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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

war bereits am Vortage wegen ruhestörenden<br />

(sic) Lärm negativ <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung getreten,<br />

<strong>in</strong>dem er <strong>in</strong> Überlautstärke se<strong>in</strong> Kofferradio<br />

aufdrehte und auf dem Sen<strong>der</strong> RIAS die<br />

‚Schlager <strong>der</strong> Woche‘ abhörte. Er war deswegen<br />

am Vortage <strong>der</strong> Volkspolizei zugeführt<br />

worden und erhielt das Verbot ausgesprochen,<br />

den Weihnachtsmarkt aufzusuchen.<br />

Dieses Verbot beachtete er nicht, so dass<br />

se<strong>in</strong>e Zuführung erfolgte. Es ist vorgesehen,<br />

den N. N. nach Rü<strong>der</strong>sdorf zu schicken.“ 166<br />

Die E<strong>in</strong>weisungsgründe wurden <strong>in</strong>tern<br />

als nicht den Gesetzen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> entsprechend<br />

kritisiert und daraufh<strong>in</strong> präzisiert.<br />

Als Gründe für e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung galten nun:<br />

Sachbeschädigung, tätliche Beleidigung,<br />

Körperverletzung leichter Art. Alle drei<br />

Delikte waren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel auf Konflikte mit<br />

uniformierten o<strong>der</strong> zivil gekleideten Staatsvertretern<br />

zurückzuführen, die Jugendliche<br />

auffor<strong>der</strong>ten, sich von bestimmten Orten<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu entfernen, sich die<br />

Haare schneiden zu lassen o<strong>der</strong> die Kleidung<br />

zu wechseln. Als globale Begründung<br />

für E<strong>in</strong>weisungen wurde h<strong>in</strong>zugefügt „(…)<br />

o<strong>der</strong> Bürger auf an<strong>der</strong>e Weise belästigen<br />

bzw. die zwischenmenschlichen Beziehungen<br />

stören (z. B. <strong>in</strong> Verkehrsmitteln, während<br />

Filmvorführungen).“ 167 Störungen <strong>in</strong><br />

Filmvorführungen waren zu dieser Zeit e<strong>in</strong><br />

jugendliches Mittel des Protestes. Im Schutz<br />

<strong>der</strong> Dunkelheit wurde <strong>der</strong> „Augenzeuge“ (die<br />

„Wochenschau“ <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>) mit hämischen<br />

Kommentaren bedacht. Als „Belästigung“<br />

von Bürgern galt bereits die jugendtypische<br />

Bekleidung, aber auch laute Musik aus<br />

Kofferradios.<br />

166 17. Bericht zur Aufklärung und Beseitigung<br />

operativer Schwerpunkte und zur Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />

von Zusammenrottungen, Provokationen und<br />

Ausschreitungen negativer Jugendlicher <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Hauptstadt <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> vom 30. November 1966. In: BStU<br />

MfS HA XX, Nr. 6166 Teil 1 und 2.<br />

167 Die gesetzlichen Grundlagen für die<br />

E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> das Objekt Rü<strong>der</strong>sdorf (ohne Datum,<br />

etwa Februar 1967). In: BArch DR 2/51127.<br />

3.1.2.3 Beispiele aus den 80er-Jahren<br />

Zu Anfang <strong>der</strong> 1980er-Jahre wurden aus<br />

unbekannten Gründen die Diszipl<strong>in</strong>schwierigkeiten<br />

<strong>in</strong> das Zentrum <strong>der</strong> E<strong>in</strong>weisungsgründe<br />

gerückt. Es hat den Ansche<strong>in</strong>, dass<br />

hier eher politische als fachliche Gründe<br />

e<strong>in</strong>e Rolle spielten. E<strong>in</strong> Katalog von Gründen<br />

zur Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heime<br />

setzte beispielsweise – wie <strong>der</strong> folgende<br />

Auszug zeigt – bei fünf von sechs Gründen<br />

mechanisch das Wort „Diszipl<strong>in</strong>schwierigkeiten“<br />

h<strong>in</strong>zu: „1. Diszipl<strong>in</strong>schwierigkeiten<br />

im Elternhaus, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit und <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Schule. 2. Diszipl<strong>in</strong>schwierigkeiten w. o.<br />

verbunden mit Schulbummelei. 3. Diszipl<strong>in</strong>schwierigkeiten<br />

w. o., Schulbummelei und<br />

deliktische K<strong>in</strong><strong>der</strong>handlungen 168 (…) 4. Diszipl<strong>in</strong>schwierigkeiten<br />

w. o., Schulbummelei<br />

und staatsgefährdende Handlungen.“ Insofern<br />

wird an diesem Katalog deutlich, dass<br />

das Wort „Diszipl<strong>in</strong>schwierigkeiten“ ke<strong>in</strong>e<br />

begrifflich abgrenzbare Bedeutung besaß.<br />

Es ist e<strong>in</strong>e weitere Verschiebung <strong>in</strong> den<br />

Katalogen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>weisungsgründe festzustellen.<br />

Die Fixierung auf Begriffe aus dem<br />

Strafgesetzbuch wurde ersetzt durch allgeme<strong>in</strong>e<br />

Beschreibungen, wie z. B. für die<br />

Insassen von Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen: „Das s<strong>in</strong>d<br />

Schüler, die ständig grobe Verstöße gegen<br />

die Diszipl<strong>in</strong> und Ordnung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule und<br />

Öffentlichkeit begehen. Sie s<strong>in</strong>d erheblich<br />

im schulischen Lernen zurückgeblieben und<br />

zeigen ausgeprägte negative Lerne<strong>in</strong>stellungen.<br />

(…) Viele dieser Schüler entziehen sich<br />

dem erzieherischen E<strong>in</strong>fluss im Elternhaus,<br />

entweichen häufig und bummeln (versäumen,<br />

Zus. d. Vf.) oft über längere Zeit den<br />

Unterricht. Sie nehmen <strong>in</strong> den Klassenkollektiven<br />

e<strong>in</strong>e Außenseiterposition e<strong>in</strong>, schließen<br />

sich häufig negativen Gruppierungen<br />

an und begehen deliktische bzw. strafbare<br />

Handlungen.“ 169<br />

168 Geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d vermutlich Handlungen,<br />

die nach StGB strafbar waren, jedoch wegen<br />

Strafunmündigkeit nicht verfolgt werden konnten.<br />

169 Leiter <strong>der</strong> Abteilung Jugendhilfe und<br />

<strong>Heimerziehung</strong>: Analyse und Standpunkte zur<br />

weiteren Entwicklung <strong>der</strong> politisch-pädagogischen<br />

Diese Beschreibung reagiert relativ genau auf<br />

e<strong>in</strong> Phänomen, das bereits zwei Jahre früher<br />

die beiden westdeutschen Journalisten Büscher<br />

und Wensierski auf den Punkt gebracht<br />

hatten und auch durch <strong>in</strong>terne Studien des<br />

Jugendforschungs<strong>in</strong>stitutes Leipzig belegt<br />

ist: Die Jugend <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> sagte sich <strong>in</strong> steigendem<br />

Maße von <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> los. Dabei g<strong>in</strong>g<br />

es nicht um demonstrative Handlungen,<br />

son<strong>der</strong>n um erodierende E<strong>in</strong>stellungen und<br />

Überzeugungen. 170 <strong>Heimerziehung</strong> sollte <strong>in</strong><br />

dieser Zeit vornehmlich die E<strong>in</strong>flussmöglichkeiten<br />

<strong>der</strong> staatlichen Erziehung wie<strong>der</strong>herstellen.<br />

Genau <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne ist auch <strong>der</strong><br />

Begriff „Außenseiterposition“ zu verstehen.<br />

Hier g<strong>in</strong>g es nicht darum, dass <strong>der</strong> betreffende<br />

M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige im Klassenverband<br />

ke<strong>in</strong>e sozialen Beziehungen unterhielt. Er<br />

konnte sogar überaus beliebt se<strong>in</strong>. Gemessen<br />

wurde mit dieser Beziehung die Position im<br />

sozialistischen Klassenkollektiv (Übernahme<br />

von Funktionen und Überzeugungen). Unter<br />

„negativen Gruppierungen“ s<strong>in</strong>d folgerichtig<br />

Gruppen <strong>der</strong> Jugendmusikkulturen (Punk)<br />

zu verstehen.<br />

3.1.3 Statistiken zu Heime<strong>in</strong>weisungen<br />

Die Zahl <strong>der</strong> Heime<strong>in</strong>weisungen durch die<br />

Jugendhilfe <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> lässt sich für e<strong>in</strong>ige<br />

Jahrgänge genau angeben. Sie gew<strong>in</strong>nen an<br />

Aussagekraft, wenn man sie <strong>in</strong> Relation zur<br />

jeweiligen Altersgruppe setzt. Der damit verbundene<br />

Rechenaufwand konnte nur punktuell<br />

geleistet werden. Im Folgenden werden<br />

e<strong>in</strong>ige Beispiele vorgestellt.<br />

3.1.3.1 Der Anteil <strong>der</strong> Verfahren an den<br />

E<strong>in</strong>weisungen<br />

E<strong>in</strong>e Aufschlüsselung <strong>der</strong> Maßnahmen<br />

<strong>der</strong> Jugendhilfe von 1988 zeigt, dass die<br />

behördliche Entscheidung weit vor e<strong>in</strong>er<br />

Arbeit <strong>in</strong> den Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen (ohne Datum,<br />

1986). In: BArch DR 2/12190.<br />

170 Büscher, Wolfgang; Wensierski, Peter:<br />

Null Bock auf <strong>DDR</strong>. Aussteigerjugend im an<strong>der</strong>en<br />

Deutschland. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Re<strong>in</strong>bek<br />

1984.<br />

e<strong>in</strong>vernehmlichen Lösung rangierte (Herausnahme<br />

nach § 50 FGB und freiwillige<br />

Vere<strong>in</strong>barung). 171 Deutlich ist auch e<strong>in</strong><br />

Phänomen, das bereits zu <strong>DDR</strong>-Zeiten <strong>in</strong>tern<br />

diskutiert wurde. Sobald e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>weisungsverfahren<br />

<strong>in</strong> Gang gesetzt wurde, führte es <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Überzahl <strong>der</strong> Fälle auch zu e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>weisung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Heim. Der Anteil von M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen,<br />

die mit Auflagen zur Erziehung <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Familie bleiben konnten, ist prozentual<br />

quer durch die Altersgruppen sehr ähnlich,<br />

aber gegenüber den „Herausnahmen“ aus <strong>der</strong><br />

Familie relativ ger<strong>in</strong>g. In <strong>der</strong> Altersgruppe<br />

0 bis unter 3 Jahre können vorwiegend<br />

soziale Gründe vermutet werden, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Altersgruppe 14 bis unter 18 Jahre dagegen<br />

diszipl<strong>in</strong>arische Gründe. In <strong>der</strong> Gruppe von 6<br />

bis unter 10 Jahren könnten sich „Schulversager“<br />

<strong>der</strong> 1. und 2. Klassen f<strong>in</strong>den. Diesen<br />

Schluss lassen E<strong>in</strong>gaben und Beschwerden<br />

vermuten, ohne ihn e<strong>in</strong>deutig belegen zu<br />

können.<br />

3.1.3.2 Die unterschiedlichen Praktiken <strong>in</strong><br />

den Bezirken<br />

Nicht erklärt werden können die Unterschiede<br />

<strong>in</strong> den Bezirken h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> Spezialheime, wie sie mit den<br />

folgenden Grafiken illustriert werden. 172 Die<br />

Zahlen s<strong>in</strong>d nicht mit den sonstigen E<strong>in</strong>weisungen<br />

zu vergleichen, da sie nur knapp<br />

sechs Monate umfassen. E<strong>in</strong> erheblicher<br />

Teil <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> wurde zum 1. September <strong>in</strong><br />

die Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heime e<strong>in</strong>gewiesen, sodass<br />

e<strong>in</strong>e Hochrechnung auf zwölf Monate nicht<br />

möglich ist. Die Verteilung nach Bezirken<br />

folgt offensichtlich nicht nur <strong>in</strong>dustriellen<br />

Ballungsgebieten, wo soziale Brennpunkte<br />

vermutet werden können. In Berl<strong>in</strong> dürften<br />

die hohen Zahlen politischen Motiven geschuldet<br />

se<strong>in</strong>. Die E<strong>in</strong>weisungszahlen folgen<br />

nicht dem Aufenthaltsort <strong>der</strong> Jugendlichen,<br />

171 Aufgaben <strong>der</strong> Jugendhilfe 1987–1989. In:<br />

BArch DR 2/13114.<br />

172 E<strong>in</strong>weisungen <strong>in</strong> Jugendwerkhöfe und<br />

Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heime im Schuljahr 1980/1981,<br />

spezifiziert nach Bezirken, Stand: 23. Februar 1981.<br />

In: BArch DR 2/60880.<br />

172 173

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