Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
4.2.3 Methoden <strong>der</strong> Kollektiverziehung<br />
Die Umformung e<strong>in</strong>er Gruppe <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Kollektiv<br />
sollte nach Mannschatz <strong>in</strong> drei Stufen<br />
erfolgen. War die Formierung des Kollektivs<br />
e<strong>in</strong>mal gelungen, so die Erwartung, würde<br />
das Kollektiv die Erziehung aller Neuankömml<strong>in</strong>ge<br />
übernehmen. Damit würden die<br />
Kollektivmitglie<strong>der</strong> selbst zu Subjekten <strong>der</strong><br />
Erziehung, <strong>der</strong> Erzieher übernahm die Rolle<br />
als „Vertrauter“, als „Kampfgefährte“ <strong>der</strong><br />
Insassen. 412<br />
Dieser idealtypische Zustand – <strong>der</strong> noch<br />
erkennbar durch das romantisierende Kollektivbild<br />
geprägt ist – sollte durch drei methodische<br />
Schritte erreicht werden. Eberhard<br />
Mannschatz hatte Ende <strong>der</strong> 1950er-Jahre<br />
versucht, im Jugendwerkhof Römhild Kollektive<br />
nach dieser Methodik zu formieren.<br />
In e<strong>in</strong>er ersten Etappe sollte sich <strong>der</strong> Leiter<br />
mit sogenannten „diktatorischen For<strong>der</strong>ungen“<br />
durchsetzen. Aus willigen Mitglie<strong>der</strong>n<br />
formierte er e<strong>in</strong> „Aktiv“, das als „Transmissionsriemen“<br />
<strong>in</strong> das Kollektiv h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> wirken<br />
und se<strong>in</strong>e For<strong>der</strong>ungen verstärken sollte. Die<br />
Mitglie<strong>der</strong> des Aktivs übernahmen Mitverantwortung<br />
(beispielsweise zur Organisation<br />
des Tagesablaufes).<br />
In e<strong>in</strong>er zweiten Etappe wurden die Interessen<br />
des Kollektivs vom Aktiv formuliert<br />
und vorgetragen. Sie fanden beim Leiter<br />
Verstärkung und bestimmten die öffentliche<br />
Me<strong>in</strong>ung. Diese „Interessen“ des Kollektivs<br />
bezogen sich im Regelfall auf die Optimierung<br />
vorgegebener Abläufe, auf die Überbietung<br />
bestimmter Vorgaben und hatten zu<br />
vermeiden, mit <strong>der</strong> Autorität des Leiters <strong>in</strong><br />
Konflikt zu geraten.<br />
In e<strong>in</strong>er dritten Etappe sollten die pädagogischen<br />
For<strong>der</strong>ungen „durch das Vortragen<br />
von Moraltheorie“ ergänzt werden. Geme<strong>in</strong>t<br />
war damit vermutlich das theoretische<br />
Rüstzeug, das für e<strong>in</strong>e bewusste Entscheidung<br />
nötig war. Nunmehr sollte <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelne<br />
– e<strong>in</strong> neuer Insasse etwa – durch das Kollektiv<br />
erzogen werden. In se<strong>in</strong>er Dissertation<br />
412 Pädagogisches Experiment im Jugendwerkhof<br />
„Rudolf Harbig“ <strong>in</strong> Römhild (unvollständig, undatiert,<br />
um 1954). In: BArch DR 2/5568, S. 60 f.<br />
beschreibt Mannschatz e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fachen und<br />
wirksamen Mechanismus, dem diese Kollektiverziehung<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> dritten Stufe folgte:<br />
„Die Neul<strong>in</strong>ge f<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>e positive öffentliche<br />
Me<strong>in</strong>ung vor und fügen sich schon deshalb<br />
e<strong>in</strong>, weil sie ihr nicht entgegenzutreten<br />
wagen. Sie s<strong>in</strong>d als e<strong>in</strong>zelne <strong>der</strong> kompakten<br />
positiven allgeme<strong>in</strong>en Me<strong>in</strong>ung gegenüber<br />
aktionsunfähig.“ 413<br />
In <strong>der</strong> Auswertung des Feldversuches<br />
wurde festgestellt, dass es gelungen war, die<br />
For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> ersten Stufe durchzusetzen.<br />
„Elementare For<strong>der</strong>ungen s<strong>in</strong>d durchgesetzt.<br />
Ordnung, Diszipl<strong>in</strong> und Sauberkeit<br />
s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Probleme mehr.“ Auch für die<br />
zweite Stufe hatten sich ansatzweise Erfolge<br />
gezeigt. Die an<strong>der</strong>en Erziehungsziele („Stellung<br />
des Zögl<strong>in</strong>gs als Subjekt <strong>der</strong> Erziehung<br />
und Stellung des Erziehers als Vertrauter, als<br />
‚Kampfgefährte‘ <strong>der</strong> Brigade“) wurden jedoch<br />
verfehlt. 414<br />
Das Experiment von Römhild kann als<br />
symptomatisch für die Kollektiverziehung<br />
<strong>in</strong> den Heimen <strong>der</strong> Jugendhilfe gelten. Zwar<br />
konnten über die Kollektiverziehung erfolgreich<br />
Mechanismen <strong>der</strong> Unterordnung und<br />
<strong>in</strong>ternen Hierarchien ausgebildet werden.<br />
Der Zugriff auf die Überzeugungen, <strong>der</strong><br />
sich an den „Aktivs“ und <strong>der</strong> „öffentlichen<br />
Me<strong>in</strong>ung“ <strong>in</strong> den Kollektiven nie<strong>der</strong>schlug,<br />
sche<strong>in</strong>t dagegen weitgehend misslungen zu<br />
se<strong>in</strong>. Inspektionen vermeldeten regelmäßig<br />
den mangelnden E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Pionierorganisation<br />
und <strong>der</strong> FDJ, fehlende Mitverantwortung<br />
und Initiative <strong>der</strong> Insassen. In Jugendwerkhöfen<br />
und Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen wurde<br />
daraufh<strong>in</strong> oftmals die Kollektiverziehung auf<br />
e<strong>in</strong>e schlichte Erziehung zur Unterordnung<br />
reduziert. In e<strong>in</strong>em Bericht vom Juli 1989<br />
über das Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim Kampehl wurde<br />
beispielsweise nur noch das „Erwachsenenkollektiv“<br />
thematisiert, dem e<strong>in</strong>e straffe Führung<br />
des Heimbetriebes attestiert wurde. 415<br />
413 Mannschatz, 1957.<br />
414 Pädagogisches Experiment im Jugendwerkhof<br />
„Rudolf Harbig“ <strong>in</strong> Römhild (unvollständig, undatiert,<br />
um 1954). In: BArch DR 2/5568, S. 60 f.<br />
415 Bericht vom 10. Juli 1989: Analyse des<br />
Schuljahres 1988/1989 des Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimes<br />
Soweit bisher bekannt, wurde e<strong>in</strong> unübersehbarer<br />
Wi<strong>der</strong>spruch zwischen den Methoden<br />
und Zielen <strong>der</strong> Kollektiverziehung nie thematisiert.<br />
Es ersche<strong>in</strong>t zum<strong>in</strong>dest fraglich, ob<br />
e<strong>in</strong> Erzieher, nachdem er sich mit den „diktatorischen<br />
For<strong>der</strong>ungen“ durchgesetzt hatte,<br />
von den Insassen noch als „Vertrauter“ und<br />
„Kampfgefährte“ akzeptiert würde. Gerade<br />
mit dieser Form <strong>der</strong> Bildung von Aktivs<br />
sche<strong>in</strong>en auch Konflikte unter den Insassen<br />
ausgelöst worden zu se<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe<br />
von Fällen mit schweren Misshandlungen<br />
endeten. Insassen wandten sich gegen diejenigen,<br />
die <strong>in</strong> ihren Augen mit den Erziehern<br />
kollaborierten, <strong>der</strong>en „diktatorischen For<strong>der</strong>ungen“<br />
sie am eigenen Leib erlebt hatten. Im<br />
Jugendwerkhof Wolfersdorf beg<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> Mitglied<br />
<strong>der</strong> dortigen FDJ-Leitung aus diesem<br />
Grund e<strong>in</strong>en Selbstmordversuch, „weil er die<br />
dauernden Repressalien se<strong>in</strong>er Brigademitglie<strong>der</strong><br />
nicht mehr ertragen konnte“. 416<br />
4.3 Arbeitserziehung<br />
Die Arbeitserziehung wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
sowohl als Teil <strong>der</strong> Kollektiverziehung<br />
als auch als e<strong>in</strong>e eigene Erziehungsmethode<br />
betrachtet. Im Idealfall sollten sich<br />
Kollektiv- und Arbeitserziehung wechselseitig<br />
ergänzen. In e<strong>in</strong>igen Fällen gerieten<br />
Arbeits- und Kollektiverziehung aber auch<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Konkurrenzverhältnis. Das geschah<br />
beispielsweise, wenn Jugendliche im Selbstbewusstse<strong>in</strong><br />
„des Arbeiters“, das sie auf ihrer<br />
Arbeitsstelle erworben hatten, im Heim die<br />
dortigen Unterordnungsriten ablehnten.<br />
Es gibt ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitliches Konzept von<br />
Arbeitserziehung. E<strong>in</strong>zelne Gedanken dazu<br />
entsprangen unterschiedlichen Traditionen<br />
und aktuellen politischen Zielen. Sie wurden<br />
trotz ihrer <strong>in</strong>neren Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit mitunter<br />
auch gleichzeitig vertreten. 417<br />
Kampehl. In: BLHA Rep. 401 RdB Pdm, Nr. 24490.<br />
416 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung: Dienst besprechung<br />
am 18. April 1963, TOP 6: Brief an alle Bezirks<br />
schulräte über die Situation und Vorkommnisse<br />
<strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen (mit Vorlage). In: BArch DR<br />
2/7766.<br />
417 Über die Arbeitserziehung bei Jugendlichen<br />
(undatiert, vermutlich 1956). In: BArch DR 2/5571, S. 176.<br />
Zu unterscheiden s<strong>in</strong>d die spezielle Arbeitserziehung<br />
<strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen<br />
und Durchgangsheimen, die an die Produktion<br />
gekoppelt war, und die allgeme<strong>in</strong>e<br />
Arbeit erziehung, die <strong>in</strong> allen Heimen<br />
betrieben wurde. 418<br />
4.3.1 Arbeitserziehung <strong>in</strong><br />
Jugendwerkhöfen und Durchgangsheimen<br />
In Übere<strong>in</strong>stimmung mit sozialistischen,<br />
aber auch bürgerlichen Traditionen des<br />
frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts waren e<strong>in</strong>ige frühe<br />
Jugendwerkhöfe (1945 bis ca. 1951) darauf<br />
ausgerichtet, Jugendlichen Freude an <strong>der</strong><br />
Arbeit und e<strong>in</strong>e berufliche Perspektive zu<br />
vermitteln, um ihnen den E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />
wirtschaftlich selbstbestimmtes Leben zu<br />
ermöglichen. Diese Jugendwerkhöfe wurden<br />
<strong>in</strong> den 1950er-Jahren umstrukturiert. Die<br />
frei werdenden Arbeitskräfte sollten für die<br />
sozialistische Produktion genutzt werden.<br />
Im November 1956 wurde diese Form <strong>der</strong><br />
Arbeitserziehung, die mit e<strong>in</strong>er vollwertigen<br />
Berufsausbildung verbunden war, <strong>in</strong> den<br />
Jugendwerkhöfen beendet. 419 Dies geschah<br />
offensichtlich nicht ohne Konflikte mit den<br />
Leitungen <strong>der</strong> Jugendwerkhöfe, die sich noch<br />
längere Zeit weigerten, die Lehrwerkstätten<br />
zu schließen. 420<br />
Im Dezember 1956 wurde e<strong>in</strong>e neue Verordnung<br />
erlassen, die unter an<strong>der</strong>em auch<br />
die Arbeitserziehung an den Jugendwerkhöfen<br />
regelte. 421 Mit dieser Verordnung trat<br />
die Verwendung jugendlicher Insassen von<br />
418 Über die Arbeitserziehung bei Jugendlichen<br />
(undatiert, vermutlich 1956). In: BArch DR 2/5571,<br />
S. 176.<br />
419 Verordnung zur Aufhebung <strong>der</strong> Verordnung<br />
über die Berufsausbildung und schulische För<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Jugendlichen <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen vom<br />
29. November 1956. In: GBl. <strong>DDR</strong> I, Nr. 109/1956, S.<br />
1328.<br />
420 Vorlage über die Verbesserung <strong>der</strong> Arbeit <strong>in</strong><br />
den Jugendwerkhöfen (undatiert von Ende 1959). In:<br />
BArch DR 2/5850.<br />
421 Anordnung vom 11. Dezember 1956 über die<br />
Durchführung <strong>der</strong> Aufgaben <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen.<br />
In: GBl. <strong>DDR</strong> I 1956, S. 1336 (Entwurf <strong>in</strong>: BArch DR<br />
2/5335).<br />
222 223