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Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung

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Rechtsfragen <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

Heimsystem <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> e<strong>in</strong>e „Son<strong>der</strong>stellung<br />

als außerordentliches Diszipl<strong>in</strong>ierungsmittel“<br />

hatte. 452<br />

Schon für die Jugendwerkhöfe aber wird<br />

e<strong>in</strong>e solche E<strong>in</strong>ordnung als pädagogikfremdes<br />

Diszipl<strong>in</strong>ierungsmittel verne<strong>in</strong>t. Beson<strong>der</strong>s<br />

deutlich wird das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Aufsatz von<br />

Wermelskirchen aus dem Jahr 2008, <strong>in</strong> dem<br />

er schreibt, wieso se<strong>in</strong>er Ansicht nach die<br />

E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Jugendwerkhof (mit<br />

Ausnahme Torgaus) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel ke<strong>in</strong>en sachfremden<br />

Zwecken gedient habe: 453<br />

„In <strong>der</strong> Regel waren die Herkunftsfamilien<br />

mit <strong>der</strong> Erziehung <strong>der</strong> Betroffenen überfor<strong>der</strong>t.<br />

In Anbetracht dessen diente die zumeist<br />

im E<strong>in</strong>vernehmen mit den Erziehungsberechtigten<br />

getroffene Anordnung dazu, e<strong>in</strong>e<br />

bereits e<strong>in</strong>gesetzte Fehlentwicklung o<strong>der</strong><br />

schädliche Neigung zu korrigieren, e<strong>in</strong>e<br />

schulische und berufliche Ausbildung zu<br />

gewährleisten und e<strong>in</strong> Abgleiten <strong>der</strong> noch<br />

prägbaren Betroffenen <strong>in</strong> dissozial-krim<strong>in</strong>elle<br />

Kreise zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, ohne politisch<br />

motiviert gewesen zu se<strong>in</strong>.“<br />

Diese Bemerkungen zeugen von weitreichen<strong>der</strong><br />

Unkenntnis <strong>der</strong> tatsächlichen Zustände<br />

<strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen. Sie geben zudem<br />

unkritisch wie<strong>der</strong>, was <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fachliteratur<br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> als Zweck <strong>der</strong> Erziehung im Jugendwerkhof<br />

dargestellt wurde. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>ordnung<br />

<strong>in</strong> den historischen Kontext fehlt völlig.<br />

Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtsprechung f<strong>in</strong>den sich<br />

lei<strong>der</strong> vergleichbare Beispiele. Die verbreiteten<br />

Anordnungsgründe <strong>der</strong> „Schulbummelei“,<br />

des Entfernens aus dem Elternhaus, des<br />

Wegbleibens über Nacht und <strong>der</strong> „Verhaltensauffälligkeiten“<br />

werden beispielsweise<br />

unkritisch als sachgerecht, weil erzieherisch<br />

motiviert, e<strong>in</strong>geordnet. 454 Diese pauschalen<br />

452 KG Berl<strong>in</strong>, 6.3.2007 – 2/5 Ws 246/06 Reha,<br />

NJ 2007, 424 f.<br />

453 Wermelskirchen 2008, 346.<br />

454 OLG Jena, 17.9.2010 – I Ws Reha 50/10.<br />

Siehe auch die allzu pauschale Bemerkung <strong>in</strong> OLG<br />

Naumburg, 5.12.1995 – 1 Ws Reh 185/95, NJ 1996,<br />

157: „Erziehungsprobleme hat sie grundsätzlich<br />

e<strong>in</strong>geräumt.“<br />

Bewertungen werden den vorhandenen<br />

Erkenntnissen über die <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> nicht gerecht, son<strong>der</strong>n offenbaren<br />

e<strong>in</strong> deutliches Maß an Geschichtsbl<strong>in</strong>dheit.<br />

Begriffe wie „Fehlentwicklung“, „Verhaltensauffälligkeit“,<br />

„Diszipl<strong>in</strong>schwierigkeiten“, bei<br />

Mädchen auch die „sexuellen Auffälligkeiten“<br />

und das „Herumtreiben“ müssen <strong>in</strong> den Kontext<br />

des <strong>DDR</strong>-Sprachgebrauchs gesetzt und<br />

als potenzielle Indizien für die letzten Endes<br />

politisch motivierte Verfolgung abweichenden<br />

Verhaltens erkannt werden. Das bedeutet<br />

nicht, dass die <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />

immer sachfremden Zwecken diente. Es s<strong>in</strong>d<br />

Fälle denkbar, <strong>in</strong> denen es <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> ke<strong>in</strong>e<br />

Alternative zur Heimunterbr<strong>in</strong>gung gab<br />

o<strong>der</strong> diese jedenfalls als unter den damals<br />

gegebenen Umständen gerechtfertigt angesehen<br />

werden muss. Der erste Fall betrifft<br />

beispielsweise Waisenk<strong>in</strong><strong>der</strong>, die nirgendwo<br />

an<strong>der</strong>s als im Heim untergebracht werden<br />

konnten. Auch bei nicht politisch motivierter<br />

Del<strong>in</strong>quenz, auf die nicht strafrechtlich,<br />

son<strong>der</strong>n mit erzieherischen Maßnahmen<br />

reagiert wurde, hatte die <strong>Heimerziehung</strong><br />

unter Umständen ke<strong>in</strong>e sachfremden Motive.<br />

Diese Fallkonstellation entspricht <strong>in</strong> etwa<br />

den Fällen unpolitischer Krim<strong>in</strong>alität, die<br />

auch bei Erwachsenen nicht über das StrRehaG<br />

rehabilitiert werden können.<br />

Gerade bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen,<br />

die von den Organen <strong>der</strong> Jugendhilfe als<br />

„schwererziehbar“ e<strong>in</strong>geordnet wurden, besteht<br />

nach den Erkenntnissen dieses Gutachtens<br />

e<strong>in</strong>e starke Vermutung zugunsten<br />

sachfrem<strong>der</strong> Zwecke. Hier ist die Rechtsprechung<br />

aufgefor<strong>der</strong>t, die Begrifflichkeiten aus<br />

den Akten nicht unh<strong>in</strong>terfragt zu übernehmen.<br />

Es muss im E<strong>in</strong>zelfall sorgfältig<br />

geprüft werden, ob sich h<strong>in</strong>ter verme<strong>in</strong>tlich<br />

erzieherischen Gründen für die Anordnung<br />

<strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> an<strong>der</strong>e Motive verbergen.<br />

H<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> „Schulbummelei“ kann e<strong>in</strong><br />

Protest gegen die ideologische Vere<strong>in</strong>nahmung<br />

durch das Bildungssystem stecken,<br />

h<strong>in</strong>ter dem „Rowdytum“ <strong>der</strong> Versuch, sich<br />

<strong>der</strong> übermächtigen Freizeitgestaltung durch<br />

die FDJ zu entziehen. 455 Dies alles s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e<br />

455 Vgl. Wierl<strong>in</strong>g 1994, 414 f.<br />

„Erziehungsprobleme“, son<strong>der</strong>n Ausdruck<br />

e<strong>in</strong>er aus heutiger Sicht <strong>in</strong> vielen Fällen<br />

durchaus berechtigten Weigerung, sich <strong>in</strong> den<br />

engen, staatlich vorgegebenen Bahnen zu<br />

bewegen. Geprüft werden muss im E<strong>in</strong>zelfall<br />

auch, ob dokumentierte „Erziehungsschwierigkeiten“<br />

nicht erst im Laufe <strong>der</strong> Heimkarriere<br />

durch die staatliche Behandlung selbst<br />

hervorgerufen wurden. Die Vorgeschichte <strong>der</strong><br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen muss daher <strong>in</strong> die<br />

Bewertung ebenso e<strong>in</strong>fließen wie die Überlegung,<br />

wogegen sich ihr Verhalten gerichtet<br />

hat und wie es von den Behörden e<strong>in</strong>geordnet<br />

wurde.<br />

„Unangebrachtes Vertrauen <strong>in</strong> die Gerechtigkeit<br />

<strong>der</strong> zu prüfenden Entscheidungen“ 456<br />

ist bei <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> weitverbreitet,<br />

aber nicht gerechtfertigt. Vielmehr müssen<br />

<strong>der</strong> historische Kontext und die zweifelhafte<br />

Glaubwürdigkeit <strong>der</strong> Heimakten <strong>in</strong> die Betrachtung<br />

e<strong>in</strong>bezogen werden. H<strong>in</strong>gewiesen<br />

sei auch darauf, dass im Rehabilitationsverfahren<br />

<strong>der</strong> Amtsermittlungsgrundsatz gilt<br />

(§ 10 Abs. 1 StrRehaG). Die Gerichte haben<br />

den Sachverhalt folglich mit allen ihnen zur<br />

Verfügung stehenden Mitteln aufzuklären.<br />

Wo den Betroffenen ke<strong>in</strong> Beweis (mehr) zur<br />

Verfügung steht, muss die Glaubhaftmachung<br />

<strong>der</strong> relevanten Umstände genügen. 457<br />

456 So das Urteil von Schwarze (Potsdamer Kommentar<br />

1997, § 1 StrRehaG Rn. 7) bezogen auf strafrechtliche<br />

Entscheidungen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Gerichte. Siehe<br />

auch ebd., Rn. 8: „Dem Rehabilitationsrichter bleibt<br />

es bei zahlreichen Strafvorschriften […] nicht erspart,<br />

sich Kenntnis von <strong>der</strong>en historischem und politischem<br />

Kontext und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e davon zu verschaffen, ob<br />

sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> gerichtlichen Praxis <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> zu Zwecken<br />

<strong>der</strong> politischen Verfolgung <strong>in</strong>strumentalisiert wurden.“<br />

Ähnlich Schrö<strong>der</strong>, <strong>in</strong>: Bruns, Schrö<strong>der</strong> und Tappert<br />

1993, § 2 StrRehaG [a.F.] Rn. 19, bezogen auf den<br />

E<strong>in</strong>weisungsgrund <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e psychiatrische Anstalt <strong>der</strong><br />

„ernsten Gefahr für das Zusammenleben <strong>der</strong> Bürger“.<br />

457 Siehe dazu auch Mützel 2011a, 109.<br />

6.1.2.3 Grobes Missverhältnis: Zur<br />

Relevanz <strong>der</strong> Unterbr<strong>in</strong>gungsbed<strong>in</strong>gungen<br />

für die Rehabilitationsentscheidung<br />

Nach <strong>der</strong> Systematik <strong>der</strong> Rehabilitationsgesetze<br />

können nur rechtsstaatswidrige<br />

staatliche Entscheidungen aufgehoben und<br />

rehabilitiert werden (vgl. auch Art. 17 EV).<br />

Das bedeutet, dass grundsätzlich nur die<br />

Anordnungsgründe für die <strong>Heimerziehung</strong><br />

ausschlaggebend für die Rehabilitationsentscheidung<br />

se<strong>in</strong> können, nicht aber die<br />

Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> Unterbr<strong>in</strong>gung im Heim.<br />

Dies gilt auch für die Rehabilitierung bei<br />

Erwachsenen: Wer beispielsweise wegen<br />

Bankraubes <strong>in</strong> Gefängnissen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> gesessen<br />

hat, kann grundsätzlich nicht rehabilitiert<br />

werden, auch wenn er unter schweren<br />

Haftbed<strong>in</strong>gungen gelitten hat. Dieser Grundsatz<br />

wird allerd<strong>in</strong>gs dadurch relativiert, dass<br />

auch e<strong>in</strong> grobes Missverhältnis zwischen<br />

Tat bzw. Anlass <strong>der</strong> Unterbr<strong>in</strong>gung und <strong>der</strong><br />

Rechtsfolge nach § 1 StrRehaG rehabilitierungsfähig<br />

ist. Dieses Merkmal kann auch<br />

auf die Heim erziehung nach § 2 StrRehaG<br />

angewendet werden. 458 E<strong>in</strong> solches Missverhältnis<br />

wird nach <strong>der</strong> Gesetzesbegründung<br />

zum StrRehaG nur angenommen, „wenn sich<br />

im Verhältnis von Anlass und Reaktion die Degradierung<br />

des E<strong>in</strong>zelnen zum Objekt staatlicher<br />

Interessendurchsetzung deutlich manifestiert 459 “,<br />

wenn es also menschenwür<strong>der</strong>elevant ist. Ob<br />

zwischen dem Anlass für die <strong>Heimerziehung</strong><br />

und <strong>der</strong> Folge e<strong>in</strong> grobes Missverhältnis <strong>in</strong><br />

diesem S<strong>in</strong>ne besteht, kann aber nur sachgerecht<br />

beurteilt werden, wenn man die<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> den Heimen e<strong>in</strong>bezieht.<br />

Die Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> aus<br />

nichtigem Anlass (z. B. Schuleschwänzen)<br />

ersche<strong>in</strong>t umso unverhältnismäßiger, je katastrophaler<br />

die Zustände <strong>in</strong> dem Heim waren,<br />

<strong>in</strong> das <strong>der</strong> Betroffene e<strong>in</strong>gewiesen wurde.<br />

In neueren Entscheidungen zu § 2 StrRehaG<br />

wird diese Frage auch geprüft, jedoch<br />

häufig mit zwei Argumenten abgelehnt: (1)<br />

Die Zustände <strong>in</strong> den <strong>DDR</strong>-Heimen seien mit<br />

458 BVerfG, 13.5.2009 – 2 BvR 718/08, DVBl<br />

2009, 909; OLG Rostock, 27.1.2010 – I Ws RH 33/10.<br />

459 OLG Jena, 17.9.2010 – I Ws Reha 50/10.<br />

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