14.05.2014 Aufrufe

Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Was hilft ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bei <strong>der</strong> Bewältigung ihrer komplexen Traumatisierung?<br />

In e<strong>in</strong>er Befragung von Erwachsenen, die<br />

<strong>in</strong> den 50er- und 60er-Jahren <strong>in</strong> Kanada im<br />

Waisenhaus waren (Perry et al. 2005), fand<br />

sich e<strong>in</strong>e extrem hohe Rate an Traumatisierungen,<br />

die während des Heimaufenthaltes<br />

erfahren wurde: 96 % berichten körperliche<br />

Misshandlungen durch Erzieher, 87 % berichten<br />

Vernachlässigung, 81 % wurden Zeugen<br />

von Gewalt, 57 % wurden Opfer sexueller<br />

Gewalt. Die meisten Befragen berichteten,<br />

dass es für sie während des Heimaufenthaltes<br />

ke<strong>in</strong>e bedeutsamen Beziehungen zu<br />

Betreuern gab. Etwa die Hälfte <strong>der</strong> befragten<br />

ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> berichtete, dass<br />

damals zu ke<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen erwachsenen<br />

Person e<strong>in</strong> vertrauensvolles Verhältnis bestanden<br />

habe.<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> Heimen leben unter e<strong>in</strong>em<br />

beson<strong>der</strong>en Risiko, Gewalterfahrungen zu<br />

machen. Auch die Prävalenz von Traumafolgestörungen<br />

ist bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, die <strong>in</strong> Heimen<br />

untergebracht wurden, deutlich höher als <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Normalbevölkerung (Kolko et al. 2009).<br />

In <strong>der</strong> Konsequenz bedeutet dies, dass Heimträger<br />

spezielle Maßnahmen treffen müssen,<br />

um Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> vor Übergriffen zu schützen.<br />

Aber nicht nur Traumafolgestörungen<br />

f<strong>in</strong>den sich gehäuft bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n aus dem<br />

Heimbereich, son<strong>der</strong>n ebenso Verhaltensauffälligkeiten<br />

und an<strong>der</strong>e psychische Störungen.<br />

Bei e<strong>in</strong>er Untersuchung von 183 Jugendlichen<br />

(Alter zwischen 13 und 17 Jahren) zu<br />

Prävalenz von psychischen Erkrankungen<br />

<strong>in</strong> Kanada (Bronsard et al. 2011) fand sich<br />

bei ca. 50 % <strong>der</strong> Jugendlichen e<strong>in</strong>e manifeste<br />

psychiatrische Diagnose. Es fanden sich<br />

beson<strong>der</strong>s häufig Angststörungen, Verhaltensstörungen,<br />

Essstörungen, nächtliches<br />

E<strong>in</strong>nässen, Psychosen und Aufmerksamkeits-<br />

Hyperaktivitätssyndrom. Die Prävalenz von<br />

Suizidversuchen <strong>in</strong> den letzten Monaten war<br />

mit 23 % <strong>der</strong> Jugendlichen erschreckend<br />

hoch.<br />

Schmid (2010) macht auf die beson<strong>der</strong>e<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung, die das Ausmaß an psychischen<br />

Belastungen und Störungen von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

im Heimbereich für das pädagogische<br />

Personal darstellt, aufmerksam. E<strong>in</strong>e Analyse<br />

<strong>der</strong> verfügbaren Prävalenzzahlen belegt, so<br />

Schmid (2010):<br />

„dass über 70 % <strong>der</strong> Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> nicht nur e<strong>in</strong>e<br />

sehr hohe Prävalenz von k<strong>in</strong><strong>der</strong>- und jugendpsychiatrischen<br />

Erkrankungen zeigen, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel unter mehr als an e<strong>in</strong>er Störung<br />

leiden und oft sehr komplexe Störungsbil<strong>der</strong> mit<br />

vielen Symptomen aufweisen. Solche psychisch<br />

auffälligen K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche erzielen <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> schlechtere Ergebnisse und<br />

bedürfen daher zusätzlich zu e<strong>in</strong>er psychiatrischen/psychotherapeutischen<br />

Behandlung e<strong>in</strong>e<br />

fundierte sozialpädagogische Betreuung.“<br />

Auch nach dem Heimaufenthalt f<strong>in</strong>den sich<br />

gehäuft Probleme mit e<strong>in</strong>er selbstständigen<br />

Lebensführung. E<strong>in</strong>e aktuelle Studie (Berz<strong>in</strong><br />

et al. 2011) zeigt, dass bei ehemaligen Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />

höhere Raten an Obdachlosigkeit<br />

und gehäuft Schwierigkeiten bei <strong>der</strong> sozialen<br />

Integration vorliegen.<br />

Zusammenfassend belegen die referierten<br />

Forschungsergebnisse, dass Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Risikogruppe darstellen, die beson<strong>der</strong>en<br />

Schutz und För<strong>der</strong>ung benötigt. Durch die<br />

Heimunterbr<strong>in</strong>gung und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e durch<br />

wechselnde Unterbr<strong>in</strong>gungen und den damit<br />

verbundenen Abbruch bestehen<strong>der</strong> Beziehungen<br />

besteht die Gefahr, B<strong>in</strong>dungsstörungen<br />

zu verschlimmern bzw. zu verursachen.<br />

Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> leiden gehäuft unter psychischen<br />

Störungen und Verhaltensauffälligkeiten<br />

sowie unter Traumafolgestörungen. Sobald<br />

diese Störungsbil<strong>der</strong> im Alltag zu Problemen<br />

führen und die Entwicklung des K<strong>in</strong>des o<strong>der</strong><br />

des Jugendlichen gefährden, wird e<strong>in</strong>e qualifizierte<br />

psychologische bzw. psychiatrische<br />

Diagnostik und Behandlung notwendig. Die<br />

strukturellen Voraussetzungen hierfür s<strong>in</strong>d<br />

<strong>in</strong> die Heimversorgung e<strong>in</strong>zuplanen.<br />

Der Heimaufenthalt stellt selbst e<strong>in</strong> Risiko<br />

für Traumatisierungen durch Betreuungspersonen,<br />

aber auch durch Gewalt zwischen<br />

Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong>n dar. Daher müssen Schutzmaßnahmen<br />

getroffen werden. Nach dem Heimaufenthalt,<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wenn e<strong>in</strong>e normale<br />

Sozialisation mit Besuch e<strong>in</strong>er öffentlichen<br />

Schule und <strong>der</strong> Entwicklung von tragfähigen<br />

Beziehungen auch außerhalb des Heimbereiches<br />

nicht möglich war, s<strong>in</strong>d beson<strong>der</strong>e Hilfen<br />

bei <strong>der</strong> sozialen Integration erfor<strong>der</strong>lich.<br />

3.1 Heimunterbr<strong>in</strong>gung als traumatische<br />

Erfahrung<br />

Lässt sich die E<strong>in</strong>weisung und Unterbr<strong>in</strong>gung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bereits als e<strong>in</strong>e<br />

traumatische Erfahrung bezeichnen? Die<br />

Beantwortung dieser Frage hängt natürlich<br />

davon ab, wie e<strong>in</strong> Trauma def<strong>in</strong>iert wird.<br />

Nach <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Klassifikationssysteme<br />

wird unter e<strong>in</strong>em Trauma<br />

e<strong>in</strong> Ereignis mit e<strong>in</strong>em auch für an<strong>der</strong>e<br />

Menschen außergewöhnlich belastenden<br />

Schweregrad (objektives Traumakriterium)<br />

und starkem subjektivem Belastungserleben<br />

(subjektives Traumakriterium) verstanden,<br />

wobei das subjektive Erleben durch Gefühle<br />

von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Entsetzen<br />

gekennzeichnet ist. Im umgangssprachlichen<br />

Gebrauch versteht man allgeme<strong>in</strong>er unter<br />

e<strong>in</strong>em Trauma e<strong>in</strong> die subjektiven Bewältigungsmöglichkeiten<br />

überfor<strong>der</strong>ndes Ereignis<br />

(Sack 2010).<br />

E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim, zumal wenn<br />

sie ohne E<strong>in</strong>verständnis <strong>der</strong> Eltern veranlasst<br />

wird, ist für das betroffene K<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> den Jugendlichen<br />

naturgemäß e<strong>in</strong> stark ängstigendes<br />

und verunsicherndes Ereignis. Es fehlt<br />

jede Möglichkeit, auf eigene Erfahrungen<br />

und Kenntnisse zurückzugreifen, um sich<br />

auf die Bed<strong>in</strong>gungen des Heimaufenthalts<br />

e<strong>in</strong>stellen zu können. K<strong>in</strong><strong>der</strong>n wurde oft<br />

mit e<strong>in</strong>em Heimaufenthalt gedroht im S<strong>in</strong>ne<br />

e<strong>in</strong>er Strafmaßnahme mit negativen Konsequenzen<br />

(„Wenn du nicht artig bist, kommst<br />

du <strong>in</strong>s Heim“). Die tatsächlich anstehende<br />

E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong>s Heim ist dann entsprechend<br />

aversiv besetzt. Zudem lässt sich für e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d<br />

o<strong>der</strong> für e<strong>in</strong>en Jugendlichen nicht vorhersehen,<br />

was es bedeutet, tatsächlich im Heim<br />

zu leben, welche Regeln dort gelten werden<br />

und welche persönlichen E<strong>in</strong>schränkungen<br />

mit dem Heimaufenthalt verbunden s<strong>in</strong>d.<br />

Auch die Dauer des Verbleibens im Heim und<br />

das weitere Schicksal danach s<strong>in</strong>d unsicher,<br />

zumal die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong>s Heim selten mit<br />

e<strong>in</strong>em klar def<strong>in</strong>ierten Zeithorizont vollzogen<br />

wird. Bezogen auf die Heimaufenthalte<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> war die Aufenthaltsdauer im<br />

Heim <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel an unklare Bed<strong>in</strong>gungen<br />

e<strong>in</strong>er „Besserung“ im S<strong>in</strong>ne sozialer<br />

Anpassung und Reduktion unerwünschten<br />

Verhaltens geknüpft. Woran <strong>der</strong> Erfolg <strong>der</strong><br />

<strong>Heimerziehung</strong> festgestellt werden wird und<br />

ob es möglich se<strong>in</strong> wird, im notwendigen<br />

Maße das erwünschte Verhalten und die<br />

gefor<strong>der</strong>te Anpassung hervorzubr<strong>in</strong>gen, war<br />

nicht vorhersehbar.<br />

Für viele Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> gab es nach <strong>der</strong> Aufnahme<br />

<strong>in</strong>s Heim kaum noch e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung<br />

zu Außenwelt und e<strong>in</strong>en abrupten Abbruch<br />

<strong>der</strong> vertrauten Beziehungen. Sofern gute<br />

soziale Beziehungen bestanden, musste die<br />

Unterbrechung subjektiv als Verlassenwerden<br />

und Im-Stich-gelassen-Werden erlebt werden.<br />

Die vertraute Unterstützung war nicht mehr<br />

verfügbar, da sie systematisch unterbunden<br />

wurde, um das K<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> den Jugendlichen<br />

zu zw<strong>in</strong>gen, sich auf die Regeln des Heims<br />

und auf die erzieherischen Maßnahmen<br />

e<strong>in</strong>zulassen. Damit wurden die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und<br />

Jugendlichen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en subjektiv erlebten<br />

Zustand des mehr o<strong>der</strong> weniger völligen Verlassense<strong>in</strong>s<br />

und Ausgeliefertse<strong>in</strong>s gebracht.<br />

E<strong>in</strong> Zustand, <strong>in</strong> dem es ke<strong>in</strong>e vertrauten<br />

Sicherheiten und ke<strong>in</strong>en vertrauten sozialen<br />

Rückhalt mehr gab, ohne Gewissheit, ob es je<br />

wie<strong>der</strong> so wie früher werden würde. Tatsächlich<br />

bedeutete <strong>der</strong> Heimaufenthalt sehr<br />

häufig e<strong>in</strong>en tiefen E<strong>in</strong>schnitt <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen<br />

Biografie. Nach dem Heimaufenthalt<br />

war die Welt nicht mehr so wie vorher, da<br />

mit <strong>der</strong> Aufnahme <strong>in</strong>s Heim und durch den<br />

Heimaufenthalt e<strong>in</strong>e Erfahrung von extremer<br />

Verunsicherung und e<strong>in</strong>e Erschütterung<br />

des Vertrauens <strong>in</strong> die Unterstützung durch<br />

Menschen ausgelöst wurden.<br />

Die Aufnahme <strong>in</strong>s Heim war also aus Sicht<br />

<strong>der</strong> betroffenen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />

<strong>in</strong> je<strong>der</strong> H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e extrem verunsichernde<br />

und ängstigende Maßnahme, gleichsam e<strong>in</strong>e<br />

Reise <strong>in</strong>s Ungewisse. Nach übere<strong>in</strong>stimmenden<br />

Berichten von Betroffenen wurde<br />

im Heim nie erklärt, warum die E<strong>in</strong>weisung<br />

erfolgte, auch auf Nachfragen nicht. Auch<br />

retrospektiv f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> den Akten <strong>der</strong><br />

Heime o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfe <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel<br />

ke<strong>in</strong>e die <strong>in</strong>dividuelle Entscheidung erklärenden<br />

Begründungen. Oft wurden pauschal<br />

diszipl<strong>in</strong>arische Gründe wie Schulbummelei<br />

angeführt (Sachse, 2010, 152 ff.). Die<br />

362 363

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!