Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
gesprochen, ohne dass die Betroffenen selbst<br />
wirksame Informations- und Beteiligungsrechte<br />
hatten.<br />
Die Entscheidung über die <strong>Heimerziehung</strong><br />
trafen die Jugendhilfeausschüsse durch Beschluss<br />
(§ 37 Abs. 1 Satz 1 JHVO 1966); dieser<br />
musste begründet werden (§ 39 Abs. 1 JHVO<br />
1966). Der Beschluss musste den Erziehungsberechtigten<br />
und dem M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen mündlich<br />
o<strong>der</strong> schriftlich zugestellt werden; die<br />
Gründe allerd<strong>in</strong>gs wurden dem M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen<br />
nur mitgeteilt, wenn dies erzieherisch<br />
vertretbar erschien (§ 43 JHVO 1966).<br />
5.1.1.2.4 Voraussetzungen<br />
<strong>Heimerziehung</strong> konnte nach § 50 Abs. 1 FGB<br />
i. V. m. § 23 JHVO unter zwei Voraussetzungen<br />
angeordnet werden: Die Erziehung<br />
o<strong>der</strong> Gesundheit des M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen musste<br />
gefährdet se<strong>in</strong> (1), und es musste unmöglich<br />
se<strong>in</strong>, dass die Eltern diese Gefährdung – evtl.<br />
mit <strong>der</strong> notwendigen gesellschaftlichen<br />
Unterstützung – selbst abwendeten (2).<br />
E<strong>in</strong> Verschulden war nach § 50 nicht mehr<br />
erfor<strong>der</strong>lich. Lediglich für den Entzug des<br />
Erziehungsrechts nach § 51 FGB wurde e<strong>in</strong>e<br />
schuldhafte Pflichtverletzung <strong>der</strong> Eltern<br />
vorausgesetzt. Die Bedeutung dieses Merkmals<br />
trat bei Erziehungsrechtsentzügen<br />
sogar wie<strong>der</strong> stärker <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund: In<br />
dem Maße, <strong>in</strong> dem <strong>der</strong> sozialistische Staat<br />
die objektiven Gründe für e<strong>in</strong>e Verletzung<br />
von Erziehungspflichten beseitigt habe, so<br />
e<strong>in</strong>e Publikation aus dem Jahr 1974, nehme<br />
die Bedeutung des subjektiven, schuldhaften<br />
Elternversagens zu. 185<br />
185 Dietrich 1974, 83.<br />
(1) Erziehungsgefährdung<br />
Der Begriff <strong>der</strong> „Erziehungsgefährdung“ löste<br />
etwa ab <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> 1950er-Jahre nach und<br />
nach die traditionellen Rechtsbegriffe <strong>der</strong><br />
K<strong>in</strong>deswohlgefährdung und Verwahrlosung<br />
ab. In <strong>der</strong> juristischen Fachliteratur wird <strong>der</strong><br />
Begriff vor allem im Zusammenhang mit<br />
dem vollständigen Entzug des Sorgerechts<br />
nach § 51 FGB def<strong>in</strong>iert und konkretisiert,<br />
was damit zusammenhängt, dass nur für<br />
diese Maßnahme e<strong>in</strong>e gerichtliche Entscheidung<br />
notwendig war. Nur an diesen Entscheidungen<br />
waren folglich auch regelmäßig Juristen<br />
beteiligt, während über die Anordnung<br />
<strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> hauptsächlich ehrenamtliche<br />
und pädagogisch ausgebildete Kräfte<br />
<strong>in</strong> den Jugendhilfeausschüssen entschieden.<br />
Die juristischen Überlegungen zum Begriff<br />
<strong>der</strong> Erziehungsgefährdung können aber auf<br />
den Bereich <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> übertragen<br />
werden, weil es sich bei den Maßnahmen<br />
nach §§ 50 und 51 FGB nur um unterschiedliche<br />
Rechtsfolgen bei e<strong>in</strong>er festgestellten Erziehungsgefährdung<br />
handelte, nicht aber um<br />
unterschiedliche Arten o<strong>der</strong> Schweregrade<br />
e<strong>in</strong>er solchen Gefährdung. 186<br />
Im Jahr 1968 erließ das OG <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Richtl<strong>in</strong>ie, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es den Begriff <strong>der</strong> Erziehungsgefährdung<br />
näher def<strong>in</strong>iert. Sie sollte<br />
dann vorliegen, „wenn die Erziehungsberechtigten<br />
den M<strong>in</strong>destanfor<strong>der</strong>ungen für<br />
e<strong>in</strong>e ausreichende körperliche, geistige und<br />
moralische Entwicklung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> nicht gerecht<br />
werden und hierdurch die Vorzüge <strong>der</strong><br />
Familienerziehung nicht mehr bestehen.“ 187<br />
186 Nach e<strong>in</strong>er Untersuchung <strong>der</strong> gerichtlichen<br />
Praxis des Erziehungsrechtsentzugs <strong>in</strong> den Jahren<br />
1970 bis 1972 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> betraf mehr als die Hälfte aller<br />
Fälle (192 von 266) K<strong>in</strong><strong>der</strong>, die bereits <strong>in</strong> Heimen <strong>der</strong><br />
Jugendhilfe o<strong>der</strong> des Gesundheitswesens lebten, vgl.<br />
Dietrich 1974, 84.<br />
187 Richtl<strong>in</strong>ie Nr. 25 des Plenums des Obersten<br />
Gerichts zu Erziehungsentscheidungen v. 25.9.1968 –<br />
GBl. II, 847 = NJ 1968, 651.<br />
Diese Formulierung wurde von den unteren<br />
Gerichten <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> übernommen. 188<br />
E<strong>in</strong> konkret drohen<strong>der</strong> o<strong>der</strong> bereits e<strong>in</strong>getretener<br />
Schaden für das K<strong>in</strong>d musste für e<strong>in</strong>e<br />
Erziehungsgefährdung nicht nachgewiesen<br />
werden. 189<br />
Die „sozialistische Moral“ verlangte von<br />
Eltern zuerst und vor allem, sich als gute<br />
Werktätige zu verhalten und ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu<br />
solchen zu erziehen. Dass zur Beurteilung<br />
<strong>der</strong> Erziehungsfähigkeit auch e<strong>in</strong>e Stellungnahme<br />
am Arbeitsplatz, im „Arbeitskollektiv“<br />
e<strong>in</strong>geholt wurde, war selbstverständlich. 190<br />
So wurde es als Gefährdung <strong>der</strong> Erziehung<br />
angesehen, wenn Eltern nicht regelmäßig<br />
arbeiteten („Arbeitsbummelei“). 191 E<strong>in</strong>e<br />
unzureichende materielle Versorgung <strong>der</strong><br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> konnte u. a. daran festgemacht<br />
werden, dass Eltern ihre Miet-, Strom- o<strong>der</strong><br />
Gasrechnung nicht regelmäßig beglichen. 192<br />
Allgeme<strong>in</strong> wurde die Lebenshaltung <strong>der</strong><br />
Eltern vor allem moralisch bewertet. Nach<br />
e<strong>in</strong>er rechtsverb<strong>in</strong>dlichen Anweisung für den<br />
Umgang mit gefährdeten Säugl<strong>in</strong>gen und<br />
Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong><strong>der</strong>n wird als Erziehungsgefährdung<br />
beispielsweise bezeichnet, dass „die Lebensweise<br />
<strong>der</strong> Eltern den gesellschaftlichen Moralauffassungen<br />
wi<strong>der</strong>spricht (Alkoholiker,<br />
Arbeitsbummelanten, an<strong>der</strong>e Ersche<strong>in</strong>ungen<br />
moralwidriger Lebensweise“. 193<br />
Bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n galt als Indiz für e<strong>in</strong>e Erziehungsgefährdung<br />
neben <strong>der</strong> „Schulbummelei“<br />
und <strong>der</strong> „Arbeitsbummelei“ u. a. auch <strong>der</strong><br />
188 Stadtgericht von Groß-Berl<strong>in</strong>, 24.2.1975 –<br />
109 BFB 6/75, NJ 1975, 725 o<strong>der</strong> 613 zu §§ 1, 43 FGB.<br />
Ebenso Beyer & Verfasserkollektiv 1970, Ziff. 2.1.1,<br />
S. 237.<br />
189 Redlich 1968, 140.<br />
190 Beyer & Verfasserkollektiv 1970, § 25, Ziff.<br />
2.5, S. 133; OG, 4.5.1976 – 10 FK 6/76, NJ 1976, 529;<br />
dazu auch Zimmermann 2004, 43 m. N.<br />
191 Siehe OG, 15.7.1975 – 1 Zz F 16/75, NJ 1975,<br />
725 f.: Erziehung und Betreuung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> entsprechend<br />
<strong>der</strong> sozialistischen Auffassung gehören zum<br />
Kernbestand <strong>der</strong> elterlichen Pflichten; Arbeitsunwilligkeit<br />
gilt als Verletzung dieser Pflichten.<br />
192 Grandke & Autorenkollektiv 1981, 179;<br />
Weiss 1968, 301.<br />
193 Geme<strong>in</strong>same Anweisung v. 3.4.1969 (Fn. 93),<br />
Ziff. 1.3.<br />
Umstand, dass sie sich „dem erzieherischen<br />
E<strong>in</strong>fluß <strong>der</strong> Kollektive zu entziehen beg<strong>in</strong>nen“<br />
o<strong>der</strong> „die gesellschaftliche Diszipl<strong>in</strong> verletzen“. 194<br />
Dabei nahmen <strong>der</strong> politische E<strong>in</strong>fluss und die<br />
politische Bewertung <strong>der</strong> Erziehungsleistung<br />
<strong>der</strong> Eltern mit dem Alter <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu. 195<br />
Wie sehr die Bewertung des Erziehungsumfeldes<br />
des K<strong>in</strong>des von kollektivistischen Annahmen<br />
abh<strong>in</strong>g, zeigen auch die sorgerechtlichen<br />
Entscheidungen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Gerichte.<br />
Grundsätzlich galt es als das Beste für das<br />
K<strong>in</strong>d, wenn es bei se<strong>in</strong>en leiblichen Eltern<br />
aufwachsen konnte 196 und wenn ihm nach<br />
<strong>der</strong> Scheidung <strong>der</strong> Eltern das gewohnte Lebensumfeld<br />
möglichst erhalten blieb 197 . Doch<br />
wurde dieses Umfeld danach bewertet, ob es<br />
<strong>der</strong> Heranbildung des K<strong>in</strong>des zu e<strong>in</strong>er „sozialistischen<br />
Persönlichkeit“ för<strong>der</strong>lich schien.<br />
Für Sorgerechtsentscheidungen galt folgerichtig<br />
<strong>der</strong> Grundsatz, dass das Erziehungsrecht<br />
dem Elternteil zu übertragen sei, <strong>der</strong><br />
die beste Gewähr für die Verwirklichung des<br />
sozialistischen Erziehungsziels bot. Dieser<br />
Bezug auf die sozialistische Moral knüpfte<br />
nicht an die Interessen des K<strong>in</strong>des an, son<strong>der</strong>n<br />
an das Verhalten <strong>der</strong> Eltern, das wie<strong>der</strong>um<br />
im H<strong>in</strong>blick auf se<strong>in</strong>e Tauglichkeit für<br />
das gesellschaftliche Ziel <strong>der</strong> Verwirklichung<br />
des Sozialismus h<strong>in</strong> abgeprüft wurde. 198<br />
194 Beide Formulierungen zitiert nach<br />
Grandke & Autorenkollektiv 1981, 180. Siehe auch<br />
Grandke u. a. 1979, 348.<br />
195 Grandke & Autorenkollektiv 1981, 188: „Bei<br />
Schulk<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen treten neben <strong>der</strong><br />
Versorgung und Betreuung vor allem die staatsbürgerliche<br />
Erziehung und die Entwicklung <strong>der</strong> geistigen<br />
Fähigkeiten und sozialen Verhaltensweisen <strong>in</strong> den<br />
Vor<strong>der</strong>grund. Deshalb gew<strong>in</strong>nen für die Gefährdung<br />
<strong>der</strong> Persönlichkeitsentwicklung solche [189] Pflichtverletzungen<br />
[<strong>der</strong> Eltern, FW] an Bedeutung, die z.<br />
B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> staatsfe<strong>in</strong>dlichen Bee<strong>in</strong>flussung […] o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Gewöhnung an asoziale Lebensformen bestehen.“<br />
Siehe auch Beyer & Verfasserkollektiv 1970, § 25, Ziff.<br />
2.4, S. 132.<br />
196 Beyer & Verfasserkollektiv 1970, § 70, Ziff.<br />
2.1, S. 306 f.<br />
197 Mielich 1989, 20 (zu § 34 FGB – Zuweisung<br />
<strong>der</strong> Ehewohnung); ebenso OG, 20.11.1979 – 30 FK<br />
41/79, NJ 1980, 235 zu § 34 FGB.<br />
198 Siehe z. B. Mühlmann & R<strong>in</strong><strong>der</strong>t 1976,<br />
326: „Die Kard<strong>in</strong>alfrage lautet: Welcher Elternteil<br />
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