Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
5.1.2.2.2 E<strong>in</strong>weisung durch die Organe <strong>der</strong><br />
Jugendhilfe<br />
E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Weg <strong>in</strong> die <strong>Heimerziehung</strong><br />
war ähnlich wie auch schon im RJGG von<br />
1923/1943 <strong>der</strong>, dass die Staatsanwaltschaft<br />
den Fall an die Jugendhilfe abgab und im Gegenzug<br />
auf die weitere Strafverfolgung verzichtete.<br />
E<strong>in</strong>e Zustimmung des Gerichts war<br />
hierfür nicht erfor<strong>der</strong>lich (§ 35 JGG-<strong>DDR</strong> 249 ).<br />
Auch mussten die Taten nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />
ger<strong>in</strong>gfügig se<strong>in</strong>; maßgeblich sollte vielmehr<br />
die Frage se<strong>in</strong>, welche E<strong>in</strong>wirkung auf den<br />
Täter s<strong>in</strong>nvoll o<strong>der</strong> notwendig erschien. 250 Zuständigkeiten<br />
und Verfahren bei den Organen<br />
<strong>der</strong> Jugendhilfe richteten sich <strong>in</strong> diesen<br />
Fällen nach den allgeme<strong>in</strong>en Grundsätzen,<br />
wie sie oben <strong>in</strong> Kap. 5.1.1 dargestellt wurden.<br />
Wenn e<strong>in</strong>e Erziehungsmaßnahme bereits<br />
angeordnet war, konnte auch das Gericht das<br />
Verfahren e<strong>in</strong>stellen (§ 40 Abs. 1 JGG). Die<br />
Staatsanwaltschaft musste <strong>der</strong> E<strong>in</strong>stellung<br />
nicht zustimmen (§ 3 Abs. 2 EGStPO 251 ). Die<br />
gängige Praxis g<strong>in</strong>g nach Sachse dah<strong>in</strong>, dass<br />
den Eltern im Laufe des Ermittlungs- o<strong>der</strong><br />
Strafverfahrens nahegelegt wurde, e<strong>in</strong>e Erziehungsvere<strong>in</strong>barung<br />
mit den Organen <strong>der</strong><br />
Jugendhilfe abzuschließen (zu dieser s. u.<br />
Kap. 5.1.3). 252<br />
5.1.2.2.3 Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
bei Verletzung von Weisungen<br />
<strong>Heimerziehung</strong> konnte weiterh<strong>in</strong> angeordnet<br />
werden, wenn <strong>der</strong> Jugendliche gerichtlichen<br />
Weisungen nicht nachkam (§ 16 Abs. 1 JGG-<br />
<strong>DDR</strong>) o<strong>der</strong> wenn – was erstaunlich ersche<strong>in</strong>t<br />
249 § 35 JGG 1952: „(1) Hält <strong>der</strong> Staatsanwalt für<br />
den Fall, daß vormundschaftsrichterliche Erziehungsmaßnahmen<br />
angeordnet werden, e<strong>in</strong>e Anklage vor<br />
dem Jugendgericht für entbehrlich, so regt er solche<br />
Erziehungsmaßnahmen beim Vormundschaftsrichter<br />
[nach 1952 beim Jugendhilfeausschuss des Kreisrats,<br />
FW] an. (2) Der Staatsanwalt sieht von <strong>der</strong> Verfolgung<br />
ab, wenn e<strong>in</strong>e ausreichende Erziehungsmaßnahme<br />
bereits angeordnet ist. […].“<br />
250 Goldenbaum & San<strong>der</strong> 1966, 166.<br />
251 E<strong>in</strong>führungsgesetz zur Strafprozessordnung,<br />
GBl. 1952, 995.<br />
252 Vgl. Sachse 2010, 129 und 142.<br />
– se<strong>in</strong>e Eltern gerichtlich auferlegten Pflichten<br />
nicht nachkamen. Der H<strong>in</strong>tergrund ist<br />
folgen<strong>der</strong>: Nach § 12 JGG-<strong>DDR</strong> konnten die<br />
Eltern o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Verwandte e<strong>in</strong>e drohende<br />
<strong>Heimerziehung</strong> dadurch abwenden, dass sie<br />
sich für den Jugendlichen verbürgten. Sie<br />
mussten sich dann schriftlich verpflichten,<br />
den Jugendlichen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie „zu e<strong>in</strong>em<br />
verantwortungsbewußten Menschen“ zu erziehen<br />
(§ 12 Abs. 1). Kamen sie dieser Pflicht<br />
nicht nach, wurden sie selbst nach § 7 JGG<br />
zur Verantwortung gezogen – ihnen drohten<br />
Strafen bis zu zwei Jahren Gefängnis –, und<br />
<strong>der</strong> Jugendliche konnte gem. § 16 Abs. 2 im<br />
Heim untergebracht werden. Diese Entscheidung<br />
musste vom Jugendschöffengericht<br />
auf <strong>der</strong> Grundlage e<strong>in</strong>er Hauptverhandlung<br />
getroffen werden (§ 46 JGG-<strong>DDR</strong>).<br />
Nach e<strong>in</strong>er Entscheidung des OG aus dem<br />
Jahr 1957 hatte die Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
<strong>in</strong> diesen Fällen zwei Voraussetzungen:<br />
253 Der Jugendliche musste die<br />
Schuld bzw. jedenfalls e<strong>in</strong>e Mitschuld für die<br />
Nichterfüllung <strong>der</strong> Weisung tragen, was allerd<strong>in</strong>gs<br />
schon angenommen wurde, wenn er<br />
sich gegenüber <strong>der</strong> Weisung une<strong>in</strong>sichtig und<br />
gleichgültig verhielt. 254 Und die <strong>Heimerziehung</strong><br />
musste notwendig se<strong>in</strong>. Etwas unklar<br />
bleibt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur, unter welchen Umständen<br />
sie als notwendig angesehen wurde.<br />
Jedenfalls konnte e<strong>in</strong> vergleichsweise leichter<br />
Verstoß gegen e<strong>in</strong>e Weisung (hier konkret:<br />
Verschlechterung <strong>der</strong> schulischen Leistungen)<br />
die <strong>Heimerziehung</strong> nicht rechtfertigen;<br />
auch mussten folglich Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte<br />
berücksichtigt werden. 255<br />
5.1.2.2.4 <strong>Heimerziehung</strong> bei Nichtzahlung<br />
e<strong>in</strong>er Geldbuße („Übertretungen“, § 51<br />
JGG)<br />
Das RStGB von 1871, das <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bis<br />
<strong>in</strong>s Jahr 1968 gültig war, kannte neben den<br />
Verbrechen und Vergehen e<strong>in</strong>e dritte Kategorie<br />
an Straftaten, die sogenannten „Übertretungen“<br />
(§ 1 Abs. 3, § 360 RStGB). Sie wurden<br />
253 OG, 5.2.1957 – 2 Zst III 5/57, NJ 1957, 153.<br />
254 Blöcker & Oertl 1966, 487.<br />
255 Blöcker & Oertl 1966, 487.<br />
nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em förmlichen Strafverfahren,<br />
son<strong>der</strong>n mit polizeilichen Strafverfügungen<br />
verfolgt. Nach § 51 JGG konnten polizeiliche<br />
Strafverfügungen <strong>in</strong> Form von Geldbußen<br />
auch gegen Jugendliche verhängt werden. 256<br />
Zahlten die Jugendlichen diese Bußen nicht,<br />
wurde ihr Fall an die Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
weitergegeben. Diese konnten dann nach<br />
den allgeme<strong>in</strong>en Regeln erzieherische Maßnahmen<br />
anordnen, unter an<strong>der</strong>em auch die<br />
<strong>Heimerziehung</strong>. 257<br />
5.1.2.2.5 Vorläufige Anordnung <strong>der</strong><br />
<strong>Heimerziehung</strong> durch Gerichte, Polizei<br />
und Staatsanwaltschaft – <strong>Heimerziehung</strong><br />
als Untersuchungshaft?<br />
Während e<strong>in</strong>es laufenden Verfahrens konnte<br />
das Strafgericht gegen den Jugendlichen<br />
vorläufige Maßnahmen anordnen, zu denen<br />
auch die <strong>Heimerziehung</strong> zählte. Gegen diese<br />
Anordnung war die Beschwerde zulässig, die<br />
jedoch ke<strong>in</strong>e aufschiebende Wirkung hatte<br />
(§ 45 JGG-<strong>DDR</strong>).<br />
Des Weiteren wurde die vorläufige Anordnung<br />
nach § 45 JGG möglicherweise <strong>in</strong> sehr<br />
extensiver Auslegung genutzt, um Durchgangsheime<br />
als Untersuchungshaftanstalten<br />
für M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige zu zweckentfremden. 258<br />
Nachgewiesen ist jedenfalls, dass <strong>in</strong> die<br />
Durchgangsheime auch M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige verbracht<br />
wurden, gegen die e<strong>in</strong> strafrechtliches<br />
Ermittlungsverfahren lief. Dieses Vorgehen<br />
wurde schon <strong>in</strong> den 1950er-Jahren <strong>in</strong>tern<br />
kritisiert. 259 Trotzdem wurde diese Praxis<br />
256 Siehe Deutsches Institut für<br />
Rechtswissenschaft 1957, 286.<br />
257 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung 1953, 82.<br />
258 Dies vermutet Sachse (2010, 129).<br />
259 Vgl. Entwurf e<strong>in</strong>es Merkblattes des M<strong>in</strong>isteriums<br />
für Volksbildung für die Abteilungen Volksbildung<br />
bei den Räten <strong>der</strong> Kreise (ca. 1961), BArch DR<br />
2/60998, Ziff. 1: „Durchgangsheime s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Haftanstalten.<br />
Anträge <strong>der</strong> Staatsanwaltschaft und <strong>der</strong><br />
Krim<strong>in</strong>alpolizei auf Sicherstellung von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und<br />
Jugendlichen müssen demzufolge abgelehnt werden.“<br />
Ob das Merkblatt jemals veröffentlicht wurde, ist<br />
unbekannt. Siehe aber auch die Beiträge „Schluss mit<br />
<strong>der</strong> Schlu<strong>der</strong>ei“, <strong>in</strong>: Jugendhilfe und <strong>Heimerziehung</strong><br />
4 (1956), 157 sowie „Durchgangsheime dienen nicht<br />
<strong>der</strong> fluchtsicheren Unterbr<strong>in</strong>gung“, <strong>in</strong>: Sozialistische<br />
im Jahr 1967 im Wege e<strong>in</strong>er Anweisung<br />
legalisiert. Danach waren nunmehr nicht<br />
die Polizei und Staatsanwaltschaft, son<strong>der</strong>n<br />
die Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe dafür zuständig,<br />
del<strong>in</strong>quente Jugendliche während e<strong>in</strong>es laufenden<br />
Ermittlungsverfahrens <strong>in</strong> die Durchgangsheime<br />
zu verbr<strong>in</strong>gen. 260 Die frühere<br />
Praxis, nach <strong>der</strong> die Jugendlichen unmittelbar<br />
durch Polizei und Staatsanwaltschaft<br />
e<strong>in</strong>gewiesen wurden, wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> historischen<br />
Forschung aber auch für die Zeit nach 1967<br />
vermutet. 261 1987 wurde sie ausdrücklich<br />
verboten. 262<br />
5.1.2.2.6 <strong>Heimerziehung</strong> nach<br />
Haftverbüßung<br />
Die Jugendwerkhöfe wurden nicht als Ersatz<br />
für die Untersuchungshaft (siehe oben Kap.<br />
5.1.2.2.5), son<strong>der</strong>n als e<strong>in</strong>e Art Sicherungsverwahrung<br />
für Jugendliche genutzt, die<br />
ihre Freiheitsstrafe im Jugendhaus bereits<br />
verbüßt hatten. Gesetzlich geregelt war die<br />
Möglichkeit, die Strafe auszusetzen und<br />
statt dessen e<strong>in</strong>e Erziehungsmaßnahme<br />
anzuordnen, wenn sie noch nicht vollständig<br />
verbüßt war (§ 19 JGG-<strong>DDR</strong>). Diese Entscheidung<br />
musste vom Jugendgericht getroffen<br />
werden. Es s<strong>in</strong>d jedoch Fälle dokumentiert,<br />
<strong>in</strong> denen Jugendliche ohne e<strong>in</strong>e gerichtliche<br />
Entscheidung nach dem Ende <strong>der</strong> Haftzeit <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>en Jugendwerkhof verlegt wurden. Für<br />
diese Praxis ist e<strong>in</strong>e gesetzliche Grundlage<br />
Erziehung <strong>in</strong> Jugendhilfe, Heim und Hort 5/1959, 15.<br />
260 Geme<strong>in</strong>same Anweisung über die Zusammenarbeit<br />
<strong>der</strong> StA, <strong>der</strong> Organe des Innern und <strong>der</strong><br />
Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe im Ermittlungsverfahren<br />
gegen jugendliche Rechtsverletzer und bei <strong>der</strong><br />
Durchsetzung weiterer Maßnahmen zur wirksamen<br />
Bekämpfung <strong>der</strong> Jugendkrim<strong>in</strong>alität v. 6.2.1967, BStU<br />
MfS HA XX Nr. 2206, S. 56 ff., Ziff. 1.1.5 (S. 3).<br />
261 Vgl. die H<strong>in</strong>weise bei Zimmermann 2004,<br />
252.<br />
262 § 3 Abs. 4 <strong>der</strong> „Anweisung Nr. 11/87 über<br />
Aufgaben und Arbeitsweisen bei <strong>der</strong> Aufnahme, Unterbr<strong>in</strong>gung<br />
und Rückführung aufgegriffener K<strong>in</strong><strong>der</strong> und<br />
Jugendlicher“ v. 3.11.1987, mit Sicherheitsbestimmungen,<br />
BStU MfS HA IX 4465, BLHA Rep. 401 RdB Nr.<br />
24492.<br />
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