Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
auch „die richtige E<strong>in</strong>weisung des K<strong>in</strong>des<br />
<strong>in</strong>se<strong>in</strong>e gesellschaftliche Pflicht und Verantwortung“<br />
gehöre. 143 Von e<strong>in</strong>em Primat <strong>der</strong><br />
elterlichen Erziehung, <strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>er Achtung<br />
<strong>der</strong> Privatsphäre <strong>der</strong> Familie e<strong>in</strong>herg<strong>in</strong>ge,<br />
kann hier ke<strong>in</strong>e Rede se<strong>in</strong>. In dieses Konzept<br />
passt es, die Bed<strong>in</strong>gungen, unter denen <strong>der</strong><br />
Staat elterliche Erziehung überhaupt duldet,<br />
entsprechend hochzuhängen und unter<br />
an<strong>der</strong>em auch politische Konformität zu<br />
verlangen: 144<br />
„Mit dem Recht, durch unsere [<strong>der</strong> Organe<br />
<strong>der</strong> Jugendhilfe, FW] Entscheidung das Wohl<br />
des K<strong>in</strong>des zu sichern, stellen wir an die<br />
Person se<strong>in</strong>es Erziehers [geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d auch<br />
die Eltern, FW] hohe Ansprüche, so vor allem<br />
den <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die gesellschaftlichen<br />
For<strong>der</strong>ungen an den verantwortungsbewußten<br />
Staatsbürger, des Pflicht- und Verantwortungsbewußtse<strong>in</strong>s,<br />
<strong>der</strong> Fähigkeit zur<br />
Er zie hung – Autorität, Selbstdiszipl<strong>in</strong> – und<br />
for<strong>der</strong>n neben Ausgeglichenheit und Fröhlichkeit<br />
auch Sauberkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> persönlichen<br />
Lebensführung.“<br />
Dem entspricht es, wenn das Handbuch des<br />
M<strong>in</strong>isteriums für Volksbildung das „Anhalten<br />
des K<strong>in</strong>des zu gesellschafts widrigem Verhalten“<br />
als Missbrauch des Sorgerechts<br />
deutet und „staatsfe<strong>in</strong>dliche Betätigung“ als<br />
e<strong>in</strong>e Spiel art des ehrlosen o<strong>der</strong> unsittlichen<br />
Verhaltens unmittelbar neben „Trunk- o<strong>der</strong><br />
Spielsucht“ sowie „Dirnen- und Zuhältertum“<br />
e<strong>in</strong>ordnet. 145 Zu welchen Extremen die Möglichkeit<br />
e<strong>in</strong>er politischen Interpretation <strong>der</strong><br />
K<strong>in</strong>des wohlgefährdung führen konnte, zeigt<br />
e<strong>in</strong> Urteil des OG aus dem Jahr 1958, <strong>in</strong> dem<br />
die Entscheidung, sogenannten „Republik -<br />
flüchtigen“ ke<strong>in</strong> Sorgerecht zuzu sprechen,<br />
damit begründet wurde, die Eltern hätten<br />
ihre Pflicht verletzt, ihr K<strong>in</strong>d zu e<strong>in</strong>em verantwortungsbewussten<br />
Bürger „unseres St aates“<br />
146 zu erziehen, und die <strong>DDR</strong> damit ver raten.<br />
143 Schubert 1955, 6.<br />
144 Schubert 1955, 6.<br />
145 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung 1953, 21 f.<br />
146 OG <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, 25.8.1958 – 1 Zz F 35/58, NJ<br />
1958, 684 f. Brümmer (1980, 83) berichtet für die Zeit<br />
Das Wohl des K<strong>in</strong>des wird <strong>in</strong> diesen Ausführungen<br />
von e<strong>in</strong>er staatstreuen Haltung und<br />
„ordentlichen“ Familienverhältnissen abhängig<br />
gemacht. Die <strong>in</strong>dividuelle Bef<strong>in</strong>dlichkeit<br />
des K<strong>in</strong>des, se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuellen Belange<br />
und vor allem se<strong>in</strong>e tatsächlichen sozialen<br />
B<strong>in</strong>dungen spielen bei <strong>der</strong> Betrachtung ke<strong>in</strong>e<br />
Rolle. Deutlich wird hier aber auch, wie stark<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Rechtswissenschaft Privates und<br />
Politisches vermischt wurde: Das staatliche<br />
Interesse an <strong>der</strong> politischen Verfolgung<br />
staatsfe<strong>in</strong>dlicher Aktivitäten vermengt sich<br />
mit e<strong>in</strong>er quasi-pädagogischen Maßnahme,<br />
die verme<strong>in</strong>tlich im Interesse des K<strong>in</strong>des<br />
angeordnet wird.<br />
(4) Rechtsfolgen<br />
Nach § 1666 BGB hatte das entscheidende<br />
Organ zwei Möglichkeiten, wenn es das K<strong>in</strong>d<br />
aus <strong>der</strong> Familie nehmen wollte: Es konnte<br />
den Eltern das Sorgerecht ganz o<strong>der</strong> teilweise<br />
entziehen und auf e<strong>in</strong>en Pfleger übertragen,<br />
<strong>der</strong> auch e<strong>in</strong>e Behörde wie das Jugendamt<br />
se<strong>in</strong> konnte. Der Pfleger konnte dann die<br />
Heim erziehung <strong>in</strong> die Wege leiten. Das<br />
Vormundschaftsgericht konnte die <strong>Heimerziehung</strong><br />
aber auch unmittelbar anordnen.<br />
Die Anordnung war dann die unmittelbare<br />
Rechtsgrundlage für die Heime<strong>in</strong>weisung<br />
durch das Jugendamt. In <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
sche<strong>in</strong>t jedenfalls nach 1952 <strong>der</strong> erste Weg<br />
<strong>der</strong> Regelfall gewesen zu se<strong>in</strong>. 147 Die Heime<strong>in</strong>weisung<br />
war dann erst <strong>der</strong> nächste Schritt:<br />
Wenn die Abteilung Jugendhilfe/<strong>Heimerziehung</strong><br />
des Kreises selbst als Pfleger bestellt<br />
wurde, so konnte sie nach dem Beschluss<br />
über den Sorgerechtsentzug unmittelbar<br />
die Heime<strong>in</strong>weisung verfügen. Wurde e<strong>in</strong>e<br />
an<strong>der</strong>e Person o<strong>der</strong> Institution als Pfleger<br />
e<strong>in</strong>gesetzt, so schloss die Abteilung Jugendhilfe/<strong>Heimerziehung</strong><br />
mit diesem e<strong>in</strong>en<br />
zwischen 1960 und 1975 von acht Fällen, <strong>in</strong> denen<br />
„republikflüchtigen“ Eltern das Sorgerecht entzogen<br />
wurde. Im selben Zeitraum waren nach ihren Angaben<br />
1.393 K<strong>in</strong><strong>der</strong> im Rahmen <strong>der</strong> Familienzusammenführung<br />
nach Westdeutschland ausgereist. Zu Zwangsadoptionen<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> siehe Warnecke 2010.<br />
147 Vgl. M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung 1953, 58<br />
f.; Jugendhilfe 1955, 11 f.<br />
freiwilligen Erziehungsvertrag. 148<br />
(5) Rechtsmittel<br />
Bis 1952 konnten die Eltern gegen die<br />
Entscheidung des Vormundschaftsgerichts<br />
Beschwerde nach den Vorschriften des<br />
FGG erheben. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> selbst konnten<br />
Rechtsmittel e<strong>in</strong>legen, wenn sie verfahrensfähig<br />
waren, d. h. nach Vollendung des 14.<br />
Lebensjahres.<br />
Im Jahr 1952 wurde dem Vormundschaftsgericht<br />
auch die Kontrolle über Entscheidungen<br />
<strong>der</strong> Jugendhilfeorgane entzogen.<br />
Beschwerde konnte seither <strong>in</strong>nerhalb von 14<br />
Tagen beim Rat des Kreises erhoben werden<br />
(§§ 14 Abs. 2 <strong>der</strong> Verordnung über die Angelegenheiten<br />
<strong>der</strong> freiwilligen Gerichtsbarkeit<br />
und § 6 Abs. 1 <strong>der</strong> DfB). Die Beschwerde<br />
hatte ke<strong>in</strong>e aufschiebende Wirkung (§ 6<br />
Abs. 3 DfB). E<strong>in</strong>e weitere Beschwerde war <strong>in</strong><br />
Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung<br />
beim M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung<br />
möglich (§ 14 Abs. 3 <strong>der</strong> Verordnung und § 7<br />
<strong>der</strong> DfB). Es gab folglich ke<strong>in</strong> gerichtliches<br />
Rechtsmittel mehr gegen die Anordnung <strong>der</strong><br />
<strong>Heimerziehung</strong>. Dies sollte bis <strong>in</strong>s Jahr 1989<br />
so bleiben. Erst kurz vor dem Fall <strong>der</strong> Mauer<br />
wurde e<strong>in</strong> gerichtlicher Rechtsbehelf gegen<br />
Entscheidungen <strong>der</strong> Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>geführt (siehe dazu Kap. 5.1.1.2.6).<br />
Der völlige Verlust e<strong>in</strong>es gerichtlichen<br />
Rechtsmittels gegen e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>art e<strong>in</strong>schneidende<br />
Maßnahme wie die <strong>Heimerziehung</strong><br />
muss im H<strong>in</strong>blick auf die Rechte <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
wie auch <strong>der</strong> Eltern als rechtsstaatlich<br />
bedenklich bewertet werden, weil die Entscheidung<br />
und ihre Überprüfung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Kompetenz <strong>der</strong> Exekutive verblieben. E<strong>in</strong>e<br />
unabhängige Bewertung durch e<strong>in</strong>e externe<br />
148 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung 1953, 59.<br />
H<strong>in</strong>gewiesen sei darauf, dass es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
<strong>in</strong> den 1950er- und 1960er-Jahren als unzulässige<br />
Umgehung <strong>der</strong> Fürsorgeerziehung gewertet wurde,<br />
wenn man den Eltern zuerst das Sorgerecht entzog<br />
und dann <strong>der</strong> Pfleger „freiwillige Erziehungshilfe“<br />
beantragte, vgl. Wapler 2010, 89 m. N. dort <strong>in</strong> Fn. 63.<br />
Gleichwohl sche<strong>in</strong>t dieses Vorgehen auch <strong>in</strong> Westdeutschland<br />
stattgefunden zu haben, vgl. Kraul u. a.<br />
2010, 14<br />
Instanz fand folglich nicht statt. 149 Bei dieser<br />
Bewertung ist allerd<strong>in</strong>gs zu bedenken, dass<br />
auch die Justiz <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> nicht unabhängig<br />
war (s. o. Kap. 2), sodass die Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> und ihre Familien mit e<strong>in</strong>em gerichtlichen<br />
Rechtsmittel wohl e<strong>in</strong>e weitere und<br />
externe Instanz, nicht aber e<strong>in</strong>e unabhängige<br />
Bewertung <strong>der</strong> Verwaltungsentscheidungen<br />
gewonnen hätten.<br />
5.1.1.1.2 Fürsorgeerziehung bzw.<br />
Öffentliche Jugendhilfe (§§ 63, 67 RJWG<br />
und Landesrecht)<br />
Neben dem Sorgerechtsentzug nach § 1666<br />
BGB, <strong>der</strong> jedenfalls dem Gesetzeswortlaut<br />
nach e<strong>in</strong> Verschulden <strong>der</strong> Eltern erfor<strong>der</strong>te,<br />
konnte die <strong>Heimerziehung</strong> auch auf <strong>der</strong><br />
Grundlage <strong>der</strong> §§ 63, 67 RJWG (Fürsorgeerziehung)<br />
angeordnet werden. Hier kam es<br />
auf e<strong>in</strong> Verschulden <strong>der</strong> Eltern nicht an. 150<br />
Die Vorschriften des RJWG wurden schon<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Weimarer Republik durch Landesrecht<br />
ergänzt, das nach 1945 auch <strong>in</strong> den<br />
ostdeutschen Län<strong>der</strong>n z. T. noch angewendet<br />
wurde. 151 Die Prov<strong>in</strong>z Mark Brandenburg<br />
ersetzte die Fürsorgeerziehung durch die<br />
„Öffentliche Erziehung“ und regelte diese<br />
per Verordnung. 152 Wie die Rechtslage <strong>in</strong><br />
149 So auch Sachse 2010, 133; Jörns 1994, 31.<br />
150 § 63 RJWG i. d. F. v. 1922: „E<strong>in</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>jähriger,<br />
<strong>der</strong> das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat,<br />
ist durch Beschluß des Vormundschaftsgerichts <strong>der</strong><br />
Fürsorgeerziehung zu überweisen, 1. wenn die Voraussetzungen<br />
des § 1666 o<strong>der</strong> des § 1838 des Bürgerlichen<br />
Gesetzbuchs vorliegen und zur Verhütung <strong>der</strong><br />
Verwahrlosung des M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen die an<strong>der</strong>weite Unterbr<strong>in</strong>gung<br />
erfor<strong>der</strong>lich ist, e<strong>in</strong>e nach dem Ermessen<br />
des Vormundschaftsgerichts geeignete Unterbr<strong>in</strong>gung<br />
aber ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel nicht<br />
erfolgen kann. Zur Verhütung lediglich körperlicher<br />
Verwahrlosung ist die Überweisung nicht zulässig,<br />
2. wenn die Fürsorgeerziehung zur Beseitigung <strong>der</strong><br />
Verwahrlosung wegen Unzulänglichkeit <strong>der</strong> Erziehung<br />
erfor<strong>der</strong>lich ist.“<br />
151 Zimmermann 2004, 258; Sachse 2010, 27.<br />
152 Vgl. Verordnung <strong>der</strong> Prov<strong>in</strong>zialverwaltung<br />
<strong>der</strong> Mark Brandenburg vom 29.7.1946 über öffentliche<br />
Jugendhilfe, BArch DR 2/375. Dort § 1: „Die<br />
öffentliche Jugendhilfe hat die Aufgabe, körperlich,<br />
seelisch und sozial gefährdeten, geschädigten o<strong>der</strong><br />
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