Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
die dem Erziehungsziel entsprechen. Diese<br />
„Sorge für“ realisiert sich durch den Kollektivgeist,<br />
also durch die Gruppensanktionierung<br />
von Verhalten.<br />
1.2.6.4.5 Die Ver<strong>in</strong>nerlichung von<br />
Verhaltensweisen<br />
Es ist hier ausführlich zitiert worden, weil<br />
das Vokabular deutlich ist. Der Zusammenhang<br />
mit <strong>der</strong> Reflextheorie Pawlows, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
mit <strong>der</strong> Lehre vom bed<strong>in</strong>gten (das<br />
bedeutet durch Gewöhnung und Erziehung<br />
erworbene Reflexe) wird nicht kenntlich<br />
gemacht. Er ist dem Autorenkollektiv aber<br />
aus <strong>der</strong> damaligen Fachpresse bekannt. 94 Der<br />
noch ausbleibende dritte Schritt – die Ausbildung<br />
<strong>der</strong> Überzeugung ist im zweiten implizit<br />
enthalten und muss nur noch deutlich<br />
gemacht werden.<br />
Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> müssen nun glauben, dass diese<br />
vom Ziel und durch den Erzieher vorgegebenen<br />
Verhaltensweisen auch das s<strong>in</strong>d, was<br />
sie selbst gewollt haben. Das heißt, sie sollen<br />
„aktiv“ und „bewusst“ Mitglie<strong>der</strong> des sozialistischen<br />
Kollektivs se<strong>in</strong>. Das Autorenkollektiv<br />
verspricht sich nun, dass die e<strong>in</strong>geschliffenen<br />
kollektivstärkenden Verhaltensweisen zu<br />
e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren Habitus werden. Der dazu formulierte<br />
Schlüsselsatz ist die Aufnahme und<br />
Erweiterung e<strong>in</strong>er geläufigen <strong>DDR</strong>-Phrase:<br />
„Die Persönlichkeit entwickelt sich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Tätigkeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktiven Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />
mit <strong>der</strong> Umwelt.“ 95 Das Innenleben ist e<strong>in</strong><br />
Resultat des Verhaltens. (Inwieweit hier Momente<br />
<strong>der</strong> behavioristischen Psychologie Pate<br />
standen, geht aus dem Text nicht hervor. 96 )<br />
Auch wenn dieses Verhalten anfangs „stimuliert“<br />
werden muss, <strong>in</strong> dem Maße, wie es sich<br />
bewährt, vom Erzieher qua Kollektiv verlangt<br />
und sanktioniert wird, verstetigt sich die<br />
Anpassung des k<strong>in</strong>dlichen Anerkennungsbedürfnisses<br />
an die Vorgaben se<strong>in</strong>er Erzieher<br />
als „sozialistische Persönlichkeit“.<br />
94 Siehe Nebylizyn, 1961; und Fa<strong>in</strong>berg, 1961.<br />
95 Autorenkollektiv, 1984, S. 118.<br />
96 Die dritte deutsche Auflage des Klassikers,<br />
J. B. Watson, Behaviorism, erschien ebenfalls im Jahre<br />
1984.<br />
Das diesen Gedankengang abschließende<br />
praktische Beispiel soll se<strong>in</strong>e Praxistauglichkeit<br />
bestätigen. „So will z. B. patriotische Erziehung<br />
erreichen, dass die K<strong>in</strong><strong>der</strong> aktiv und<br />
parteilich für die Sache des Sozialismus <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> e<strong>in</strong>treten. Also ist dafür zu sorgen,<br />
dass die Heimgeme<strong>in</strong>schaft gute Taten für<br />
den Sozialismus vollbr<strong>in</strong>gt und jedes K<strong>in</strong>d<br />
sich dafür engagiert. Demnach ist es erfor<strong>der</strong>lich,<br />
Konstellationen im geme<strong>in</strong>samen<br />
Handeln herbeizuführen, <strong>in</strong> denen und durch<br />
welche K<strong>in</strong><strong>der</strong> sich als Mitkämpfer im Heimkollektiv<br />
bewähren müssen, gefor<strong>der</strong>t und <strong>in</strong><br />
ihrem Verhalten danach beurteilt werden.“ 97<br />
Wie diese äußeren Zwänge zu <strong>in</strong>nerlichen<br />
Bedürfnissen werden, ist <strong>in</strong> diesem Beispiel<br />
nicht plausibel gemacht. Auch <strong>der</strong> Ratschlag<br />
an den Erzieher, „Möglichst alles soll er über<br />
jeden e<strong>in</strong>zelnen wissen“ 98 , wird diese Lücke<br />
nicht auffüllen. Allerd<strong>in</strong>gs konnten sich die<br />
Verfasser darauf verlassen, dass die anstaltsstrukturellen<br />
Rahmenbed<strong>in</strong>gungen dieses<br />
Konzeptes dieses fehlende Moment ersetzen.<br />
1.2.6.5 Die Bedeutung des<br />
Umerziehungskonzeptes<br />
Das Ziel – Erziehung als Überzeugungserzeugung<br />
und also Teil des sozialistischen<br />
Staatskonzeptes zu gebrauchen – lässt sich<br />
auch aus an<strong>der</strong>en Quellen belegen: „Überzeugungsän<strong>der</strong>ungen<br />
s<strong>in</strong>d darauf gerichtet,<br />
bei Heranwachsenden Umbildungen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
psychischen Struktur und <strong>in</strong> den Beziehungen<br />
zur Umwelt im S<strong>in</strong>ne des sozialistischen<br />
Erziehungszieles herbeizuführen.“ 99 Nach<br />
Korotow besteht das Endziel <strong>der</strong> Methodik<br />
<strong>der</strong> ideologisch-moralischen Überzeugungsbildung<br />
dar<strong>in</strong>, bei unserer Jugend die Fähigkeit<br />
zu entwickeln, sich selbstständig kommunistische<br />
Überzeugungen anzueignen, sie<br />
zu erwerben.“ 100 Wer diese Fähigkeit nicht<br />
freiwillig aufbr<strong>in</strong>gen wollte, war Gegenstand<br />
<strong>der</strong> Umerziehung. Dabei handelt es sich nach<br />
Kotschetow nicht um e<strong>in</strong>en Prozess, <strong>der</strong><br />
97 Autorenkollektiv, 1984, S. 124.<br />
98 Autorenkollektiv, 1984, S. 125.<br />
99 Topal/Topal, 1972, S. 177.<br />
100 Korotow, 1974, S. 2.<br />
mit „Moral und Strafpredigten“ zum Erfolg<br />
führt. 101<br />
Auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite hat dieses Konzept<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> hier dargelegten Deutlichkeit den<br />
Erziehungsalltag <strong>in</strong> den K<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen nur<br />
selten direkt bestimmt. E<strong>in</strong> solches Konzept<br />
ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft, die Momente des<br />
Zivilen bewahrt, auch nicht umsetzbar. Die<br />
Heime<strong>in</strong>richtungen können deshalb nicht <strong>in</strong><br />
dem S<strong>in</strong>ne als „total“ verstanden werden, als<br />
wären sie tatsächlich überwiegend „geschlossene“<br />
E<strong>in</strong>richtungen gewesen. Gleichwohl gab<br />
es Pädagogen, die dies für den Erziehungsvorgang<br />
als för<strong>der</strong>lich erachteten: „Im Vergleich<br />
zum Nutzeffekt <strong>der</strong> staatsbürgerlichen<br />
Erziehung an den Schulen, ist die staatsbürgerliche<br />
Erziehung <strong>in</strong> den K<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen<br />
besser, da die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und die Jugendlichen<br />
den ganzen Tag unter dem E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Erzieher<br />
stehen.“ 102<br />
Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ist man verblüfft,<br />
wie ungeschm<strong>in</strong>kt hier E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong> die<br />
Verletzlichkeit, Biegsamkeit, Hilflosigkeit,<br />
E<strong>in</strong>samkeit und Abhängigkeit von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
und Jugendlichen zur machtpolitischen<br />
Abrichtung von Menschen formuliert s<strong>in</strong>d.<br />
Das Werk, aus dem die meisten <strong>der</strong> hier<br />
angeführten Gedanken stammen, enthält<br />
die e<strong>in</strong>zige <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> je im Zusammenhang<br />
ausgearbeitete Theorie über <strong>Heimerziehung</strong><br />
und ist 1984 erschienen.<br />
Es darf <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch<br />
nicht unerwähnt bleiben, dass e<strong>in</strong> Charakteristikum<br />
sozialistischer Bildungspolitik<br />
dar<strong>in</strong> bestand, dass die im M<strong>in</strong>isterium für<br />
Volksbildung für die <strong>Heimerziehung</strong> Zuständigen<br />
ke<strong>in</strong>e Notwendigkeit sahen, die ihnen<br />
anvertrauten K<strong>in</strong><strong>der</strong> vor e<strong>in</strong>em staatlichen<br />
Geheimdienst zu schützen.<br />
1.3 Der Blickw<strong>in</strong>kel <strong>der</strong> Betroffenen<br />
Die Wissenschaft, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Sozialwissenschaft,<br />
kommt nicht ohne<br />
Wertung aus, auch wenn sie durch ihr<br />
101 Kotschetow, 1977, S. 138.<br />
102 Aussprachebericht des IM-Kanditaten<br />
„Merthens“ vom 05.12.1967. In: BStU MfS BV Karl-<br />
Marx-Stadt XIV, Nr. 168/68.<br />
Instrumentarium versucht, diesen Aspekt<br />
ihrer Tätigkeit kle<strong>in</strong> zu halten und zu kontrollieren.<br />
Die Betroffenen müssen sich dieser<br />
diszipl<strong>in</strong>arischen Auflage nicht unterwerfen.<br />
Ihr Erleben ist subjektiv <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, dass<br />
niemand e<strong>in</strong> Recht beanspruchen darf, es<br />
ihnen zu bestreiten.<br />
Die Betroffenen sagen – soweit uns diese<br />
Verallgeme<strong>in</strong>erung zusteht – die drei Blickw<strong>in</strong>kel<br />
s<strong>in</strong>d nur künstliche E<strong>in</strong>teilungen, um<br />
das Problem zu fassen. In ihren Erfahrungen<br />
überlagern sich Formen <strong>der</strong> SED-Diktatur<br />
und des Heimalltags. Es gibt ebenso Betroffene,<br />
die ihre Heimzeit nicht als Bestandteil<br />
e<strong>in</strong>er Diktatur wahrnehmen, son<strong>der</strong>n als<br />
e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>dheit mit guten sowie schlechten Erfahrungen.<br />
Aber wir erleben auch Betroffene,<br />
die ihre Biografie als Ergebnis e<strong>in</strong>es Lebens <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em repressiven und totalitären Staat ansehen.<br />
Das SED-Unrecht war ihr Heimalltag;<br />
und was ihnen im Heim wi<strong>der</strong>fuhr, sahen<br />
sie als ihr Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand des Staates an.<br />
Deshalb haben es Betroffene auf den provokanten,<br />
aber deutlichen Ausdruck gebracht:<br />
Die Anstalt – im oben beschriebenen S<strong>in</strong>ne<br />
– war die <strong>DDR</strong>.<br />
Was an dieser Erfahrung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em historischen<br />
S<strong>in</strong>ne berechtigt ist, kann im Rahmen<br />
<strong>der</strong> Möglichkeiten dieser Expertise nicht<br />
erfragt werden. Aber es sollen wenigstens<br />
zwei Aspekte angesprochen werden, die<br />
dabei e<strong>in</strong>e Rolle spielen dürften. Dabei kann<br />
es nicht darum gehen, den Erfahrungen <strong>der</strong><br />
Betroffenen vorzugreifen, son<strong>der</strong>n es sollen<br />
sozialwissenschaftliche Anhaltspunkte angeschnitten<br />
werden, mit <strong>der</strong>en Hilfe man ihre<br />
Erfahrungen formulieren und <strong>in</strong>terpretieren<br />
kann.<br />
1.3.1 Strafen<br />
In den Heimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> s<strong>in</strong>d die oben<br />
beschriebenen „Anstaltsprobleme“ nicht<br />
mit <strong>der</strong> nötigen fachlichen und moralischen<br />
Achtsamkeit verarbeitet worden. Schon<br />
E<strong>in</strong>weisungen dienten manchmal <strong>der</strong> Entwürdigung.<br />
Auch <strong>der</strong> Aufenthalt <strong>in</strong> manchen<br />
E<strong>in</strong>richtungen half nicht, die problematischen<br />
Sozialisationsbed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
auszugleichen, son<strong>der</strong>n hatte hier und da die<br />
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