Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
4.6.4 E<strong>in</strong>e IM-Karriere<br />
Dass Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> unter Ausnutzung ihrer<br />
Situation im Heim angeworben wurden, ist<br />
nicht ersichtlich. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
nach <strong>der</strong> Entlassung angeworben worden. E<strong>in</strong><br />
Beispiel. E<strong>in</strong> IM, <strong>der</strong> sich vermutlich selbst<br />
den Decknamen „Erzieher“ gab, wird nach<br />
<strong>der</strong> Heimentlassung und vor Dienstantritt<br />
bei <strong>der</strong> NVA geworben. Der Auftrag lautete<br />
zunächst Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung von Fahnenflucht<br />
und Grenzsicherung bei den Streitkräften.<br />
Im Anschluss an den Wehrdienst wird die<br />
weitere Zusammenarbeit geplant. Seit Januar<br />
1983 ist <strong>der</strong> IM Leiter e<strong>in</strong>es Leipziger K<strong>in</strong><strong>der</strong>heimes<br />
und also e<strong>in</strong>setzbar zur Aufklärung<br />
<strong>der</strong> Frage „wer ist wer“. Er schreibt über Jugendliche<br />
und Kollegen bereitwillig Berichte,<br />
erzählt, durch welche Maßnahmen e<strong>in</strong>ige<br />
männliche Jugendliche zum Ehrendienst <strong>der</strong><br />
Nationalen Volksarmee gewonnen werden<br />
konnten und Ähnliches. Er wird geschult,<br />
z. B. zu „Fragen des staatsfe<strong>in</strong>dlichen Menschenhandels<br />
und des ungesetzlichen Verlassens<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> – speziell <strong>in</strong> jugendlichen<br />
Personenkreisen“ o<strong>der</strong> zu „Aktivitäten <strong>der</strong><br />
Kirchen im Zusammenhang mit Jugendproblemen“.<br />
Er soll <strong>in</strong> Erfahrung br<strong>in</strong>gen, wer<br />
die Person (Name geschwärzt) ist. Sie soll<br />
kirchlich gebunden se<strong>in</strong> und ist als Leiter<strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>komb<strong>in</strong>ation Bad Lausick vorgesehen.<br />
Am 30.07.1985 schrieb die Staatssicherheit<br />
e<strong>in</strong>en Bericht über e<strong>in</strong>en Jugendlichen,<br />
<strong>der</strong> bereits drei Jahre im Heim lebt. „In den<br />
letzten Wochen äußerte (Name geschwärzt)<br />
2x, dass er sowie (sic) mit dem 18. Lebensjahr<br />
e<strong>in</strong>en Ausreiseantrag stellen will. (Name geschwärzt)<br />
war <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er politischen Haltung<br />
immer schon sehr labil und ließ sich von den<br />
Idolen <strong>der</strong> westlichen Medien begeistern“.<br />
Über das Schicksal dieses K<strong>in</strong>des ist nichts<br />
bekannt.<br />
1987 trat <strong>der</strong> IM „Erzieher“ wegen <strong>der</strong> angespannten<br />
„Ka<strong>der</strong>situation“ von <strong>der</strong> Leitung<br />
des Heimes zurück. 512<br />
4.6.5 Konflikte zwischen Erziehern und<br />
Leitung<br />
Ohne dass die Quelle benannt wird („Vor<br />
e<strong>in</strong>igen Wochen wurde <strong>in</strong> unserer Dienste<strong>in</strong>heit<br />
bekannt [ …]“), wird am 07.06.1982<br />
registriert, dass dem Heimleiter des K<strong>in</strong><strong>der</strong>heims<br />
„Olga Benario-Brestes“ unzulängliche<br />
politische Führung vorgeworfen wird („Die<br />
Arbeit ist wichtiger als die gesellschaftlichen<br />
D<strong>in</strong>ge“). Er erwarte e<strong>in</strong> „hohes, vielfach<br />
unrealistisches Maß an fachlichen Voraussetzungen<br />
von se<strong>in</strong>en Mitarbeitern“, sodass<br />
e<strong>in</strong>ige das Heim verlassen wollen. Außerdem<br />
stellen die im Kollektiv tätigen Mitarbeiter<br />
<strong>der</strong> Blockparteien die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> SED<br />
„<strong>in</strong>direkt vor den parteilosen Kollegen <strong>in</strong> den<br />
Schatten“. 513<br />
Am 25.04.1985 wird dem M<strong>in</strong>isterium für<br />
Staatssicherheit berichtet, dass im K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim<br />
„Maxim Gorki“ (Weißwasser) viele<br />
Entweichungen vorkommen. Der Heimleiter<br />
möchte niemandem Rechenschaft ablegen,<br />
auch <strong>der</strong> Parteileitung gegenüber nicht;<br />
er tr<strong>in</strong>ke während <strong>der</strong> Arbeitszeit. Als e<strong>in</strong><br />
an<strong>der</strong>er Erzieher die Vertretung übernimmt,<br />
verbietet die Vertretung als Erstes das Schlagen<br />
<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Sie selbst schlug e<strong>in</strong> Mädchen<br />
jedoch so stark, dass es ambulant behandelt<br />
werden musste. „Auch an<strong>der</strong>e Lehrer und <strong>der</strong><br />
Parteisekretär (Name geschwärzt) würden<br />
prügeln.“ Parteilose Kollegen bezeichnen die<br />
Parteileitung als „Quatschbude“. 514<br />
4.6.6 Beispiele von Berichten, die<br />
zum M<strong>in</strong>isterium für Staatssicherheit<br />
gelangten<br />
Das M<strong>in</strong>isterium für Staatssicherheit registrierte<br />
nicht alle<strong>in</strong> Informationen von<br />
eigenen Mitarbeitern o<strong>der</strong> IM, son<strong>der</strong>n ließ<br />
sich über Vorkommnisse <strong>in</strong> Heimen von<br />
zuständigen Volkspolizeiorganen berichten<br />
o<strong>der</strong> ließ Berichte abfassen, ohne dass die<br />
Quelle benannt ist. Dabei ist nicht geklärt,<br />
ob diese Berichte rout<strong>in</strong>emäßig abverlangt<br />
o<strong>der</strong> erstellt wurden, o<strong>der</strong> ob es beson<strong>der</strong>er<br />
Vorkommnisse bedurfte. Die Berichte<br />
s<strong>in</strong>d deutlich und kritisch. Manche Berichte<br />
enthalten Erfolge und Missstände. In e<strong>in</strong>em<br />
frühen Bericht (1964) wurden die Senkung<br />
<strong>der</strong> Jugendkrim<strong>in</strong>alität, <strong>der</strong> Kampf gegen<br />
Republikflucht, die Gew<strong>in</strong>nung <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
für die FDJ, <strong>der</strong> Rückgang <strong>der</strong> Entweichungen<br />
und Anstieg <strong>der</strong> Rückführung<br />
<strong>der</strong> Entwichenen als Erfolg verbucht. Als<br />
Missstand wurde die hohe Krim<strong>in</strong>alität im<br />
Umkreis <strong>der</strong> Jugendwerkhöfe, Verstöße <strong>der</strong><br />
Erzieher gegen die sozialistische Moral, die<br />
Tatsache, dass von 29 Erziehern 5 <strong>der</strong> ehem.<br />
NSDAP angehörten, die Veruntreuung von<br />
Gel<strong>der</strong>n, „illegale Kassen“, Fehle<strong>in</strong>weisungen<br />
und ke<strong>in</strong>e ausreichenden Qualifikationsmöglichkeiten<br />
(„nur für e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>gen Prozentsatz“)<br />
festgehalten. 515<br />
Der Bericht ist sachlich gehalten, sozialpädagogische<br />
Aspekte s<strong>in</strong>d nicht sichtbar. Der<br />
Abfassungszweck (<strong>der</strong> Verteiler enthält acht<br />
Adressen des M<strong>in</strong>isteriums für Staatssicherheit<br />
und davon s<strong>in</strong>d sieben mit dem Vermerk<br />
„Vernichten“ versehen, <strong>der</strong> letzte lautet<br />
„Ablage“) ist nicht deutlich.<br />
E<strong>in</strong> weiterer Bericht konstatiert e<strong>in</strong>e<br />
„Stabilisierung <strong>der</strong> Lage“ <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen,<br />
die sich <strong>der</strong> Qualifizierung <strong>der</strong> Rechtspfleger<br />
und <strong>der</strong> „vorbeugenden Wirksamkeit<br />
<strong>der</strong> Arbeit“ verdankt. Es bestehen dennoch<br />
e<strong>in</strong>e Reihe von Problemen <strong>in</strong> den Heimen:<br />
• Verherrlichung westlicher<br />
Auffassungen,<br />
• Tätowierungen faschistischer Symbole,<br />
• Entweichungen und geplante ungesetzliche<br />
Grenzübertritte.<br />
„So berichtet die Bezirksverwaltung Schwer<strong>in</strong>,<br />
dass am 17.05.1981 aus dem Durchgangsheim<br />
Schwer<strong>in</strong> alle 16 Insassen (12–17 Jahre) unter<br />
Androhung von Gewalt gegenüber den Erziehern<br />
sowie Sachbeschädigungen (...) entwichen, weil<br />
sie sich ‚ungerecht behandelt‘ fühlten“. (...) „Zu<br />
e<strong>in</strong>er Steigerung um das Dreifache bei Entweichungen<br />
kam es 1981 im Jugendwerkhof Rühn<br />
(...). (162 Entweichungen von 91 Zögl<strong>in</strong>gen)“.<br />
Der Bericht beg<strong>in</strong>nt allerd<strong>in</strong>gs mit folgen<strong>der</strong><br />
Gesamtbewertung: „Aus den E<strong>in</strong>schätzungen <strong>der</strong><br />
Bezirksverwaltungen ergeben sich ke<strong>in</strong>e operativ<br />
bedeutsamen Probleme und Entwicklungstendenzen<br />
im Bereich Jugendhilfe – <strong>Heimerziehung</strong><br />
und <strong>in</strong> Jugendwerkhöfen“. 516<br />
Über denselben Werkhof ließ das M<strong>in</strong>isterium<br />
für Staatssicherheit 1989 e<strong>in</strong>en Bericht<br />
anfertigen, <strong>der</strong> Vorfälle auflistet, die „den<br />
Umerziehungsprozess negativ bee<strong>in</strong>flussen“.<br />
Aus diesem Bericht folgende Zitate:<br />
„So werden Jugendliche oft regelrecht gezüchtigt<br />
(...)“.<br />
„Mit dem Wissen <strong>der</strong> Erzieher werden Zögl<strong>in</strong>ge<br />
unter sich mit teilweise unmenschlichen Methoden<br />
zum unbed<strong>in</strong>gten Gehorsam gezwungen. Die<br />
handelnden Zögl<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d meist die Redelsführer<br />
(sic) <strong>der</strong> Gruppe und besitzen e<strong>in</strong> gewisses<br />
Vorrecht unter den Zögl<strong>in</strong>gen. Diese Selbsterziehung<br />
geht teilweise soweit, dass schwächere<br />
Jugendliche dem Redelsführer (sic) ‚Frondienste‘<br />
leisten müssen (bis h<strong>in</strong> zur Abgabe von Textilien<br />
u. v. m.).“<br />
„Durch diese Erziehungsmethoden (sic) kommt<br />
es unter den Zögl<strong>in</strong>gen zu Gehorsam aus Angst<br />
vor Gewalt bis h<strong>in</strong> zu psychischen Störungen.“ 517<br />
Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimes Rausdorf vom 7.7.1982, BStU<br />
MfS KD Stadtroda, Nr. 0994.<br />
512 BStU MfS BVfS Leipzig KDfS Leipzig Stadt,<br />
Nr. 02432.<br />
513 BStU MfS BV Berl<strong>in</strong> AKG, Nr. 3087.<br />
514 Probleme <strong>der</strong> Leitungstätigkeit und<br />
Parteiarbeit im K<strong>in</strong><strong>der</strong>heim „Maxim Gorki“,<br />
Weißwasser. In: BStU MfS BVfS Cottbus AKG,<br />
Nr. 7597.<br />
515 „Bericht über die Situation an den Jugendwerkhöfen<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> vom 05.09.1964“. In: BStU MfS<br />
ZAIG, Nr. 844.<br />
516 Analyse zur politisch-operativen Lage unter<br />
jugendlichen Personenkreisen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, 14.06.1982.<br />
In: BStU MfS HA XX, Nr. 2416.<br />
517 M<strong>in</strong>isterium für Staatssicherheit. KD Bützow,<br />
240 241