmend Reformen <strong>der</strong><br />
Heim erziehung im Westen angestoßen, die<br />
aber erst Anfang <strong>der</strong> 80er-Jahre wirkliche<br />
Verbesserungen erbrachten (siehe Gahleitner<br />
2010). E<strong>in</strong>e solche fortschrittliche Reformbewegung<br />
und damit zunehmende E<strong>in</strong>flussnahme<br />
von außen auf das Heimwesen wie <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> BRD fand <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> nicht statt.<br />
Nach Kappeler (2010) habe es viele Übere<strong>in</strong>stimmungen<br />
<strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
bürgerlich-kapitalistischen BRD und <strong>der</strong><br />
sozialistischen <strong>DDR</strong> <strong>in</strong> den Jahrzehnten <strong>der</strong><br />
Parallelexistenz gegeben, das ließe sich an<br />
den E<strong>in</strong>weisungsgründen, an <strong>der</strong> Organisationsstruktur<br />
<strong>der</strong> Heime und den <strong>in</strong> ihnen<br />
praktizierten Erziehungsmethoden zeigen.<br />
In <strong>der</strong> Begriffsbestimmung <strong>der</strong> E<strong>in</strong>weisungsgründe<br />
von „Schwererziehbarkeit o<strong>der</strong><br />
Verwahrlosung“ ließen sich viele Übere<strong>in</strong>stimmungen<br />
zwischen <strong>der</strong> BRD bis Ende<br />
<strong>der</strong> 70er-Jahre und mit den Praktiken <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong>-Jugendhilfe feststellen. Als entscheidende<br />
Grundlage für die Beurteilung e<strong>in</strong>es<br />
K<strong>in</strong>des diente <strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> <strong>der</strong><br />
Grad <strong>der</strong> Abweichung von <strong>der</strong> gesellschaftlich<br />
def<strong>in</strong>ierten Norm. Im Unterschied zur<br />
BRD wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> die strikte Normorientierung<br />
aber ganz offen und mit großer<br />
ideologischer Überzeugungskraft durch diese<br />
Beurteilungsfolie theoretisch begründet und<br />
praktisch angewendet. In beiden Systemen<br />
stand im Mittelpunkt die Diszipl<strong>in</strong>, entsprechend<br />
lauteten die Erziehungsziele und<br />
waren die Erziehungsmethoden (ebda.).<br />
Sowohl aus dem Abschlussbericht zur<br />
<strong>Aufarbeitung</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> 50erund<br />
60er-Jahre <strong>der</strong> BRD durch den Runden<br />
Tisch <strong>Heimerziehung</strong> (2010) als auch aus den<br />
Ergebnissen <strong>der</strong> dazu <strong>in</strong> Auftrag gegebenen<br />
Expertisen und den bisherigen Ergebnissen<br />
<strong>der</strong> gleichlautenden Expertisen zur <strong>Aufarbeitung</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> geht hervor, dass die ehemaligen<br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> beiden Heimsystemen schweren<br />
körperlichen und seelischen Belastungen<br />
wie auch traumatisierenden Situationen<br />
ausgesetzt waren, die zu erheblichen bis<br />
heute andauernden psychischen und sozialen<br />
Folgen führten. Während im Westen die<br />
Situation <strong>der</strong> Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> durch die eben<br />
genannten Reformen Ende <strong>der</strong> 60er-Jahre<br />
verbessert werden konnte, war die e<strong>in</strong>zige<br />
Verbesserungsmöglichkeit im Osten <strong>der</strong> Untergang<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>. Ehemalige Ost-Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
hatten 1989 allerd<strong>in</strong>gs schlechtere Möglichkeiten,<br />
die Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Wende positiv<br />
für sich zu nutzen. Die <strong>Heimerziehung</strong> hat<br />
<strong>in</strong> den 1940er- bis 1970er-Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
BRD und bis 1990 <strong>in</strong> <strong>der</strong> ehemaligen <strong>DDR</strong><br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche nicht nur <strong>in</strong> ihren<br />
Menschenrechten nachweislich verletzt,<br />
son<strong>der</strong>n auch manifeste Folgeersche<strong>in</strong>ungen<br />
für Betroffene mit sich gebracht (Laudien &<br />
Sachse 2011). Die praktizierten Erziehungsmethoden<br />
waren dabei ähnlich, es wurde<br />
<strong>in</strong> beiden Heimsystemen zur Durchsetzung<br />
von Diszipl<strong>in</strong> und Ordnung körperliche und<br />
seelische Gewalt angewandt. In beiden Heimsystemen<br />
wurde auch über sexuelle Gewalt<br />
durch die Erzieherpersonen berichtet. Dabei<br />
war <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> durch den Erlass des M<strong>in</strong>isteriums<br />
für Volksbildung vom 7.11.1949<br />
die körperliche Züchtigung e<strong>in</strong>schließlich<br />
gelegentlicher Klapse und Ohrfeigen nicht<br />
mehr nur an Schulen, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> allen<br />
an<strong>der</strong>en Erziehungse<strong>in</strong>richtungen, wie den<br />
Heimen, verboten. Verstöße sollten sofort<br />
dem Landesjugendamt mitgeteilt werden. In<br />
<strong>der</strong> BRD gab es lediglich Empfehlungen <strong>der</strong><br />
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