Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Was hilft ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bei <strong>der</strong> Bewältigung ihrer komplexen Traumatisierung?<br />
Entschädigungsleistungen als mögliche Entscheidungshilfen<br />
dienen könnten.<br />
Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Verjährungsfristen<br />
zum sexuellen Missbrauch und<br />
zu Gewalterfahrungen nach den<br />
Opferentschädigungsgesetzen (OEG)<br />
Von e<strong>in</strong>igen Beratern wird e<strong>in</strong>e Verlängerung<br />
<strong>der</strong> Verjährungsfristen zum Anspruch<br />
auf Entschädigungsleistungen nach dem<br />
OEG vorgeschlagen. Viele von Gewalt o<strong>der</strong><br />
Missbrauch Betroffene, auch die ehemaligen<br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, konnten diese Anträge<br />
nicht fristgemäß stellen, da sie nicht im Bundesgebiet<br />
lebten und den Opfern meist erst<br />
als Erwachsene, also mit e<strong>in</strong>er langen Latenzzeit<br />
zum eigentlichen Ereignis, möglich ist,<br />
darüber zu reden, und die Täter auch nicht<br />
angezeigt werden konnten. Hier sollte über<br />
mögliche Ausnahmeregelungen für die ehemaligen<br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> nachgedacht werden.<br />
Ideen zur Öffentlichkeitsarbeit<br />
Die ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> wünschen sich,<br />
dass die Öffentlichkeit regelmäßig, umfangreich<br />
und über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum über<br />
die Zustände <strong>in</strong> den <strong>DDR</strong>-Heimen <strong>in</strong>formiert<br />
wird, z. B. durch Fernseh- o<strong>der</strong> Zeitungsberichte.<br />
Es sollten Veröffentlichungen zu dem<br />
Thema geför<strong>der</strong>t werden, Informationsveranstaltungen<br />
<strong>in</strong> Schulen und an frei zugänglichen<br />
Veranstaltungsorten <strong>in</strong> vielen Städten<br />
angeboten werden.<br />
Nach Me<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> Berater sollten <strong>in</strong> den<br />
Medien und auf Veranstaltungen möglichst<br />
nicht immer die Betroffenen selbst auftreten<br />
und berichten müssen, es wären auch publikumswirksame<br />
Beiträge möglich, bei denen<br />
die Vermittlung <strong>der</strong> Heimerfahrungen durch<br />
neutrale Personen o<strong>der</strong> mittels neutraler<br />
Medien erfolgen kann, z. B. durch Theateraufführungen,<br />
Vorträge, Lesungen, öffentliche<br />
Diskussionen, Ausstellungen, E<strong>in</strong>richtung<br />
von Museen und durch Filmbeiträge.<br />
In den noch bestehenden Nachfolgee<strong>in</strong>richtungen<br />
ehemaliger Heime <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
könnten Er<strong>in</strong>nerungstafeln, Broschüren o<strong>der</strong><br />
Veranstaltungen auf die früheren Heimzustände<br />
h<strong>in</strong>weisen und so die Schicksale <strong>der</strong><br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> würdigen.<br />
3. Potenziell schädigende<br />
Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>es<br />
Heimaufenthaltes <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
Sicherlich kann die Aufnahme <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim<br />
zur Abwendung gefährden<strong>der</strong> Bed<strong>in</strong>gungen<br />
e<strong>in</strong>e wirkungsvolle und notwendige Hilfe<br />
darstellen, etwa dann, wenn zerrüttete Familienverhältnisse<br />
vorliegen und K<strong>in</strong><strong>der</strong> Zeuge<br />
o<strong>der</strong> Opfer von Gewalt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie werden.<br />
Dennoch ist die Heime<strong>in</strong>weisung immer<br />
e<strong>in</strong>e kritische Situation, bei <strong>der</strong> schädigende<br />
Folgen beispielsweise durch die Trennung<br />
von den primären Beziehungspersonen und<br />
das Herausgerissenwerden aus dem vertrauten<br />
Umfeld unvermeidbar s<strong>in</strong>d und gegen<br />
den potenziellen Nutzen <strong>der</strong> Maßnahme abgewogen<br />
werden müssen. Die psychologische<br />
und psychiatrische Forschungsliteratur gibt<br />
lei<strong>der</strong> nur wenig Auskunft zu den konkreten<br />
Schädigungsfolgen durch die Herausnahme<br />
von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n o<strong>der</strong> Jugendlichen aus <strong>der</strong> Familie<br />
und die sogenannte Fremdplatzierung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim. Wir fassen im Folgenden die aus<br />
e<strong>in</strong>er Literaturrecherche <strong>in</strong> psychologischen<br />
und mediz<strong>in</strong>ischen Datenbanken gewonnene<br />
empirische Datenlage zusammen.<br />
Institutionelle Pflege stellt nicht notwendigerweise<br />
e<strong>in</strong> Risiko für die Entwicklung<br />
von psychischen Erkrankungen o<strong>der</strong> Verhaltensstörungen<br />
dar. Entscheidend für e<strong>in</strong>e<br />
günstige Prognose <strong>der</strong> Persönlichkeitsentwicklung<br />
s<strong>in</strong>d die zeitliche Kont<strong>in</strong>uität <strong>der</strong><br />
Pflege und die erzieherischen Fähigkeiten <strong>der</strong><br />
Bezugspersonen im Heim o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Pflege<br />
(Larsson et al. 1986). Gleichzeitig ist auch<br />
durch Längsschnittstudien gut bekannt, dass<br />
fehlende Zuwendung im S<strong>in</strong>ne emotionaler<br />
Vernachlässigung und Deprivation ausgesprochen<br />
schädigende Auswirkungen haben<br />
kann (Matejcek 2006, Rutter 2006). Dass<br />
längerfristig unterstützende Bezugspersonen<br />
für die Entwicklung e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des e<strong>in</strong>e ausgesprochen<br />
wichtige Bedeutung haben, zeigt<br />
auch <strong>der</strong> Befund, dass die Anzahl <strong>der</strong> Wechsel<br />
von Unterbr<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> unterschiedlichen<br />
Heimen o<strong>der</strong> Pflegestellen eng mit dem<br />
Ausmaß <strong>der</strong> psychischen Störungen bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
korrelieren (Newton 2000). Im Heimbereich<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> wurden K<strong>in</strong><strong>der</strong> ausgesprochen<br />
häufig Beziehungsabbrüchen ausgesetzt, da<br />
mehrfache Verlegungen <strong>in</strong>nerhalb des Heimsystems<br />
<strong>der</strong> Normal- o<strong>der</strong> Spezialheime die<br />
Regel war, sodass es aus diesem Grund nicht<br />
möglich war, tragfähige Beziehungen zu<br />
Erziehern o<strong>der</strong> Freundschaften zu an<strong>der</strong>en<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>n aufzubauen.<br />
Nach dem heutigen Wissensstand werden<br />
durch wie<strong>der</strong>holte Fremdplatzierungen<br />
B<strong>in</strong>dungsstörungen verursacht o<strong>der</strong> vorbestehende<br />
B<strong>in</strong>dungsstörungen verschlimmert<br />
(Brisch 2006). Dies trifft <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em<br />
Maße zu, wenn <strong>der</strong> Kontakt zu Eltern und<br />
Geschwistern aktiv unterbunden wird, wie<br />
es <strong>in</strong> den <strong>DDR</strong>-Heimen oft <strong>der</strong> Fall war. Die<br />
Folge s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Verlust familiärer B<strong>in</strong>dungen<br />
– soweit diese vor dem Heimaufenthalt<br />
<strong>in</strong>takt waren, und Störungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> persönlichen<br />
Entwicklung. Beson<strong>der</strong>s oft geht das<br />
Vertrauen <strong>in</strong> verlässliche zwischenmenschliche<br />
Beziehungen verloren. Infolge des<br />
Kontaktabbruches zu früher nahestehenden<br />
Bezugspersonen durch die Heimunterbr<strong>in</strong>gung<br />
kann bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n die Überzeugung<br />
entstehen, von diesen alle<strong>in</strong>- o<strong>der</strong> im Stich<br />
gelassen worden zu se<strong>in</strong>. Derartige Vernachlässigungserfahrungen<br />
können später<br />
zu e<strong>in</strong>em fast unstillbaren Bedürfnis nach<br />
Zuwendung und Beachtung führen. Folgesymptome<br />
können anklammerndes Kontakt-<br />
und Beziehungsverhalten o<strong>der</strong> das<br />
habituelle Zurückstellen eigener Bedürfnisse<br />
se<strong>in</strong> aus Angst vor dem Verlust e<strong>in</strong>er wie<strong>der</strong>um<br />
nahestehenden Person. Die <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
K<strong>in</strong>dheit gesammelten Erfahrungen mit<br />
dem Verlust von Beziehungen und unsicheren<br />
B<strong>in</strong>dungen führen im Erwachsenenalter<br />
häufig zu e<strong>in</strong>er verstärkten Verletzbarkeit<br />
<strong>in</strong> zwischenmenschlichen Konfliktsituationen<br />
und Reaktionen wie beispielsweise<br />
krankhafte Eifersucht o<strong>der</strong> bei e<strong>in</strong>er Trennung<br />
des Partners zu e<strong>in</strong>em übertriebenen<br />
Gefühl persönlicher Entwertung. Derartiges<br />
Verhalten führt fast zwangsläufig zu e<strong>in</strong>er<br />
Verstärkung <strong>der</strong> Beziehungsprobleme, zu<br />
neuen Konflikten und birgt die Gefahr e<strong>in</strong>es<br />
erneuten Beziehungsverlustes. Diese durch<br />
k<strong>in</strong>dliche B<strong>in</strong>dungsstörungen geprägten<br />
<strong>in</strong>terpersonellen Verhaltensmuster s<strong>in</strong>d auch<br />
mithilfe e<strong>in</strong>er Psychotherapie oft nur schwer<br />
zu korrigieren.<br />
Erst <strong>in</strong> neuer Zeit gibt es Studien, die sich<br />
explizit mit <strong>der</strong> Häufigkeit von traumatischen<br />
Lebensereignissen und von Traumafolgestörungen<br />
bei Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n beschäftigen.<br />
Jaritz, Wies<strong>in</strong>ger und Schmid (2008)<br />
kommen aufgrund <strong>der</strong> Untersuchung von<br />
Traumafolgesymptomen bei e<strong>in</strong>er repräsentativen<br />
Stichprobe von Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n zu dem<br />
Schluss, dass K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche <strong>in</strong><br />
stationären Jugendhilfee<strong>in</strong>richtungen häufig<br />
extremen psychosozialen Belastungen und<br />
sequenziellen Traumatisierungen ausgesetzt<br />
s<strong>in</strong>d. In <strong>der</strong> zitierten Studie wurde bei e<strong>in</strong>er<br />
repräsentativen Stichprobe von 80 K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
und Jugendlichen aus elf Wohngruppen<br />
unterschiedlicher Jugendhilfee<strong>in</strong>richtungen<br />
die Häufigkeit von traumatischen Lebenserfahrungen<br />
erhoben. Die Datenerhebung<br />
erfolgte durch Befragung des pädagogischen<br />
Personals sowie durch Anamneseerhebung<br />
bei den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. E<strong>in</strong> sehr hoher Anteil von<br />
75 % <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen erlebte<br />
nach Angaben ihres Fachdienstes zum<strong>in</strong>dest<br />
e<strong>in</strong> traumatisches Lebensereignis. Bei<br />
51 % <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen fanden<br />
sich mehrere unterschiedliche Arten von<br />
Traumatisierungen.<br />
Die Gefahr, Opfer von körperlicher o<strong>der</strong> sexueller<br />
Gewalt zu werden, ist <strong>in</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen<br />
um e<strong>in</strong> Vielfaches höher als bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, die <strong>in</strong><br />
ihrer Familie aufwachsen (Hobbs et al. 1999).<br />
Auch die Erfahrungen mit den Bed<strong>in</strong>gungen<br />
<strong>der</strong> Heimaufenthalte <strong>in</strong> den 50er- und 60er-<br />
Jahren <strong>der</strong> BRD zeigen, dass körperliche und<br />
sexuelle Übergriffe beson<strong>der</strong>s dort geschehen.<br />
„wo es sich um e<strong>in</strong>e weitgehend abgeschlossene<br />
‚Welt im Kle<strong>in</strong>en‘ handelt, zu <strong>der</strong> die Außenwelt<br />
wenig Zugang hat und <strong>in</strong> <strong>der</strong> versteckte Machtstrukturen<br />
herrschen, z. B. staatliche, private<br />
und kirchliche Schulen und Internate, Landschulheime,<br />
Sportvere<strong>in</strong>e, Klöster und Pfarreien“<br />
(Bründel 2010).<br />
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