Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Erziehungsvorstellungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
Folgen e<strong>in</strong>es Aufenthaltes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Spezialheim<br />
Dieser Bereich ist wenig erforscht. Aber<br />
die gesellschaftliche Stigmatisierung<br />
lässt sich immerh<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Bereichen<br />
konkretisieren.<br />
Häufig kamen die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen<br />
mit psychischen Vorbelastungen <strong>in</strong> die<br />
Spezialheime. Die zuvor erlittenen Traumata<br />
wurden we<strong>der</strong> während des Heimaufenthaltes<br />
noch danach aufgearbeitet. Es gab ke<strong>in</strong>e<br />
Nachsorge <strong>der</strong> Folgeschäden.<br />
Die schulische Ausbildung <strong>in</strong> den Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen<br />
(heimeigene Schulen) war im<br />
Vergleich zu <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Schulbildung<br />
signifikant niedriger. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> waren von<br />
<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> üblichen 10-Klassen-schulausbildung<br />
ausgeschlossen. Die berufliche<br />
Ausbildung <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen war auf<br />
Anlerntätigkeiten (Hilfsarbeiter) begrenzt.<br />
Die ger<strong>in</strong>gen schulischen und beruflichen<br />
Qualifikationen ergaben im weiteren Lebensverlauf<br />
wirtschaftliche Benachteiligungen.<br />
Insassen von Jugendwerkhöfen hatten <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Regel ke<strong>in</strong>e Chancen auf dem ersten<br />
Bildungsweg. Nach E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong> Autoren<br />
<strong>der</strong> Expertise müssen diese Benachteiligungen<br />
als <strong>der</strong> zumeist gelungene Versuch<br />
angesehen werden, nichtangepassten Jugendlichen<br />
e<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> im sozial untersten<br />
Gesellschaftssegment zuzuweisen.<br />
Die Stigmatisierung drückte sich auch<br />
dar<strong>in</strong> aus, dass <strong>der</strong> Heimaufenthalt im SV-<br />
Buch (Sozialversicherungsnachweis) e<strong>in</strong>getragen<br />
wurde. Dieses Dokument unterlag<br />
ke<strong>in</strong>em Datenschutz, d. h. es musste bei<br />
Aufnahme e<strong>in</strong>er Arbeit o<strong>der</strong> beim Arztbesuch<br />
vorgelegt werden. Ab 1966 wurde vom<br />
M<strong>in</strong>isterium des Innern <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> die Kartei<br />
„krim<strong>in</strong>ell gefährdete Jugendliche“ geführt,<br />
<strong>in</strong> die Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> aus Spezialheimen e<strong>in</strong>getragen<br />
wurden. Ab Ende <strong>der</strong> 1970er-Jahre<br />
s<strong>in</strong>d Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungsprogramme<br />
aufgelegt worden, die die Weiterführung <strong>der</strong><br />
Umerziehung nach <strong>der</strong> Heimentlassung zum<br />
Ziel hatten. Die Beobachtung <strong>der</strong> ehemaligen<br />
Heim<strong>in</strong>sassen ist vom M<strong>in</strong>isterium des<br />
Innern durchgeführt worden.<br />
Mit <strong>der</strong> Verarbeitung des Heimaufenthaltes<br />
und <strong>der</strong> erlebten physischen und psychischen<br />
Schädigungen wurden die Betroffenen <strong>in</strong> all<br />
den Jahren alle<strong>in</strong>gelassen.<br />
5.2.3 Umerziehung und <strong>der</strong> „Neue<br />
Mensch“<br />
„Umerziehung“, die zur Bildung des „Neuen<br />
Menschen“ führen sollte, markiert e<strong>in</strong>en antihumanistischen<br />
Umgang mit K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Die<br />
Methoden <strong>der</strong> „Umerziehung“ Schutzbefohlener<br />
konnten <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit den weiteren<br />
<strong>in</strong> dieser Expertise dargelegten Heimbed<strong>in</strong>gungen<br />
zu erheblichen Folgeschäden führen,<br />
die politische Verfolgung als Ursache haben.<br />
Umerziehung war die „Umorientierung <strong>der</strong><br />
Innenwelt des K<strong>in</strong>des“. Sie vollzog sich <strong>in</strong> den<br />
Schritten 1. Destabilisierung <strong>der</strong> psychischen,<br />
seelischen und physischen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong><br />
k<strong>in</strong>dlichen Entwicklung, 2. Zwang zur Unterordnung<br />
um <strong>der</strong> Unterordnung willen. Beide<br />
Aspekte dienten 3. <strong>der</strong> politisch motivierten<br />
Indoktr<strong>in</strong>ation <strong>der</strong> sozialistischen Ideologie.<br />
Die dabei zur Anwendung gelangten Mittel<br />
waren für die seelische, psychische und<br />
leibliche Gesundheit des K<strong>in</strong>des gefährlich.<br />
Sie beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten außerdem die k<strong>in</strong>dliche<br />
Entwicklung, hemmten e<strong>in</strong>e k<strong>in</strong>dgerechte<br />
Sozialisation, nutzten die Schwäche, E<strong>in</strong>samkeit,<br />
Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit<br />
<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen aus, bee<strong>in</strong>trächtigten<br />
die Ausbildung von elementaren<br />
moralischen Orientierungshilfen, zerstörten<br />
B<strong>in</strong>dungskompetenzen, enttäuschten, frustrierten,<br />
nahmen den Lebenswillen und die<br />
Zukunftsoffenheit. Umerziehung war das Gegenpr<strong>in</strong>zip<br />
e<strong>in</strong>er „k<strong>in</strong>dgemäßen“ Pädagogik,<br />
sie betrachtete das K<strong>in</strong>d als „Gegenstand“, als<br />
Objekt <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wirkung und Verän<strong>der</strong>ung und<br />
nahm die durch Christentum und Aufklärung<br />
für die europäische Entwicklung maßgeblichen<br />
Grundnormen e<strong>in</strong>er auf Selbstständigkeit,<br />
K<strong>in</strong>d-Gemäßheit, Eigenständigkeit<br />
und Menschenwürde orientierten Pädagogik<br />
zurück. Indem sie die Subjektstellung des<br />
K<strong>in</strong>des missachtete und aufzulösen drohte,<br />
gehört diese Pädagogik nicht mehr <strong>in</strong> den<br />
Kontext des europäischen Humanismus, son<strong>der</strong>n<br />
auf die Seite totalitärer Manipulation<br />
und Repression des Menschen.<br />
Physische Gewalt war <strong>in</strong> vielen <strong>DDR</strong>-Heimen<br />
Alltag und hatte <strong>in</strong> manchen E<strong>in</strong>richtungen –<br />
am Maßstab <strong>der</strong> Internationalen Konvention<br />
gegen die Folter gemessen – e<strong>in</strong>e Tendenz zur<br />
Folter.<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>arbeit (K<strong>in</strong><strong>der</strong> unter 14 Jahren)<br />
gehörte <strong>in</strong> vielen dieser E<strong>in</strong>richtungen zum<br />
Alltag und hatte <strong>in</strong> manchen E<strong>in</strong>richtungen<br />
e<strong>in</strong>e Tendenz zu körperlich und seelisch<br />
nachhaltiger Erschöpfung und Versehrung.<br />
Zwangsarbeit war zeitweilig e<strong>in</strong>e Methode<br />
<strong>der</strong> Umerziehung.<br />
Strafen gehörten <strong>in</strong> vielen dieser E<strong>in</strong>richtungen<br />
zum Heimalltag und hatten <strong>in</strong><br />
manchen dieser E<strong>in</strong>richtungen e<strong>in</strong>e lebensbedrohliche<br />
Tendenz und e<strong>in</strong>e auf die Zerstörung<br />
<strong>der</strong> Integrität <strong>der</strong> Person gerichtete<br />
Absicht.<br />
Diese Phänomene s<strong>in</strong>d politisch gewolltes<br />
Unrecht und markieren e<strong>in</strong> Moment sozialistischer<br />
Politik. Sie wurden auf höchster<br />
Ebene im M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung<br />
entworfen und angeordnet (z. B. Arreststrafen,<br />
Arbeitsordnungen, Isolation, D-Heime)<br />
und müssen dort, wo sie nachweislich zur<br />
Anwendung kamen, juristisch im S<strong>in</strong>ne des<br />
StrRehaG rehabilitiert werden.<br />
Die Unterschiede <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> ehemaligen <strong>DDR</strong> und <strong>der</strong> BRD<br />
Was <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er Bericht formulierte 595 , wird<br />
durch die hier breiter angelegte Expertise <strong>der</strong><br />
Tendenz nach bestätigt. Das Heimunrecht<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland <strong>in</strong> den<br />
50er- und 60er-Jahren stand im Gegensatz<br />
zum politischen Willen. Es wurde nicht verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t,<br />
konnte aber – wenn auch viel zu spät<br />
– durch die Stärke demokratischer Verfasstheit,<br />
beseitigt werden.<br />
Die Situation <strong>in</strong> <strong>der</strong> ehemaligen <strong>DDR</strong> war<br />
grundsätzlich an<strong>der</strong>s, denn dort herrschten<br />
e<strong>in</strong> staatliches Erziehungssystem und e<strong>in</strong>e<br />
nahezu ausschließliche staatliche Trägerschaft<br />
<strong>der</strong> Heime. Das Leid <strong>der</strong> dortigen<br />
Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> geschah zwar auch h<strong>in</strong>ter dem<br />
Rücken <strong>der</strong> Öffentlichkeit, aber nicht h<strong>in</strong>ter<br />
dem Rücken <strong>der</strong> politisch Verantwortlichen,<br />
595 Laudien, K./Sachse, Chr., 2011<br />
den staatlichen Organen. Es war gewolltes<br />
und <strong>in</strong> Kauf genommenes Leid. Für die<br />
<strong>DDR</strong>-Führung handelte es sich nicht um<br />
Menschen, <strong>der</strong>en <strong>in</strong>tr<strong>in</strong>sische Würde ihren<br />
Zugriff begrenzte, son<strong>der</strong>n um „erziehungsschwierige“<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>, die <strong>der</strong> Sozialismus nicht<br />
für wert ansah, sie <strong>in</strong> ihrer Problematik<br />
aufzufangen, um ihre Lebenschancen zu<br />
verbessern und sie <strong>in</strong> ihrer Individualität<br />
zu för<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n die er e<strong>in</strong>fach „än<strong>der</strong>n“<br />
wollte.<br />
Das zeigt sich an vielen Momenten.<br />
An<strong>der</strong>s als im Westteil Deutschlands waren<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> viele Heime<strong>in</strong>weisungen politisch<br />
und nicht sozialpädagogisch begründet. Die<br />
dafür zur Anwendung gelangten Term<strong>in</strong>i<br />
s<strong>in</strong>d z. T. absichtlich unscharf und unüberprüfbar<br />
gehalten und haben z. T. unter<br />
dem Deckmantel pädagogischer Probleme<br />
(„Schwererziehbarkeit“, „Verwahrlosung“,<br />
„Rowdytum“) politisch Auffällige betroffen.<br />
Diese Term<strong>in</strong>i etikettierten die politische<br />
Bekämpfung gesellschaftlich abweichenden<br />
Verhaltens. Die Grauzonen <strong>der</strong> Begrifflichkeit<br />
ermöglichten e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisungs-, aber eben<br />
damit auch e<strong>in</strong>e Erziehungswirklichkeit,<br />
die selbst <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> verschleiert werden<br />
musste.<br />
Intensiver als im Westteil wirkte sich das<br />
Problem <strong>der</strong> Stigmatisierung, die <strong>der</strong> Heimaufenthalt<br />
bedeutete, aus. Man konnte ihr<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> nicht entkommen. Im Westen<br />
konnte man an<strong>der</strong>swo versuchen, neu anzufangen.<br />
Diese Möglichkeit bot die geografisch<br />
und geistesgeschichtlich geschlossene Gesellschaft<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> nicht.<br />
Im Westen gab es theoretisch die Möglichkeit<br />
<strong>der</strong> Gegenwehr. Auch wenn sie <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Regel außerhalb <strong>der</strong> Handlungsmöglichkeiten<br />
<strong>der</strong> Heimk<strong>in</strong><strong>der</strong> lag und die Eltern<br />
sie kaum wahrnahmen und wahrnehmen<br />
konnten. Aber die <strong>Aufarbeitung</strong> ihrer Situation<br />
hat sich ohne Systemwechsel vollzogen.<br />
Im Osten gab es diese Möglichkeit we<strong>der</strong><br />
praktisch noch theoretisch, sie ist denn auch<br />
erst durch den Untergang des Sozialismus<br />
e<strong>in</strong>getreten.<br />
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