Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>samen Anweisung vom<br />
Juli 1967 (Fn. 220) umgesetzt. Damit wurde<br />
e<strong>in</strong> Gesetz, das freiheitsentziehende Maßnahmen<br />
regelt, durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>terne Dienstanweisung<br />
geän<strong>der</strong>t, ohne parlamentarisches<br />
Verfahren, ohne nennenswerte öffentliche<br />
o<strong>der</strong> auch nur behörden<strong>in</strong>terne Diskussion<br />
und ohne Veröffentlichung des Ergebnisses<br />
– e<strong>in</strong> Vorgehen, das mit dem Grundsatz <strong>der</strong><br />
Gesetzesb<strong>in</strong>dung unter ke<strong>in</strong>en Umständen<br />
vere<strong>in</strong>bar ist und auch gegen den Wortlaut<br />
des Art. 8 <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Verf. 1949 verstößt. Die<br />
Regelung war nur für kurze Zeit <strong>in</strong> Kraft. Im<br />
neuen Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1968<br />
war <strong>in</strong> § 74 bei Straftaten gegen die öffentliche<br />
Ordnung die sogenannte „Jugendhaft“<br />
vorgesehen, die zwischen e<strong>in</strong>er und sechs<br />
Wochen dauern konnte und <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>en<br />
E<strong>in</strong>richtungen des MdI vollzogen werden<br />
sollte. 223 In den 1970er-Jahren wurde das<br />
Objekt Rü<strong>der</strong>sdorf aufgelöst. 224<br />
5.1.2 Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> im<br />
Zusammenhang mit e<strong>in</strong>em Strafverfahren<br />
5.1.2.1 Die Jahre 1945 bis 1952<br />
In allen vier Besatzungszonen galt nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg zunächst e<strong>in</strong>e von<br />
nationalsozialistischen Inhalten bere<strong>in</strong>igte<br />
Fassung des RJGG von 1923/1943. Dar<strong>in</strong><br />
waren zwei Möglichkeiten vorgesehen, wie<br />
im Rahmen e<strong>in</strong>es Strafverfahrens <strong>Heimerziehung</strong><br />
angeordnet werden konnte: Zum e<strong>in</strong>en<br />
vorbestraft gelten, ersche<strong>in</strong>t mir jedoch <strong>der</strong> vorgeschlagene<br />
Lösungsweg als e<strong>in</strong>e Gesetzesauslegung [!]<br />
im Interesse <strong>der</strong> Jugendlichen [!], weil damit e<strong>in</strong>erseits<br />
ihren negativen Verhaltensweisen e<strong>in</strong> Ende gesetzt<br />
und die daran geh<strong>in</strong><strong>der</strong>t werden, sich weiterh<strong>in</strong> selbst<br />
zu schädigen, an<strong>der</strong>erseits dieser Freiheitsentzug<br />
nach jetziger Auslegung e<strong>in</strong>deutig den Charakter e<strong>in</strong>er<br />
Erziehungsmaßnahme trägt und mit <strong>der</strong> Verurteilung<br />
nach § 17 JGG nicht vere<strong>in</strong>bar ist.“<br />
223 Siehe dazu Geme<strong>in</strong>same Bezirksanweisung<br />
<strong>der</strong> Generalstaatsanwaltschaft von Groß-Berl<strong>in</strong> und<br />
dem Präsidenten <strong>der</strong> Volkspolizei, die E<strong>in</strong>weisung<br />
von Jugendlichen und jungen Erwachsenen <strong>in</strong> die<br />
Haftabteilung <strong>der</strong> Strafvollzugsanstalt Rummelsburg<br />
betreffend, v. 15.8.1972, BArch DR 2/51127.<br />
224 Sachse 2010, 101.<br />
konnte das Strafgericht selbst nach § 12 JGG<br />
die Fürsorgeerziehung anordnen, wenn die<br />
Voraussetzungen des § 63 RJWG vorlagen<br />
(<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die drohende o<strong>der</strong> festgestellte<br />
Verwahrlosung). Nach § 59 Satz 1 konnte<br />
das Strafgericht auch von e<strong>in</strong>er Verurteilung<br />
absehen und es dem Vormundschaftsgericht<br />
überlassen, über die Fürsorgeerziehung<br />
zu entscheiden. Über die Praxis <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
aus dieser Zeit ist wenig bekannt. In e<strong>in</strong>igen<br />
Län<strong>der</strong>n gab es Bestrebungen, das Jugendstrafrecht<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Erziehungsrecht umzuwandeln,<br />
die sich aber nicht durchsetzten. 225 Im<br />
Zuge dieser Entwicklung wurden jedenfalls<br />
<strong>in</strong> Sachsen strafrechtlich verurteilte Jugendliche<br />
statt <strong>in</strong> die Justizvollzugsanstalten<br />
<strong>in</strong> Jugendwerkhöfe e<strong>in</strong>gewiesen – <strong>in</strong><br />
Vorwegnahme des erwarteten zukünftigen<br />
re<strong>in</strong>en Jugen<strong>der</strong>ziehungsrechts. 226 Diese<br />
Praxis wurde <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Regionen heftig<br />
kritisiert. 227 Auch gab es <strong>in</strong> West- wie Ostdeutschland<br />
Streitigkeiten darüber, welche<br />
Vorschriften des RJGG <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fassung von<br />
1943 noch anwendbar waren und welche<br />
wegen nationalsozialistischen Inhalten ihre<br />
Geltung verloren hatten. 228 E<strong>in</strong> vom Alliierten<br />
Kontrollrat e<strong>in</strong>gesetzter Ausschuss<br />
konnte für diese Frage ke<strong>in</strong>e Lösung f<strong>in</strong>den. 229<br />
Der Streit bestand fort, bis im Jahr 1952 das<br />
neue Jugendgerichtsgesetz (JGG) <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> <strong>in</strong><br />
Kraft trat. 230<br />
225 Vgl. Entwurf des Landes Sachsen für e<strong>in</strong><br />
neues Jugen<strong>der</strong>ziehungsrecht vom 20.11.1947, BArch<br />
DR 2/375; Thaler 1950, 258.<br />
226 Thaler 1950, 258.<br />
227 Dazu Plath 2005, 49 m. N.<br />
228 Vgl. für den Bereich <strong>der</strong> SBZ OLG Gera,<br />
6.12.1947 – 1 Ss 433/47, NJ 1947, 254 (zu § 20 RJGG<br />
– Anwendung von Erwachsenenstrafrecht); dazu auch<br />
Nathan 1952, 247.<br />
229 Siehe dazu Plath 2005, 11 ff.<br />
230 Jugendgerichtsgesetz v. 23.5.1952, GBl. 1952,<br />
411.<br />
5.1.2.2 Die Jahre 1952 bis 1968<br />
Das JGG 1952 galt bis 1968 und wurde dann<br />
durch das StGB <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, das auch Vorschriften<br />
zum Jugendstrafrecht enthielt, ersetzt.<br />
Es verfolgte zwei Ziele: den Schutz <strong>der</strong><br />
Gesellschaft und die Erziehung <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
(§ 2 JGG 1952). 231 In <strong>der</strong> Zeit zwischen<br />
1952 und 1968 konnten im Zusammenhang<br />
mit e<strong>in</strong>em Strafverfahren die folgenden<br />
Maßnahmen ergriffen werden, die e<strong>in</strong>e<br />
Heim erziehung zum Ziel hatten:<br />
5.1.2.2.1 E<strong>in</strong>weisung durch<br />
strafrichterliches Urteil<br />
Im Jugendstrafrecht <strong>der</strong> 1950er-Jahre sollten<br />
Erziehungsmaßnahmen vorrangig gegenüber<br />
Strafen angeordnet werden. 232 Wohl<br />
aus diesem Grund wurden <strong>in</strong> dieser Zeit weit<br />
mehr Jugendliche auf <strong>der</strong> Grundlage strafrichterlicher<br />
Urteile <strong>in</strong> die Jugendwerkhöfe<br />
e<strong>in</strong>gewiesen als über Verfahren nach §§ 1666,<br />
1838 BGB und § 63 RJWG. 233 Die Rechtsgrundlage<br />
dafür waren §§ 9, 14 JGG-<strong>DDR</strong>. Danach<br />
konnte das Jugendstrafgericht gegen Jugendliche<br />
anstelle e<strong>in</strong>er Strafe auch <strong>Heimerziehung</strong><br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jugendwerkhof anordnen. E<strong>in</strong>e<br />
an<strong>der</strong>e Möglichkeit war die, dem Jugendlichen<br />
die Weisung zu erteilen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim zu<br />
wohnen (§ 11 Abs. 2 JGG-<strong>DDR</strong>). Nach dem<br />
Wortlaut des Gesetzes war <strong>Heimerziehung</strong><br />
auch möglich bei e<strong>in</strong>er bed<strong>in</strong>gten Verurteilung<br />
zu e<strong>in</strong>er Strafe, die mit e<strong>in</strong>er Erziehungsmaßnahme<br />
verbunden werden musste (§ 18<br />
Abs. 2 JGG-<strong>DDR</strong>). Diese Komb<strong>in</strong>ation aus<br />
bed<strong>in</strong>gter Strafe und <strong>Heimerziehung</strong> wurde<br />
aber vom Obersten Gericht im Jahr 1966 für<br />
unzulässig erklärt. Wenn <strong>Heimerziehung</strong> notwendig<br />
sei, sei ausschließlich <strong>Heimerziehung</strong><br />
anzuordnen. 234<br />
(1) Zuständigkeit und Verfahren<br />
Zuständig für Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
nach §§ 9, 14 JGG-<strong>DDR</strong> waren die Jugendgerichte.<br />
Das Verfahren fand <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel unter<br />
Ausschluss <strong>der</strong> Öffentlichkeit statt, allerd<strong>in</strong>gs<br />
konnten die Gerichte die Teilnahme<br />
<strong>der</strong> Öffentlichkeit ausdrücklich anordnen (41<br />
Abs. 1 JGG-<strong>DDR</strong>). Die öffentliche Verhandlung<br />
wurde empfohlen, wenn es darum g<strong>in</strong>g,<br />
e<strong>in</strong> Exempel zu statuieren. Beispielsweise<br />
konnten die Arbeitskollegen o<strong>der</strong> Mitschüler<br />
des Angeklagten zur Verhandlung zugelassen<br />
werden, um ihnen e<strong>in</strong> abschreckendes<br />
Beispiel zu geben. 235 Die Eltern des Jugendlichen<br />
waren grundsätzlich verpflichtet, zur<br />
Verhandlung zu ersche<strong>in</strong>en (§ 38 Abs. 1),<br />
konnten aber vom Verfahren ausgeschlossen<br />
werden, „soweit gegen ihre Anwesenheit Bedenken<br />
bestehen“ (§ 43 Abs. 2). Der Jugendliche<br />
musste den Raum verlassen, wenn die<br />
Erörterungen vor Gericht ihm „Nachteile für<br />
die Erziehung“ br<strong>in</strong>gen konnten (§ 43 Abs. 1).<br />
Die Unbestimmtheit dieser Ermächtigungen<br />
muss unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten<br />
als bedenklich angesehen werden. Die<br />
Beteiligung <strong>der</strong> Angeklagten selbst und ihrer<br />
Eltern am Verfahren konnte von den Gerichten<br />
weitgehend nach Belieben zugelassen<br />
o<strong>der</strong> unterbunden werden. Die Öffentlichkeit<br />
<strong>der</strong> Verhandlung war von pädagogischen<br />
o<strong>der</strong> politischen Erwägungen abhängig; <strong>der</strong><br />
Schutz o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Interessen des Angeklagten<br />
selbst sche<strong>in</strong>en dabei ke<strong>in</strong>e nennenswerte<br />
Rolle gespielt zu haben.<br />
Die Jugendlichen erhielten nur unter engen<br />
Voraussetzungen e<strong>in</strong>en Verteidiger, immer<br />
aber e<strong>in</strong>en sogenannten „Beistand“ (§ 42<br />
JGG-<strong>DDR</strong>). Als Beistände wurden „Bürger aus<br />
dem Lebenskreis des Jugendlichen“ herangezogen,<br />
die nicht notwendig e<strong>in</strong>e juristische<br />
Ausbildung hatten. 236 Sie hatten alle Rechte<br />
231 § 2 Abs. 2 JGG 1952: „Die Maßnahmen des<br />
Jugendgerichtsgesetzes haben den Schutz <strong>der</strong> antifaschistisch-demokratischen<br />
siehe auch BG Halle, 14.5.1965 – 3 BSB 69/65, NJ<br />
Ordnung und Gesellschaft 1965, 490 mit krit. Anm. Weiss ebd., 255 f.<br />
sowie die Erziehung <strong>der</strong> Jugendlichen zu tüchtigen 235 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung 1953, 86.<br />
und verantwortungsbewußten Bürgern des demokratischen<br />
236 Vgl. „Geme<strong>in</strong>same Anweisung über die<br />
Staates zum Ziel.“<br />
Zusammenarbeit <strong>der</strong> Staatsanwaltschaft, <strong>der</strong> Organe<br />
232 Deutsches Institut für Rechtswissenschaft des Innern und <strong>der</strong> Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe im Ermittlungsverfahren<br />
1957, 678.<br />
gegen jugendliche Rechtsverletzer<br />
233 Vgl. Zimmermann 2004, 262; Sachse 2010, und bei <strong>der</strong> Durchsetzung weiterer Maßnahmen zur<br />
126, 130.<br />
234 OG, 17.2.1966 – 2 Zst 2/66, NJ 1966, 183;<br />
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