Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Was hilft ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bei <strong>der</strong> Bewältigung ihrer komplexen Traumatisierung?<br />
Fragenkatalog:<br />
1. Was berichten die ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
über die E<strong>in</strong>weisungsgründe und ihre Erfahrungen im<br />
Heimalltag?<br />
2. Welche Probleme bestehen <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> Heimunterbr<strong>in</strong>gung<br />
bis heute <strong>in</strong> gesundheitlicher, sozialer,<br />
beruflicher und f<strong>in</strong>anzieller H<strong>in</strong>sicht? Welche Auswirkungen<br />
auf die Beziehungen und die folgenden Generationen<br />
hatte die Heimunterbr<strong>in</strong>gung?<br />
3. Welche Wünsche zur Bewältigung ihrer Folgeprobleme<br />
äußern die Betroffenen? Welche direkten und<br />
<strong>in</strong>direkten Hilfen <strong>in</strong> allen Bereichen werden benötigt?<br />
4. Welche Hilfsangebote stehen bisher für die Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> den Bundeslän<strong>der</strong>n zur Verfügung?<br />
5. Was benötigen die Berater, wie müssen Anlaufstellen<br />
ausgestattet se<strong>in</strong>, um zukünftig den Wünschen<br />
und dem Bedarf an Hilfen gerecht zu werden?<br />
6. Welche Vorschläge gibt es, das Thema <strong>Heimerziehung</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> verstärkt <strong>in</strong> die Öffentlichkeit zu<br />
br<strong>in</strong>gen?<br />
Die Aussagekraft <strong>der</strong> gesammelten Informationen<br />
wird durch folgende Punkte e<strong>in</strong>geschränkt.<br />
Es ist zu vermuten, dass sich <strong>in</strong><br />
den Beratungsstellen o<strong>der</strong> als Teilnehmer an<br />
Studien vorrangig solche ehemalige Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
gemeldet haben, die <strong>in</strong> Spezialheimen<br />
untergebracht waren und überwiegend<br />
negative Heimerfahrungen gemacht haben,<br />
seltener dagegen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> aus den Normalheimen.<br />
Die Berichte enthalten zudem<br />
subjektive und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rückschau dargestellte<br />
Erfahrungen. E<strong>in</strong>e Verallgeme<strong>in</strong>erung <strong>der</strong><br />
Aussagen auf alle Heimtypen o<strong>der</strong> auf bestimmte<br />
Heime kann deshalb nicht erfolgen.<br />
Viele <strong>der</strong> ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> waren aber<br />
<strong>in</strong> ihrer „Heimkarriere“ <strong>in</strong> unterschiedlichen<br />
Heimtypen untergebracht, darunter auch <strong>in</strong><br />
Normalheimen, und können so auch über die<br />
dort herrschenden Zustände berichten.<br />
Die unterschiedlichen Lebensumstände<br />
vor <strong>der</strong> Heimunterbr<strong>in</strong>gung können aber die<br />
Beurteilung <strong>der</strong> Heimzustände bee<strong>in</strong>flussen.<br />
So können K<strong>in</strong><strong>der</strong> aus problematischen familiären<br />
Verhältnissen die Zustände im Heim<br />
vergleichsweise positiver empfunden haben<br />
als die K<strong>in</strong><strong>der</strong> aus e<strong>in</strong>er gut funktionierenden<br />
Familie. Bei e<strong>in</strong>er Verlegung von e<strong>in</strong>em Normalheim<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en JWH können die Erfahrungen<br />
aus dem Normalheim rückblickend<br />
ebenfalls positiver beurteilt werden, als sie<br />
tatsächlich waren.<br />
Da nicht alle Beratungsstellen e<strong>in</strong>e verlässliche<br />
Statistik führen, kann die Anzahl<br />
<strong>der</strong> dort erfolgten Kontakte nur geschätzt<br />
werden. Die M<strong>in</strong>destzahl <strong>der</strong> <strong>in</strong>direkt und<br />
direkt beteiligten Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> liegt bei 800,<br />
ist aber wohl deutlich höher, nämlich bei<br />
über 1000 anzusetzen. Die höchste Zahl an<br />
Beratungen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Statistik dokumentiert<br />
s<strong>in</strong>d, liegt mit ca. 500 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Thür<strong>in</strong>ger<br />
speziellen Anlaufstelle für ehemalige Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> vor. Die Kontakte <strong>in</strong> den<br />
an<strong>der</strong>en Beratungse<strong>in</strong>richtungen sowie die<br />
Zahl <strong>der</strong> Studienteilnehmer beliefen sich auf<br />
jeweils zwischen 30 und 200 Betroffene.<br />
Im folgenden Kapitel werden die wie<strong>der</strong>holt<br />
geäußerten Erfahrungen und Ansichten <strong>der</strong><br />
Betroffenen dargestellt. Auch wenn es sich<br />
um nicht gesicherte Daten und Informationen<br />
handelt, können aus <strong>der</strong> beträchtlichen<br />
Menge sich gleichen<strong>der</strong> Informationen<br />
plausible Rückschlüsse auf die Zustände<br />
und Abläufe <strong>in</strong> den Heimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> und<br />
die daraus resultierenden Folgen gezogen<br />
werden, die zum<strong>in</strong>dest die Erfahrungen e<strong>in</strong>es<br />
nicht unerheblichen Teils <strong>der</strong> Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
wi<strong>der</strong>spiegeln.<br />
2.3 Ergebnisse <strong>der</strong> Befragung<br />
2.3.1 E<strong>in</strong>weisungsgründe und Praktiken<br />
<strong>der</strong> E<strong>in</strong>weisung<br />
Nach § 23 Jugendhilfeverordnung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
war <strong>der</strong> Jugendhilfeausschuss befugt, bei<br />
Gefährdung <strong>der</strong> Erziehung, Entwicklung<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesundheit von Jugendlichen die<br />
<strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Spezialheim anzuordnen.<br />
Die Elternrechte wurden dadurch<br />
faktisch e<strong>in</strong>geschränkt, die Eltern konnten<br />
die Erziehung bzw. Fürsorge nicht mehr<br />
wahrnehmen und bestenfalls mit dem<br />
Referatsleiter <strong>der</strong> Jugendhilfe e<strong>in</strong>e freiwillige,<br />
zeitlich begrenzte Vere<strong>in</strong>barung zur<br />
Heimunterbr<strong>in</strong>gung treffen. Aber auch aus<br />
politischen Gründen konnte das Familiengesetzbuch<br />
für den Entzug des Elternrechtes<br />
genutzt werden. E<strong>in</strong>e staatsfe<strong>in</strong>dliche Bee<strong>in</strong>flussung<br />
<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> durch die Eltern (z. B.<br />
bei Fluchtgedanken, Ausreiseantragstellung)<br />
verletzte und gefährdete nach Ansicht des<br />
Staates die Persönlichkeitserziehung des<br />
M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen (Jahn 2010, 60).<br />
Viele ehemalige Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> berichteten,<br />
dass die Jugendhilfeausschüsse auf dieser gesetzlichen<br />
Grundlage, auch gegen den Willen<br />
<strong>der</strong> Eltern und unter erheblichem Druck,<br />
sogenannte „freiwillige Zustimmungen“<br />
für die Heime<strong>in</strong>weisung erwirken konnten.<br />
Die Jugendhilfekommissionen/-ausschüsse<br />
setzten sich hauptsächlich aus ehrenamtlichen<br />
Mitglie<strong>der</strong>n zusammen; diese waren<br />
Lehrer o<strong>der</strong> Erzieher, aber auch Nichtpädagogen;<br />
<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wurden auch Angehörige<br />
verschiedener Berufsgruppen aus Betrieben<br />
beigezogen, bei e<strong>in</strong>er Fallbesprechung auch<br />
aus den Betrieben <strong>der</strong> Eltern. Dadurch wurde<br />
<strong>der</strong> Druck auf die Eltern erhöht, denn sie<br />
mussten Repressalien seitens ihres Betriebes<br />
fürchten, wenn sie <strong>der</strong> Heime<strong>in</strong>weisung nicht<br />
zustimmten. E<strong>in</strong>e Betroffene berichtet zu<br />
ihrer Heime<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Spezialheim:<br />
„Me<strong>in</strong>e Mutter hatte ja ke<strong>in</strong>e Wahl, sie war<br />
alle<strong>in</strong>erziehend und auf ihre Arbeit angewiesen,<br />
me<strong>in</strong> Vater hat nichts gezahlt. Der Typ vom<br />
Betrieb hat angedeutet, sie könne auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
an<strong>der</strong>en Abteilung e<strong>in</strong>gesetzt werden, wo sie weniger<br />
Stress habe, dann aber auch weniger verdienen<br />
würde. Sie könne sich das ja überlegen. Wir waren<br />
aber auf das Geld angewiesen, also hat sie zugestimmt,<br />
sie bereut es bis heute.“<br />
E<strong>in</strong> Betroffener (1974 Erste<strong>in</strong>weisung):<br />
„Ich kann aus me<strong>in</strong>en Aktenunterlagen <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
beweisen, dass die Angaben <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
von denen me<strong>in</strong>er Eltern abweichen. Es wurde<br />
starker Druck auf die Eltern ausgeübt, bei den<br />
Aussprachen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfe seien welche vom<br />
Betrieb <strong>der</strong> Eltern dabei gewesen und hätten die<br />
Zustimmung zur Heime<strong>in</strong>weisung so erzwungen.“<br />
In e<strong>in</strong>er Vielzahl von Fällen waren die<br />
Gründe für die Heime<strong>in</strong>weisung auch aus<br />
heutiger Sicht nachvollziehbar, wenn z. B.<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche aus stark zerrütteten<br />
Familien zu ihrem eigenen Schutz <strong>in</strong>s<br />
Heim e<strong>in</strong>gewiesen wurden. Derart betroffene<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> meldeten sich auch aus freien Stücken<br />
bei <strong>der</strong> Jugendhilfe und baten um e<strong>in</strong>e<br />
Herausnahme aus <strong>der</strong> Familie. E<strong>in</strong>ige dieser<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> berichteten, dass sie sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Normalheim gut aufgehoben fühlten, sich<br />
dort e<strong>in</strong>gelebt und angepasst hatten. Trotzdem<br />
wurden sie aus nicht nachvollziehbaren<br />
Gründen, teils mehrfach, wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> die alten<br />
Zustände nach Hause entlassen. Sie liefen<br />
von dort aus Verzweiflung erneut weg und<br />
landeten so letztendlich unter dem Etikett<br />
<strong>der</strong> „Herumtreiberei“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim<br />
o<strong>der</strong> Jugendwerkhof. Wie die Betroffenen<br />
berichten, ist die Jugendhilfe solchen<br />
nachvollziehbaren Gründen für e<strong>in</strong> angeblich<br />
„haltloses Verhalten“ <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> nicht immer<br />
nachgegangen. Auch Jugendliche, die aus<br />
Heimweh o<strong>der</strong> aufgrund negativer Heimerfahrungen<br />
aus dem Heim entwichen, wurden<br />
als „Rumtreiber“ bezeichnet und zur Strafe<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Spezialheim verlegt. E<strong>in</strong>e Betroffene<br />
berichtet:<br />
„Was sollte ich denn machen? Ich wurde zu<br />
Hause immer verprügelt, es war schrecklich. Ich<br />
hatte Angst und schlief nachts manchmal unter<br />
e<strong>in</strong>er Brücke. Als sie mich fanden, wollte ich<br />
gerne <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim. Da g<strong>in</strong>g es mir gut, hatte ich<br />
endlich me<strong>in</strong>e Ruhe und bekam genug zu essen.<br />
Aber dann schickten sie mich wie<strong>der</strong> nach Hause.<br />
Ich lief wie<strong>der</strong> weg, denn das Schlagen g<strong>in</strong>g<br />
wie<strong>der</strong> los, kam wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Heim. Das wie<strong>der</strong>holte<br />
sich dann mehrfach, bis sie mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />
Jugendwerkhof e<strong>in</strong>wiesen wegen ‚Rumtreiberei‘,<br />
als ich aus dem Elternhaus wie<strong>der</strong> abhaute, aber<br />
was sollte ich denn sonst tun?“<br />
Auch nach Me<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> <strong>in</strong>terviewten<br />
Experten hat die Jugendhilfe bei <strong>der</strong> Begründung<br />
für e<strong>in</strong>e Heime<strong>in</strong>weisung Begriffe benutzt,<br />
die oft dem eigentlichen Anlass nicht<br />
angemessen waren, den Sachverhalt übertrieben<br />
und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen sogar absichtlich<br />
falsch dargestellt. Beispiele dafür s<strong>in</strong>d:<br />
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